Читать книгу Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich - Страница 9
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ОглавлениеDie Tage, die auf den Weinabend des Kleeblatts folgten, waren von Arbeit geschwängert. In der Feuerprobe der kollegialen, sachlich rücksichtslosen Besprechungen schmiedete Wichmann seine Argumente, und er sah das Häufchen Blätter anwachsen, auf dem die endgültigen Formulierungen zu dem von ihm übernommenen Teilgebiet der Arbeit verzeichnet waren. Ein Wonnegefühl des erfolgreich Schaffenden gab seiner Stimmung Flügel. Die Zusammenarbeit mit Korts und Casparius verlief äußerlich reibungslos. Den »Regierungsrat« schien »Robert der Teufel« ausgezogen zu haben, wie man eine Jacke ablegt. Dieser etwas untersetzt geratene Stier war immer höflich und immer geduldig, auch wenn er die Meinung mit Assessor Wichmann kreuzte und seine gestellten Ohren die innere Erregung verrieten.
»Sie nehmen das zu gründlich, Herr Wichmann …«
»Die Sache erfordert es …«
»Das können Sie vorläufig dahingestellt sein lassen …«
»Ich finde mich mit keiner Unklarheit ab …«
»Wir müssen bald abschließen …«
»… nicht auf Kosten der Zuverlässigkeit …«
In allen Tonarten von Moll und Dur wiederholte sich dieser Grundkonflikt zwischen den beiden jungen Männern. Wichmann dachte mit Leidenschaft an die Sache, Korts aber überwiegend an die Situation persönlicher Interessen, in die sie hineingestellt war.
Nach vierzehn Tagen war bei Ministerialrat Grevenhagen eine Besprechung in größerem Kreise, auch unter Beiziehung einiger Herren aus dem Staatsministerium, vorgesehen. Korts, Wichmann und Casparius hatten ihre vorläufigen Ausarbeitungen abgegeben, und Anneli Schmock sowie Silvia Sauberzweig hatten aufgeatmet und Zeit gefunden, die Schublade mit dem Kriminalroman wieder um einen Spalt zu öffnen.
Wichmann war entschlossen gewesen, sich am Vortag der Besprechung ein paar Mußestunden zu genehmigen. Da stürzte ihn der durchschneidende Gedanke, der ihm auf seinem Dienstweg beim Anblick eines glatten Teichspiegels kam, in Verzweiflung.
Seine ganze Arbeit war Stümperei, nichts als eine Sammlung von Allerweltsweisheiten und nicht durchsichtigem Material. Selbstverständlich, selbstverständlich, es war selbstverständlich zweckmäßig, nicht die Bezirke eines jeden Ressorts räumlich anders abzugrenzen und ein Gewirr der Grenzen von Finanzamtsbezirken, Arbeitsamtsbezirken, Gerichtsbezirken, politischen Kreisen, Reichsbahndirektionen ineinander und durcheinander bestehen zu lassen.
Wem waren diese Erkenntnisse etwa neu? Was kam damit voran? Gar nichts.
Wesentlich wäre gewesen, das Allgemeine und Durchschnittliche herauszufinden, irgendeinen Maßstab, nach dem man bestmögliche Einteilungen, zunächst einmal sozialer und wirtschaftlicher Art, einfach und vergleichbar bemessen konnte.
Maßstab … woher nehmen? Die Statistiker hatten ihn im Stich gelassen.
Dennoch mußte ein Maßstab her … heute? Morgen war die Sitzung. Und er hatte Grevenhagen eine unzulängliche Arbeit abgegeben.
Die Nacht nach diesem Tage fand Wichmann an dem großen Renaissanceschreibtisch des verstorbenen Geheimrats. Der Tee-Extrakt, war gebraut, der Samowar summte. Eine Nacht war lang.
Morgens um sechs Uhr sank der Arbeitende angekleidet auf das nicht benutzte Bett. Er hatte den Maßstab nicht, aber den Weg, auf dem man ihn suchen mußte. Eine Darstellung von zwei Seiten, handschriftlich festgehalten, war das Ergebnis der durchwachten Nacht.
Um acht verließ der Assessor das Haus und begab sich zum Dienst. Seine leichten Kopfschmerzen störten ihn nicht. Er nahm nur den Hut ab und ließ sich die Morgenkälte um die gespannten Nerven wehen. Der Wind pfiff aus Westen und trieb faule Wolken zur Eile; die ihm nicht schnell genug folgten, wurden in Fetzen gerissen. Ein mattes, gebrochenes Sonnenlicht leuchtete zu diesem Spiel. Gefallene Blätter versuchten sich noch einmal zu erheben und sanken raschelnd wieder zu Boden. In der Residenzstraße lief Anneli Schmock ihrem Hut nach, der auf der Kante davonrollte; ihre künstlich gewellten Haare flatterten wirr im anwachsenden Sturm. Die Luft kam von rollenden Wogen der Meere und roch nach Schaumkronen und Tang, aber der Assessor dachte an die Bezirkseinteilung. Ohne selbst gewußt zu haben, wie er seine Schritte lenkte, stand er in dem Augenblick, in dem er aus seinen Arbeitsträumen erwachte, vor dem Haupteingang des Ministeriums am Königsplatz.
Hinter ihm hielt leise ein Wagen; eine Autotür klappte, und ehe Wichmann die Schritte des Aussteigenden recht vernommen hatte, hörte er eine Stimme.
»Herr Dr. Wichmann … guten Morgen … Kommen Sie gleich mit mir hinauf?«
»Jawohl, Herr Ministerialrat.«
Der Pförtner mit den weißen Schläfen im blauen Rock grüßte mit betonter Achtung.
Grevenhagen dankte. Der Ministerialrat hatte eine besondere Art, den Gruß Untergebener zu erwidern, in der sich Höflichkeit mit einem Abstand-Halten verband. Er grüßte … wie?
Wie ein Offizier.
Zum erstenmal ging Wichmann an der Seite seines Vorgesetzten die Prunktreppe hinauf.
Der Assessor legte bei Fräulein du Prel ab und folgte Grevenhagen in dessen großes Arbeitszimmer. Das Heulen des Windes, der sich nach dem Überbrausen des weiten Platzes an Häuserfronten stieß, war durch die Fenster zu hören.
»Nehmen Sie Platz. Ich wollte rasch noch ein Ergebnis unserer Arbeit mit Ihnen durchsprechen. Fräulein du Prel wird das Blatt gleich bringen.«
Wichmann zog die beiden mit Handschrift bedeckten Seiten aus der schweinsledernen Mappe, die über seinen Knien lag.
»Ah, Sie haben auch noch etwas?«
Grevenhagen vertiefte sich in die Ausarbeitung und fing an zu nicken. Er sah heute frisch aus.
»Gut, Herr Wichmann! Das ist der springende Punkt. Sie sind also von selbst noch darauf gekommen.«
Die Sekretärin trat ein und brachte eine Mappe, der Grevenhagen wenige Seiten eines Durchschlags entnahm, um sie seinem ›Hilfsarbeiter‹ im Referat zu überreichen.
»Lesen Sie, bitte.«
Der erste Blick genügte, um zu wissen, daß es sich um einen Auszug aus der Arbeit des Trios handelte, der die Hauptergebnisse übersichtlich machte. Die Anordnung war so getroffen, der Ausdruck in einer Weise gewählt, daß der Gedanke, den sich Wichmann in der vergangenen Nacht erkämpft hatte, jedem in die Augen sprang. Der Assessor schwankte in Enttäuschung und Bewunderung.
»Ich wollte Ihnen das zeigen. In dieser Richtung werden Sie weiterarbeiten müssen. Es freut mich, daß Sie die Erkenntnis auch gefunden haben.«
Wichmann grollte mit sich selbst, daß er sie nicht früher gefunden hatte.
»Sie können den Durchschlag mitnehmen. Um zehn Uhr sind Sie dann hier, bitte.«
Grevenhagen schlug die Mappe mit dem schweren Deckel auf und begann, seine Unterschriften zu leisten.
Wichmann zog sich zurück.
In seinem Zimmer fand er Lotte Hüsch vor. Sie saß auf seinem Schreibtisch und hatte die zierlichen Füße auf die Lehne des Stuhls gestellt; die Hände waren um die seidenstrumpfglänzenden Knie geschlungen. Ihr Lachen lud ein.
»Hi-hä. Wo waren Sie denn so lange? Ich hab’ Sie doch vorhin kommen sehen?«
»Mich kommen sehen? Was hat Ihnen denn den Schlaf geraubt, gnädiges Fräulein?«
Wichmann legte die Aktentasche auf den Aktenbock und blieb mit dem Rücken gegen die Tür stehen. »Heut war doch Kontrolle! Das wissen Sie nicht? Baier hat mir’s gestern verraten, ist doch ein anständiger Kerl. Natürlich so eine Idee von dem Pöschko! Wahrscheinlich … na, der wird sich ärgern … Ich denke, Sie kommen auch deshalb so früh?«
»Vielleicht gab’s auch noch andere Gründe, gnädiges Fräulein. Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?«
»Danke.« Die Hände lösten sich von den Knien.
»Und vielleicht einen etwas bequemeren Sitz?«
»Danke, ich sitze ganz gut. Oder wollen Sie wirklich arbeiten? Sie sind ja seit vierzehn Tagen reineweg verrückt, Korts und Casparius und Sie. Übrigens Ihre hundert Mark …«
»Bitte, wenn Sie sie noch brauchen?«
»Nee, nee, jetzt nicht mehr, ein andres Mal wieder. Da ham Sie sie … nehmen Sie nur.«
Die Krokodilledertasche, die neben der Dame auf der Schreibtischplatte lag, gab einen Schein her.
Fräulein Hüsch betrachtete den Assessor sichtlich amüsiert.
»Warum stehen Sie denn so an der Tür?«
»In Bewunderung versunken!«
»Nehmen Sie nur Platz. Um die Zeit kommt niemand. Der Bote ist schon durch.«
Wichmann setzte sich in eine entfernte Ecke und betrachtete seinen Schreibtisch mit dem ungewohnten Aufsatz. Die zierlichen Finger, an denen der Brillantring funkelte, hielten die Zigarette sehr graziös; der Dunst stieg in die Aktenluft. Unaufhörlich spielten die Augen.
»Rauchen Sie nicht?«
Der Assessor steckte eine Zigarette an.
»Halten Sie’s noch aus in Ihrem Geheimratsviertel? Ich bin vor ein paar Tagen umgezogen. Furchtbar teuer, aber schönes Zimmer, ganz modern. Sie müssen mich mal besuchen! Zum Abendessen mit Korts und Nathan und Borowski. Nathan ist widerlich, aber er soll herauskriegen, ob ich auf der Beförderungsliste stehe. Loeb ist ein Mann, aber er kommt leider nicht. Welche Marke trinken Sie denn gern?«
»Ich bin nicht anspruchsvoll.«
»Na, hören Sie! Sie sollen in unseren Weinrestaurants besser bekannt sein als die Eingeborenen. Mit Ihnen kennt man sich nicht aus. Hi – hä – Wie finden Sie die Frauen hier?«
»Keine Zeit, keine Zeit, um mir wirklich ein Urteil zu bilden.«
»Na, Sie sind wenigstens nicht so wie der Nischan, dem die Schmock gut genug ist zum Poussieren. Sie ham noch Ehrgeiz. Wissen Sie schon von dem Ball?«
»Nichts … was für ein Ball?«
»Eine ausgesprochene Schnapsidee! Das Ministerium veranstaltet einen Ball im ›Hotel de l’Europe‹! Also stellen Sie sich das vor, die Banausen, der Pöschko und der Baier, diese schlecht angezogenen Philister, und die kleinen Mädchen dazu vom Stil der Sauberzweig. Es ist ja blöd. Gehn Sie da hin?«
»Ich werde mich nach den andern richten.«
»Na ja, das ist noch das Beste, was man tun kann. Glauben Sie, daß Grevenhagen zu so was kommt? Mit dem möcht’ ich mal tanzen … einen Tango … Ich hab’ ein neues Ballkleid … Spitze mit Unterkleid … vielleicht bring ich’s mal her … Sie ham sicher Geschmack …«
»Danke für Ihr Zutrauen. Aber vergessen Sie Herrn Korts nicht. Er interessiert sich garantiert für Spitze und Unterkleid.«
»Interessiert sich für das Kleid? Der versteht gar nichts. Für mich? Glaub’n Sie?«
»Ich weiß, ich weiß. Er ist ein Othello.«
»Hi – hä … hi … hä … Hat er was gesagt? Ist er eifersüchtig?«
»Sie werden ihm doch keinen Grund geben?«
»Was heißt Grund geben? Wir sind nicht verlobt. Aber das macht mir ja Spaß, was Sie da sagen! Dabei benimmt er sich wie … wie … Hat mich wieder furchtbar geärgert. Korts … nee … das macht mir ja Spaß.«
Fräulein Hüsch stellte die Knie noch etwas kühner. »Sind Sie auch eifersüchtig?«
»Nicht dazu veranlagt, Gnädigste.«
»Sie machen bloß andre eifersüchtig, ja? Sag’n Sie, kommen Sie auf den Ball?«
»Wenn Sie hingehen …?«
»Hi – vielleicht komme ich. Man muß sich den Jahrmarkt doch mal anschaun. Sie ham übrigens eine phantastische Krawatte … so diskret …«
Fräulein Hüsch rutschte vom Schreibtisch ab und kam näher, um die Krawatte zu besichtigen und ein wenig zurechtzurücken.
»Wo ham Sie die her?«
»Von Schneider und Luck.«
»Von … Ach, das ist nicht von hier. Schade! Ham Sie sich die selber ausgesucht?«
»Nein, Gnädigste. Ein Geschenk meiner jüngeren Schwester. Mein Hemd, um es gleich zu gestehen, habe ich mir jedoch selbst gekauft, bei Fritz Friedrich, im ›Haus des Herrn‹!«
»Hi-hä … Sie wissen sich anzuziehen. Gehn Sie hier mit Ihrer Freundin einkaufen?«
Wichmann rauchte und schwitzte. Was war zu tun mit einem solchen Weibe? Sie hätte einen frechen Kuß verdient. Aber das war ja nur das, was sie wollte … und dann im Dienstzimmer? Wenn zufällig jemand die Tür öffnete, war er der Unverschämte gewesen. Nein, meine Liebe, so haben wir nicht gewettet. Grevenhagen … nicht auszudenken.
»Sind Sie immer so kalt?«
»Steinklumpen, Gnädigste, Steinklumpen. Nichts als Büroseele.«
»Das sag’n Sie so reizend. Sie sind doch kein Spießer?«
»Reiner Typ, Gnädigste …«
Als es fünf Minuten vor zehn war, sah Wichmann sich erlöst.
»Ach, zur Sitzung … Na, viel Vergnügen! Auf Wiedersehen! Und horchen Sie mal, ob der Korts wirklich eifersüchtig ist! Dann mach’ ich den ja verrückt.«
Als Wichmann mit Lotte Hüsch zusammen das Zimmer verließ, traf er auf dem schlecht beleuchteten Gang den eben Genannten und Casparius, die ihn zur Sitzung abholen wollten. Fräulein Hüsch lachte kokett, und Korts machte eine Verbeugung von ironischer Grandezza; bei der Untersetztheit und Steife seines Körpers wirkte die Bewegung aber wirklich komisch.
»Also dann … bis nachher!«
Die Bibliothekarin mit den vielfältigen Sprachkenntnissen und dem Onkel, der Reichstagsabgeordneter war, entschwand den Blicken.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schienen der graue Läufer und der lange Korridor ihre amtliche Würde wiederzugewinnen. Wichmann erinnerte sich seines Versäumnisses. Er hatte die beiden Mitarbeiter nicht von den Ergebnissen seines nächtlichen Nachdenkens unterrichtet, wie er kollegialerweise hätte tun müssen.
Zu dumm! Wichmann hatte ein schlechtes Gewissen. Hätte er das Frauenzimmer einfach ’rausgeworfen! Sollte er sich nun bei Korts damit entschuldigen, daß die Hüsch über eine Stunde mit hochgestellten Knien auf seinem Schreibtisch gesessen habe?
Die gepolsterte Zwischentür war offen, und Grevenhagen empfing stehend die Näherkommenden. Neben Ledersofa und Klubsessel waren noch sechs Stühle im Oval geordnet und ließen auf die Zahl der Sitzungsteilnehmer schließen, die erwartet wurden.
Wichmann wurde einem noch nicht bekannten Herrn vorgestellt; wie er vermutet hatte, war es Nischan. Der Assessor empfand gegen diesen Namen, der wie eine schlechte Aussprache seines eigenen wirkte, eine Abneigung. Es war etwas Schneckenschleimiges, sich Windendes daran, besonders, wenn man das »sch« weich klingen ließ. Aber der Mann, der den Namen tragen mußte, schien sich wohl damit zu fühlen. Seine naturgelockten Haare wellten sich frisch gewaschen in die Höhe, seine farblosen schmalen Lippen lächelten ohne Aufhören, während er neben Grevenhagen Belanglos-Witzelndes dahinzuschwatzenversuchte. Man stand endlich schweigsam herum, Akten unter dem Arm, in der halb losen, halb gespannten Haltung der kurzfristigen Erwartung. Es war eine Minute nach zehn Uhr.
»Kommt Boschhofer?«
»Der Ministerialdirektor ist unterrichtet, Herr Nischan, er weiß noch nicht, ob er die Zeit erübrigen kann.«
»Aha …«
Im Vorzimmer rührte es sich. Ein hoch gewachsener Herr mit militärischem Stimmfall und seine beiden jüngeren Begleiter, mit auffälligen Schmissen, legten dort ab und kamen dann auf Grevenhagen zu, sehr aufrecht, sehr sicher, mit einem Schritt und einem Blick, der Wichmann an hohe militärische Kommandostellen erinnerte. Die Herren begrüßten Grevenhagen mit beherrschtem Lachen als alte Bekannte. Sehr nebenbei wurden Nischan und die jungen Assessoren mit den Herren des Staatsministeriums bekannt gemacht. Korts wurde rot.
»Erwarten Sie noch jemand, Grevenhagen? Oder können wir schon anfangen? Bei Ihnen sind ja alle Besprechungen kurz und bündig, weißer Rabe in heutiger Zeit.«
»Wir können wohl anfangen …«
Herr von Linck ließ sich in den Klubsessel fallen, er zog die bügelgefalteten Hosenbeine eine Kleinigkeit höher, um die Knie nicht durchzudrücken, und studierte den Auszug, den Wichmann schon kannte.
»Das ist ja schon wesentlich mehr, als wir für diese Vorbesprechung erwarten konnten.«
»Boschhofer hatte mich dahin unterrichtet, daß das Staatsministerium für heute die Vorlage der abgeschlossenen Reform verlangt.«
Linck wandte ruckartig den Kopf und sah den Sprecher aus großen Augen an.
»Na, sagen Sie mal … Tatsache? Ein ganz grobes Mißverständnis! Ich habe unsern Chef gleich darauf aufmerksam gemacht, daß er sich lieber unmittelbar an Sie wenden möchte, wenn ihm an einer glatten Zusammenarbeit gelegen ist. Abgeschlossene Reform? Man soll es nicht für möglich halten! Lassen wir diese Torheiten. Ich werde hier in Ihren Ausführungen weiterlesen … Da ist ja eigentlich alles zusammengefaßt, was sich jetzt zu der Sache sagen läßt.«
Der Kommandoblick ging in die Runde. Wichmann beobachtete, daß Korts und Casparius auch Durchschläge der Verhandlungsunterlagen erhalten hatten. Ein Glück, sie wußten trotz Wichmanns Nachlässigkeit Bescheid. Gleichgültig, daß sie nun glauben mußten, die Kern- und Schlußidee stamme ausschließlich von Grevenhagen.
»Ganz einverstanden«, entschied von Linck. »Haben Sie einen Verbindungsmann, mit dem sich mein Regierungsrat über die Einzelheiten laufend unterhält?«
»Assessor Dr. Wichmann …«
Der Genannte wurde verlegen. Er wußte, daß Korts sich jetzt ärgerte, obwohl die Entscheidung in der sachlichen Arbeitsteilung begründet war.
»Sehr angenehm«, sagte von Linck.
Grevenhagen bot eine Kiste Zigarren einer Bremer Firma an. Die Herren nahmen sich alle. Die edle Form, das makellose Deckblatt ließen den nicht alltäglichen Genuß vorausahnen. Mit kleinen Lichtpünktchen glühten die Spitzen auf, der erste Aschenkegel bildete sich, und der Duft füllte das Zimmer. Man rauchte in genußreichen Zügen. Von Linck sah nach der Marke.
»Grevenhagen, dafür komme ich öfters zu Ihnen.«
Grevenhagen bewahrte die wachsende Asche. »Herr Korts … Sie notieren bitte kurz das Ergebnis unserer Besprechung unter Beifügung meiner Stellungnahme, von der wir ausgegangen sind. Die Herren vom Staatsministerium erhalten je ein Stück des Protokolls, oder wünschen Sie mehr … Nein, genügt … Ein Stück geht an den Ministerialdirektor …«
Die Tür tat sich auf.
»Ah … meine Herren … freut mich sehr, Sie noch alle beieinander zu finden! Bitte sich gar nicht stören zu lassen. Aber nein, Herr Kollege, ich bin mit einem bescheidenen Platz zufrieden, lassen Sie mich nur unter der Jugend!«
Boschhofers Masse quoll auf einen Stuhl. »Danke. Ah – Sie haben wieder etwas Exquisites aus Bremen – aber machen Sie nur weiter …«
»Wir waren eben zu dem Beschluß gekommen, Herr Ministerialdirektor, zunächst an einem praktischen Fall, unter Mitarbeit des Landrats, das Schulbeispiel einer Reform zu versuchen, sozusagen einen Musterbetrieb vorzuführen, das Staatsministerium wird dabei mitwirken; wir bleiben laufend in Verbindung.«
»Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet, Herr Kollege. Die Praxis ist das Wichtigste, das Ausschlaggebende! Wir müssen sofort ein Ergebnis aufweisen können! Ich bin dafür, mit allen interessierten Stellen Fühlung aufzunehmen. Haben Sie das schon getan? Wir müssen Gutachten haben, wir müssen Staub aufwirbeln, es muß von der Sache gesprochen werden! Ich bin dafür, einiges wenige auch in die Presse einfließen zu lassen … Das hier darf keine Bürokratenarbeit hinter den Kulissen werden.«
Die Herren rauchten.
Boschhofer ließ sich von Nischan die drei Blätter mit den Notizen Grevenhagens reichen.
Er schien sie noch nicht zu kennen.
»Aha, da ist schon etwas zusammengestellt. Wer hat denn das gemacht? Ah Sie, Herr Kollege, und auch Herr Wichmann? Oh! Frau Lundheimer hat wohl versäumt, mir das rechtzeitig auszuhändigen … Ja, sehr gut … ich sehe eben, Sie kommen zu dem Ergebnis … Es muß ein einfacher Schlüssel gefunden werden, ein Maßstab … aber das ist ja meine Idee, sagte ich nicht kürzlich zu Ihnen, ganz meine Idee … was ich immer vertreten habe. Sie erinnern sich, Kollege Nischan, nicht wahr?«
Endlich kam das erwartete eifrige Nicken, das sich aus Grevenhagens steifem Nacken durchaus nicht ergeben wollte.
»… das ist es, genau das, worauf wir hinaus müssen. Können Sie mir in einigen Tagen so etwas vorlegen?«
»In einigen Monaten, Herr Ministerialdirektor.«
»Sie machen Scherze. Das kann doch nicht so schwierig sein. Alarmieren Sie die statistischen Büros, verlangen Sie, was Sie brauchen! Wir müssen bis zu den nächsten Etatverhandlungen etwas Derartiges vorweisen! Etwas Neues, eine Tat, eine Reform, Ideen, verstehen Sie? Sie haben zuviel schüchterne Hemmungen, Herr Kollege! Mit einiger Großzügigkeit geht alles! Meinen Sie nicht auch, Herr von Linck?«
»Wir waren schon zum Schluß gekommen, Herr Boschhofer, ehe Sie eintraten. Es wird wohl das zweckmäßigste sein, daß unser Kollege Grevenhagen, wie er beabsichtigte, Ihnen das Protokoll der Besprechung übergeben läßt. Sie werden daraus ersehen, welcher Weg dem Staatsministerium zur Zeit als der gangbarste erscheint.«
Boschhofers Gesicht konnte, so breit und offen es schien, doch viel verbergen. Er blieb ruhig und blies Rauch aus.
»So, meinen Sie, Herr von Linck. Aber so … Wenn Sie schon zu einer gemeinsamen Entschließung gekommen sind, werde ich mich darüber orientieren.« Boschhofer sprach weiter.
Die Zigarrenkiste wurde noch einmal herumgereicht.
Grevenhagen saß in einer Haltung vollendeter sachlicher Aufmerksamkeit, ein wenig vorgebeugt, als lausche er Boschhofers nicht abreißenden Ausführungen. Seine Augen waren ins Unbestimmte gerichtet.
Es wurde langsam Mittag. Kaum eine Äußerung, nicht einmal ein Widerspruch, regte sich mehr zu Boschhofers Meinungen. Das Schweigen wirkte allmählich peinlich, auch der Sprecher schien es endlich zu bemerken.
»Meine Herren, es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufgehalten habe. Ich bin überzeugt, daß die Bearbeitung der Sache bei Herrn Grävenhagen in den allerbesten Händen liegt, und zwar ganz in meinem Sinne.«
Grevenhagens Schultern ließen etwas wie eine dankende Verbeugung ahnen.
Der mächtige Boschhofer erhob sich von dem schmalen Stuhl. Noch einen Augenblick stand er in ganzer Größe vor dem, der ihn verachtete. Er hatte den Stummel der vierten Zigarre in den kupfernen Aschenbecher gelegt, und seine Hand machte eine Bewegung, als ob sie auf dem vorgewölbten Leib nach einer schweren goldenen Berlocke fassen wolle. In Ermangelung dieses Anhaltspunktes sank die Pranke ungeschickt herunter. Der breite Kopf mit der tonsurartigen Glatze grüßte noch einmal im Rund.
Grevenhagen erhob sich und geleitete Boschhofer hinaus. Als er allein zurückkam, stöhnte von Linck auf. »Menschenskind! Gehen wir zusammen eine Flasche Wein trinken? Das war wieder einmal eine Sitzung. Fünfmal länger als nötig …«
»Darf ich Sie zu mir bitten, Linck? Sie werden heute zufällig einen alten Bekannten bei mir treffen …«
»Ich nehme mit Dank an. Wie befindet sich Ihre Frau Gemahlin? Wir haben uns lange nicht mehr außerhalb der Amtsmauern gesehen …«
Die Herren sprachen weiter. Nischan verabschiedete sich mit einem spitzen Lächeln, und Wichmann erschrak, als ihm die Gegenwart dieses Menschen wieder bewußt wurde, der alles gehört und beobachtet hatte und Boschhofer alles hinterbringen konnte.
»Grevenhagen ist guter Laune«, flüsterte Korts Wichmann im halbdunklen Korridor zu. »Es ist heraus, daß er Ministerialdirigent wird. Vielleicht hebt er den Boschhofer doch noch aus dem Sattel …«
»Ein solches Geschwätz ist auch nur in Ihrer Parteibude hier möglich.«
Die Bemerkung kam von dem einen der Regierungsräte mit den Schmissen im Gesicht.
Korts lachte kurz, aber Wichmann wuchs in die Höhe. Er fühlte »sein« Ministerium als Ganzes angegriffen.
»Bitte daran zu denken, daß Sie hier mit Bewohnern dieser Bude sprechen«, gab er scharf zurück. »Ich habe noch kein Urteil, wie es bei Ihnen zugeht.«
Man kam an dem erleuchteten Meldezimmer vorbei. Der Schein der elektrischen Birnen fiel auf die Vorübergehenden, auf Wichmanns entschlossenes Gesicht.
»Meine Bemerkung war nicht persönlich gemeint, Herr Assessor. Begreifliche schlechte Laune nach langatmiger Verhandlung.«
»Danke für diese Richtigstellung. Sie genügt mir.«
»Ha, was wolle die Herrn auch noch mehr verlange in unserem ›staatliche Schauspielhaus‹?«
Die Spannung löste sich in Heiterkeit.
Die beiden fremden Regierungsräte schlossen sich der Mittagsrunde in der ›Stillen Klause‹ an. Fräulein Hüsch hatte neues Jagdwild; ihre abgleitende Handtasche wurde mit Eifer und Übung zurückgereicht. Korts, der sich nie danach bückte, schwoll in nicht ausgesprochener innerer Wirrnis rot an.
Die folgenden Tage wechselten vom Allegro der Arbeit hinüber zum Andante. Wichmann sah häufiger aus seinem Fenster hinauf zu den Ulmenspitzen, die der Wind bewegte, und fand sich mit Geduld auch in die laufende Verwaltungsarbeit und in die kleineren Eigenheiten seines Chefs hinein. Er wußte, daß die Briefe und Aktenstücke mit einem breiten freien Rand zu schreiben waren und daß das Wort »hinsichtlich« in der Hälfte der Fälle, in der es auftauchte, gestrichen wurde. In Nachmittagsstunden, in denen Wichmanns Arbeitslust den zweiten Höhepunkt am Tage erreichte, pflegte er die zahlreichen Blätter hervorzuziehen, die Material zu der Bezirksreform enthielten, verglich und grübelte und verlangte weitere Auskünfte von zuständigen Stellen. Die telefonische Verbindung mit dem Regierungsrat des Staatsministeriums erwies sich mehr persönlich als sachlich fruchtbar. Wichmann fand viel Entgegenkommen und eine Achtung für seine Tätigkeit, die ihn in wohltuendes Staunen versetzte.
Allmählich hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, daß seine Ernennung zum Regierungsrat in kurzer Frist nicht mehr als recht und billig sei. Ja, die Vorstellung, daß er noch zurückbleiben könne, währenddie anderen aufrückten, wurde ihm nicht nur unwahrscheinlich, sie erschien fast unerträglich. Tag für Tag besprach die mittägliche Tafelrunde die erstaunliche Langsamkeit, mit der vorgeschlagene Ernennungen geprüft wurden, sowie die Unzulänglichkeit von Beamtengehältern. Unkontrollierbare Nachrichten über Veränderungen der »Liste« waren plötzlich da, erregten die Gemüter und wurden auf demselben Flüsterweg, auf dem sie gekommen waren, auch wieder dementiert. Inspektor Baier machte von Zeit zu Zeit Besuch bei dem jungen Assessor, um ihm das Leid seines ordnungsliebenden und schwachen Herzens zu klagen und zugleich über den neuesten Fußballänderkampf zu berichten. Ein Strauß roter Astern, von unbekannter Hand gestiftet, hatte sich auf dem Schreibtisch vor der gelblichen Wand eingefunden. Als Wichmann ihn heimlich und in vergnügter Absicht dem Kollegen Meier-Schulze in den Orient hinüberstellte, war die Wirkung durchschlagend. Dieses älteste Mitglied der Abteilung wollte nicht ruhen, ehe die unbekannte Spenderin ermittelt sei. Fräulein Sauberzweig kicherte und sah den Assessor Wichmann mit dem Blick eines jungen Rehes an, wenn er diktierte.
Ein gemeinsamer Weg mit Korts und Casparius nach Dienstschluß bürgerte sich ein. Die Gespräche waren nicht tiefgründig, und Wichmann unterließ bald seine Versuche, zu einem philosophischen oder sonstigen allgemeinen Thema zu kommen. Aber die Unterhaltung, mehr vielleicht noch das anspruchslose Zusammensein selbst lockerten die geistigen Muskeln von den Folgen einseitiger Beanspruchung und bereiteten die Lösung von allem Tages geschehen durch den nächtlichen Schlaf vor.
Es war wieder einmal Sonntag. Des Morgens im Zwielicht zwischen Schlaf und Wachen hörte der junge Mann unter der warmen Decke das Klopfen und Pladdern von Regentropfen am Fenster. Seine Glieder dehnten sich, und eine natürliche Furcht des Körpers vor Kälte und Nässe ließ ihn das Warme und Weiche, das ihn umgab, um so angenehmer empfinden. Die Witterung, deren Ungunst entschieden war, beruhigte das Gewissen über alle nicht gefaßten Entschlüsse und gab unwiderlegliche Beweisgründe gegen das strengere Ich. Verweilen in der Höhle, die Menschenkunst gebaut und mit Gegenständen ausgestattet hatte, war heute natürlicher Trieb und Ergebnis schonsamer Vernunft zugleich. In die Freude, aller Verpflichtungen ledig zu sein, teilten sich Seele und Körper. Das Roßhaar der Matratze, die Daunen, die Luft, die ihre Wärme aus glimmendem Ofen, ihre Frische durch den Fensterspalt in sich sog, das milde Wirken des Vorhangs, der das Licht durch seine Fasern zu grünem Dämmer filterte, fanden sich zusammen mit dem von Gedanken und Wünschen losgewordenen Stillesein des erwachten Schläfers. Kein Wecker schrie, Martha klopfte nicht, auch um halb neun lief kein Motor mit mahnendem Geräusch vor dem Hause Kreuderstraße 3 an.
Die Frage, ob der Ruhe oder der Nahrung der Vorzug zu geben sei, wurde endlich zugunsten des Sonntagsfrühstücks entschieden. Der junge Mann schlug die Decke auf, um seinen Vorsatz vor sich selbst zu bekunden, und als es langsam kühl um seine Glieder wurde, erhob er sich gähnend. Das Bad in der gestrichenen Wanne gab zu neuem Verweilen Anlaß. In dem grünlichen Fensterglas schwammen Fische von unmöglichen Formen. Sie kamen nie von der Stelle. An der Wand saß ein Frosch mit goldener Krone und glotzte. Die duftende Weichheit der Seife schmeichelte um die Hautnerven; die Poren taten sich auf und atmeten. Das Gewicht des Körpers veränderte sich. Seine alltägliche Schwere schwand im Wasser; die Füße schwammen, wenn der Zwang der Muskeln sie freigab, und halb schwebend, Zehenspitzen über die Oberfläche treibend, ließen sie ein Gefühl der Leichtigkeit den ganzen Körper hinauflaufen.
Oskar Wichmann pfiff. Der Raum, der keine schalldämpfenden Polster und Stoffe enthielt, machte den Ton kräftig; die rhythmische Melodie konnte sich ungehemmt um Frosch und Fisch schwingen.
Draußen war Marthas Schritt zu hören. Die große Standuhr aus dem Wohnzimmer schlug nicht, um anzutreiben. Sie sang einen Baßklang zu Wichmanns Melodie vom tiefen Keller, in dem er zu sitzen vorgab.
Das Frühstück an diesem Tage entbehrte nicht einer kleinen besonderen Feierlichkeit. Auf der mit dem Muster von Blättern und Früchten gewirkten Decke, die über das Tischchen am Fenster gebreitet war, stand eine Kaffeetasse aus dem geheimrätlichen Urgroßmutterschrank von ungewohnter Form, mit goldenem Rand. Das Vertrauen der Hausherrin zu einer ruhigen, nichts zerstörenden Hantierung ihres Mieters am heiligen Sonntag drückte sich in der Freigabe dieses Porzellans aus. Die dazugehörige Kanne enthielt im ausladenden Bauch eine größere Menge der Flüssigkeit, die schwarz wie die Nacht war und süß wie die Sünde über die Zunge floß. Die Butter war reichlicher als am Werktag zugemessen, und das geschliffene Gefäß mit dem Glaslöffelchen gab Johannisbeergelee aus statt der werktäglichen Marmelade. Wichmann würdigte diese Unterschiede. Unter der Wirkung des verführerischen Koffeins erschien die Welt leicht zu erobern, und langsam konnte man auch die Zeitung aufschlagen, um zu sehen, was der Witz hierzu verpflichteter Journalisten und Dichter dem zahlenden Zeitgenossen zum Sonntag aufzutischen habe. Überschriften und erste Sätze entschieden über Lektüre oder Ablehnung. Die Theaterkritik war zu bissig für die warme Stimmung der Stunde, der Roman kam nicht vom Fleck, aber die Beschreibung einer Reise nach Griechenland hielt Auge und Phantasie fest, und die griechische Sonne schien über helle Ruinen und ungezieferbehaftete Gaststätten, während draußen der Regen in dünnen unzähligen Fäden floß und seinen Schleier über Häuser und Gärten legte. Der Asphaltglanz der leeren Straße fing den Blick, der von der Lektüre abirrte.
Gefallene Blätter klebten in der Feuchtigkeit am Boden. Die schmiedeeisernen Rosen und Ranken des Gartentors von Kreuderstraße 3 gaben ihre kunstvoll-schlichten Formen der Morgenhelle und der Neugier frei. Der glattgekehrte Sand des Gartenwegs sog Nässe ein.
Oskar Wichmann hatte nun doch ein Stückchen schwabbelnden roten Gelees auf das Weiß der Frühstücksdecke fallen lassen. Behutsam hob er mit dem Messer das Schandfleck erzeugende Etwas ab und strich es auf den Tellerrand, um dann den letzten Bissen zum Munde zu führen.
Das eine Fenster der Gartenvilla, das er drüben zu sehen vermochte, war genauso trübe verregnet wie die hohen Scheiben des geheimrätlichen Wohnhauses, an denen die Tropfen auf krummen Wegen hinabrannen. Das sanfte Grau von Himmel und Nebel schien alles unbestimmt und tatenlos zu machen. Zum Fallen schon bereite Blätter hingen noch an den Zweigen, weil keine Luft sie lösen wollte. Wichmann wandte den Kopf und betrachtete den barocken Heiligen in der Ecke. Sein lang gezogenes, ausgemergeltes Gesicht mit den überirdisch großen Augen schaute in den himmlischen Regen und die Unzulänglichkeit der Welt.
Als es gegen zwölf Uhr ging, hatte Martha das Frühstücksgeschirr abgeräumt und dem Herrn Assessor die Zeitung der Geheimrätin gebracht, nicht ohne auf das Angenehme eines gelüfteten und geordneten Zimmers hinzuweisen. Wichmann mußte darüber nachdenken, ob er sich zu einem Spaziergang oder lediglich zu einem Raumwechsel innerhalb der Wohnung entschließen wollte. Er entdeckte dabei, daß sein Entschluß längst feststand und er den dazu passenden Anzug schon am Leibe trug. Der Regierungsassessor Dr. Wichmann wollte nicht länger zögern und seine Karte in der Kreuderstraße 3 abgeben.
Es war unmöglich, zu diesem Gang den Schirm mitzunehmen, den die besorgte ältere Schwester dem Gepäck des Bruders beigegeben hatte. Der gute Überzieher und der gute Hut mußten den kurzen Weg im Regen zum gegenüberliegenden Hause überstehen können. Wichmann hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen eine Schutzvorrichtung, die seit dem Kriege als unmännlich galt und bei Gebrauch nur andeuten konnte, daß ihr Träger ein Jahr zu spät geboren war, um noch an der Front gewesen zu sein.
Die Visitenkarte in der Brieftasche … wildlederne Handschuhe … ein letzter Blick in den Spiegel mit der Frage, ob die Erscheinung notfalls auch vor der Kritik eines galonierten Dieners bestehen könne dann – öffneten und schlossen sich die Türen, und Oskar Wichmann ging zum erstenmal quer über die Straße stracks auf das Gartentor zu.
Links neben der Pforte hing am Zaun der Briefkasten, am Pfosten war das kleine Messingschild angebracht mit den dünn eingeritzten Buchstaben GREVENHAGEN. Wichmann drückte auf die Klingel, das Schloß summte. Die vom Handschuh befreite Rechte griff die tropfnasse eiserne Rosenknospe, die sich als Klinke bot. Wichmann trat in den Garten ein. Auf dem Sandweg zeichneten sich die Umrisse seiner Schuhsohlen ab. Vor ihm schien heute noch niemand hier gegangen zu sein.
Der Weg war von Rosenstöcken und kleinen Rosenbäumchen begleitet, die schon schützende Strohhüllen trugen. Der Rasen glich einem Teppich; nicht ein Unkraut lebte zwischen den kurzen, grünen, regennassen Halmen.
Das Haus zeigte sich dem Besucher. Es war in der Art eines englischen Landhauses erbaut. Eine Treppe mit wenigen flachen Steinstufen führte rechter Hand zu der überdachten Tür. Es bedurfte keines weiteren Zeichens. Die Tür öffnete sich. Der Diener, den Wichmann in seinen Ahnungen erwartet hatte, nahm die Karte auf dem silbernen Tablett entgegen. Wichmann wartete in der lichten kleinen Halle mit den altenglischen Stichen an den Wänden.
Die Herrschaften ließen bitten.
Der Assessor war etwas aus dem Gleis seiner Vorstellungen gebracht. Wieso wurde sein Besuch angenommen? Üblicherweise genügte es, die Karte abzugeben.
Wichmann folgte dem Diener in die Garderobe, die sich rückwärts an die Diele anschloß, legte den nassen Hut und den nassen Mantel ab und ließ sich dann durch die Vorderräume linker Hand geleiten. Die Teppiche fingen jeden Laut ab, den die Bewegung der Gehenden verursachen konnte. Als sich die Schiebetür öffnete, sah der Besucher in einen Raum mit gobelinbezogenen Stühlen und Sesseln. Ein offenes Kaminfeuer flackerte und knackte; an den Wänden erzählten alte Bilder von Seeschlachten und Handelshäfen. Alles in allem gaben die Farben von dunklem Rot und dunklem Grün, die hier herrschten, das Gefühl des Männlichen und Gediegenen.
Der Eintretende machte seine Verbeugung.
»Darf ich dir unseren jüngsten Mitarbeiter, Herrn Assessor Dr. Wichmann vorstellen – meine Mutter.«
Oskar Wichmann küßte der weißhaarigen Dame die Hand. Auf dem runden niedrigen Tisch, um den man sich setzte, stand ein Körbchen, aus dem Nadel und zarte Spitzen noch hervorschauten.
Es begann das zurückhaltende Gespräch des ersten Besuchs. Der Assessor überließ der alten Dame das Wort und beantwortete, was er gefragt wurde.
Er erfuhr, daß der wirkliche Stand und das Schaffen seines verstorbenen Vaters, des Professors der Chemie Ludwig Wichmann, in diesem Hause nicht unbekannt geblieben waren. Es ergab sich zwanglos, daß er von seiner Vaterstadt erzählte.
Während man seinen bescheidenen Worten freundlich zuhörte, nahm der Sprechende das Bild, das er vor Augen hatte, in sein Gedächtnis auf: das nachtschwarze Seidenkleid mit dem hohen Stehkragen, die lange goldene Kette mit dem Lorgnon, deren Linie Gestalt und Haltung einer sehr stolzen alten Frau betonte. Ihre Exzellenz – wie der Diener Wichmann noch zugehaucht hatte –, die alte Dame, hatte ihr weißes Haar so glatt und untadelig gelegt, wie draußen der Rasen geschnitten war; durch ihre schmalen Hände lief sichtbar das Geäst blauer Adern. Unwillkürlich vermied es auch Wichmann, den Rücken an die Lehne zu stützen, und seine Wirbelsäule reckte sich gerade, Nach angemessen kurzer Zeit verabschiedete er sich. Die Worte »Wir hoffen Sie öfters bei uns zu sehen« klangen ihm noch im Ohr, als er mit Hilfe des Dieners den nassen Überzieher wieder anlegte.
Mit dem Gefühl »bestanden zu haben«, ging er auf der eigenen Spur über den Gartenweg zurück. Ein Besuch im Hause eines Dienstvorgesetzten war immer etwas Sonderbares. Der Mann, der im Amtsraum befehligte, war auch ein Mensch; die Beziehung zu ihm bekam etwas Zwiegespaltenes, wenn diese beiden Gesichter bekannt wurden, der »Ministerialrat« und »Herr Dr. Grevenhagen«. Wichmann war in der Vorstellung erzogen, daß Persönliches im Dienste niemals eine Rolle spiele, um so schärfer trennten sich ihm jetzt die beiden Gestaltungen desselben Menschen, obwohl sie den Stempel gleicher Art trugen.
Als Wichmann im Regen nach Hause zurückgekehrt war, erinnerte er sich mit Erleichterung, daß seine Quartierwirtin, die Geheimrätin, ihn heute zum Mittagessen eingeladen hatte. Er brauchte nicht auf Futtersuche nochmals in die Nässe hinauszugehen.
Adrett und lebhaft wie immer saß die mollige sechsundfünfzigjährige Witwe zusammen mit ihrem jungen Mieter an dem riesigen Speisezimmertisch, umgeben von mächtigem Büfett, riesiger Kredenz und drei Bildern des verstorbenen Gatten an den hohen Wänden. An den behenden Fingern, die Wichmann immer an rosa Jahrmarktschweinchen erinnerten, glänzten die beiden viel zu eng gewordenen Eheringe. Martha brachte die Fleischbrühe mit Eierschnitt.
»Ihre Majestät, die alte Frau Grevenhagen, hat Sie empfangen? Sie haben einen ganz großen Erfolg, mein Junge. Das ist großartig, was Sie für einen Erfolg haben! Grevenhagen ist doch Ihr Vorgesetzter. Eine sehr exklusive Familie sehr, sehr exklusiv –, ganz gut, daß Sie hier wohnen, das kann drüben nur einen angenehmen Eindruck machen. Mein Mann kannte den alten Grevenhagen, den Minister a. D., und solange mein Mann lebte, haben wir auch drüben verkehrt. Seitdem ich Witwe bin, in der Inflation mein Vermögen verloren habe und ein Zimmer abgeben muß, hat die alte Majestät mich nur noch selten gebeten, und ich bin natürlich zu stolz, um mich aufzudrängen! Schade, daß ich nicht wußte, daß Sie hinübergehen. Sie hätten aber ruhig erwähnen können, daß Sie bei mir wohnen. Den alten Herrn Minister a. D. haben Sie nicht gesehen? Eine wunderbare Erscheinung! Ich könnte mich auf meine alten Tage wahrhaftig noch in ihn verlieben. Haben sie drüben nicht einen Diener? Ja, sie sind sehr vermögend. Alter Bremenser Seeräuberreichtum, durch Generationen kultiviert, etwas Hochmut, wie das so an der Wasserkante üblich ist bei den Erben großer Handelsherren … fast englische Arroganz … dazu die Strenge deutscher Beamten- und Offiziersehre der mütterlichen Familie, alles betont einfach … Die junge Frau Grevenhagen haben Sie nicht gesehen?«
»Nein, leider nicht.«
»Schade. Es hätte mich sehr interessiert, was Sie für einen Eindruck von ihr gewinnen. Haben Sie sie überhaupt noch nicht gesehen?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Wenn Sie dort verkehren, werden Sie sie noch kennenlernen. Als Mann sind Sie zwar nicht zuständig für ein objektives Urteil über Frauen, aber ich möchte doch gern hören, was Sie von ihr halten.«
»Warum, gnädige Frau? Ist etwas Ungewöhnliches an ihr?«
»Ungewöhnliches? Eigentlich gar nichts. Sie kleidet sich genauso dunkel wie die alte Exzellenz und ist nicht einmal besonders hübsch. Sie hat ein unregelmäßiges Gesicht, keine auffallenden Augen … Dennoch – ja, wie soll ich das sagen? –, sie macht wohl den Eindruck von etwas Geheimnisvollem … verstehen Sie? Ein See zum Beispiel und ein zweiter See – na, das sind eben zwei Seen, aber der eine ist klar, und man ist zufrieden, weil man bis auf den Grund schauen kann, und geht ruhig weiter. Der nächste ist dunkel, und da bleibt man stehen und wartet, ob nicht beim Mondschein eine Nixe auftaucht … obwohl in Wirklichkeit auf seinem Grunde genauso gewöhnliche Steine liegen und genauso schlammiger Tang wächst wie überall – es ist nur, er verbirgt sie, und unsere Phantasie hat die Freiheit, in das Undurchsichtige hineinzulegen, was sie will. So ist das bei den angeblich interessanten Frauen auch. Vor so etwas müssen Sie sich immer hüten, Herr Dr. Wichmann. Immer nüchtern bleiben! Wenn Sie eine Frau sehen, so fragen Sie sich, ob sie Ihrer älteren Schwester gefallen würde und ob sie ein Essen nach Ihrem Geschmack auf den Tisch bringen könnte!«
Martha servierte Kalbsnierenbraten und Salat. Wichmann bekam das Salatherz. Bei alten Damen war man immer gut aufgehoben. Seit er bei der Geheimrätin wohnte, hatte ein Fleck auf seinem Anzug nie den nächsten Tag erlebt. Er brauchte vorläufig noch nicht auf Brautschau zu gehen.
»Mit dem Heiraten, Frau Geheimrat, habe ich es nicht so eilig. Ich habe nach meiner Auffassung heute weder die Stellung noch das Gehalt, um einen Ehestand zu gründen.«
»Bitte greifen Sie zu, Herr Assessor! Aber selbstverständlich, ein junger Mann wie Sie wird doch ein solches Stückchen Fleisch noch essen können! – Was Sie eben sagten – Stellung und Gehalt –, ich zweifle gar nicht, daß Sie sehr schnell vorwärts kommen, bei Ihrem Fleiß! Tun Sie aber nicht zu viel; Sie verwöhnen Ihre Vorgesetzten! Jetzt können Sie noch verschwenden mit Ihren Kräften und die Nächte durch bei der Lampe sitzen – ja, ich hab’ es wohl gemerkt – ans Älterwerden denken Sie natürlich noch nicht. Aber lassen Sie sich raten und seien Sie vernünftig! Mein lieber verstorbener Mann, auf den ich so große Stücke halte, hat den Federhalter immer Punkt fünf Uhr niedergelegt. Da hätte die Welt zerbersten können – er hat ihn niedergelegt. Und sehen Sie, die Welt ist nicht zerborsten.«
»›Die‹ nicht, gnädige Frau, aber ›eine‹ vielleicht doch – und vielleicht gerade diejenige, von der Sie sprechen. Man sagt zwar auch bei uns von einem Manne namens Pöschko, daß er täglich beim ersten Schlag der fünften Stunde das Zimmer verlasse. Aber diesen Mann betrachte ich, ehrlich gestanden, noch wie einen Wunderfisch im Aquarium, ich könnte jedenfalls in seinem Wasser nicht leben. Ich arbeite wie … also sagen wir, wie ein Löwe jagt … wenn der eine Antilope spürt und wenn ich ein Problem rieche, dann gehen wir beide los und ruhen nicht, bis wir das Begehrte geschnappt haben; wir schleichen und springen, alle unsere Fähigkeiten werden lebendig, wir sind schlau, kraftvoll, beharrlich und von leidenschaftlichem Mut – und wenn wir die Beute zwischen den Zähnen haben, dann sollte natürlich die Höhlenruhe kommen im unbehelligten, wärmebrütenden Felsversteck … das vollständige Ausspannen, bei dem man gar nichts tut, als sich von seiner Löwin lecken lassen – entschuldigen Sie das Bild – Aber so etwas gibt es nun leider nicht mehr bei unseren gesegneten Dienststunden und der durchgehenden Arbeitszeit. Der Sonntag ist nur noch eine letzte Ahnung von dem, was wir verloren haben.«
»Ganz recht, ganz recht!« Die Geheimrätin lachte. »Aber da Sie die Tretmühle nicht ändern können, müssen Sie Ihre Arbeitsweise ändern. Sie müssen Ihre Arbeitsleidenschaft bändigen, lieber Assessor! Sie werden noch an mich denken und daran, daß ich Ihnen das gesagt habe!«
»Hoffentlich nicht, gnädige Frau. Ich bin noch zu gar keinem Kompromiß bereit.«
»Dann muß ich meine Bemühungen im Geist auf Ihre zukünftige Gattin übertragen. Vielleicht wird die Sie zur Raison bringen. Sobald Sie den Regierungsrat haben, fangen Sie doch sicher an, unter den Töchtern des Landes zu wählen. Den Regierungsrat sollten Sie allerdings vorher haben. Grevenhagen war auch Regierungsrat, als er in der Inflationszeit heiratete. Es war eine glanzvolle Hochzeit, von der man hier viel sprach. Aber eine geschiedene Frau! Mich wundert immer noch, daß die alten Exzellenzen die Erlaubnis zu der Heirat gegeben haben.«
»Wieso Erlaubnis gegeben?« Wichmann lachte ein wenig, während Martha den warmen Pudding servierte. Sie hatte die Augen gesenkt, um nicht neugierig zu erscheinen. »Volljährig und als Regierungsrat konnte Grevenhagen noch nicht auf eigene Verantwortung heiraten? Brauchte er eine Aussteuer?«
Die Geheimrätin beantwortete den Spott des Assessors mit einem überlegenen Lächeln. »Lieber Herr Assessor, Sie stammen aus akademischen Kreisen, Bremenser Patrizier und Potsdamer Offiziersadel sind Ihnen als Milieu noch etwas fremd. Da gibt es wenig individuelle Wünsche; alles ist Strenge und Hochmut und Zucht, von klein Kind an. Wie wollten Sie im übrigen die Ansprüche einer geschiedenen Gräfin Markwitz mit einem Regierungsratsgehalt erfüllen? Selbst wenn Sie in wenigen Jahren zum Ministerialrat aufsteigen! Ein Beamtengehalt genügt nicht für die Lebensführung der jungen Frau Grevenhagen. Die Eltern haben dem Sohn anläßlich der Hochzeit einen großen Teil seines Erbes schon überschrieben. Sie waren wohl allzu weich gestimmt in der Zeit nach dem Krieg … Früher war der junge Herr zwar sehr anspruchsvoll, aber auch außerordentlich streng erzogen. Tja, dann 1918 verschüttet – dabei hat er sich auch seine grauen Haare geholt, die ihm das distinguierte Aussehen geben – vermißt – in Gefangenschaft – die Eltern gebrochen von Sorgen um den einzigen Sohn … und schließlich sagten sie ja und amen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß die alte Majestät einverstanden gewesen ist. Eine geschiedene Frau!«
»Wieso, hatte die Gräfin einen schlechten Ruf? War sie mit ihrer Schuld geschieden?«
»Behüte, aber eine geschiedene Frau überhaupt!? In einer solchen Familie!«
Die Geheimrätin sprach ihre Abneigung gegen alles, was mit Scheidung zusammenhing, nachdrücklich aus und versuchte vergeblich, den Samen ihrer Anschauung der jungen Generation einzupflanzen.
»Sie können eine unschuldige Frau doch nicht um des Prinzips willen an einen Schuft ketten, bis sie zugrunde geht. Frau Grevenhagen tut mir leid, ohne daß ich sie kenne; das Geschwätz scheint sich um sie zu ranken wie Schmarotzerpflanzen um einen wehrlosen Stamm.«
Die Geheimrätin mit den grauen Löckchen war nicht klug genug, um sich getroffen zu fühlen, oder zu klug, um es zu zeigen.
»Merken Sie sich, lieber Assessor: ›Etwas ist immer dran.‹«
Als der Mokka das Sonntagsmahl abgeschlossen hatte, zog sich der Gast mit Dank in sein Zimmer zurück. Er streckte die Beine von dem hochlehnigen Renaissancestuhl, in den er sich niedergelassen hatte, und betrachtete das japanische, auf Seide gemalte Bild, das neben der Rembrandtkopie fremdartig an der Wand hing. Wasser, eine zierlich gebogene Brücke, ein Baum, mit unendlicher Geduld in alle seine Verästelungen verfolgt, dahinter der Schimmer des Fudschijama – voll von Tradition und allgemein verbindlichen Regeln der Form und geregelten Empfindungen steckte das Ding. Zierlich und gebunden wie solch ein Bild mochten Mädchen sein, die auf Befehl der Eltern einem alten japanischen Samurai ins Ehebett folgten.
Es regnete immer noch, aber der Wind hatte sich erhoben und trieb eine Wolkenherde weiter, der Strich der Tropfen hatte sich schräg gestellt und traf die Fenster nicht mehr. Wichmann öffnete und zog die feuchte, reine Luft ein, die vom Staub der Straße, vom Rauch der Öfen, von den Abgasen der Fabriken befreit war. Es roch nach dem modernden Park.
Drüben der Garten hinter dem Rosentor lag still wie immer. Wichmann ärgerte das Gerede, das sich zu seinen Ohren gedrängt hatte. Er schämte sich, als ob man Menschen mit Gewalt vor ihm ausgezogen habe. Beinahe hilfesuchend dachte er an die stolze Dame im Weißhaar, die »alte Majestät«, deren von der Erinnerung wiederholte Erscheinung das Gemeine bannen sollte.
Es war schon eine Stunde vergangen, als er Hegels Rechtsphilosophie hervorholte und sich durch des Meisters verschrobene Sprache zu den Gedanken durchwand, die streng und nicht immer zusagend waren. Daß die kapitalistische Gesellschaft nur von der Expansion leben könne, hast auch du schon gedacht. Die jungen Leute haben sich in das Besondere ihres bürgerlichen Berufs zu finden – das ist vernünftig, also gut, also notwendig …? Pfui!
Dennoch blieb das Buch in Wichmanns Hand, bis es dämmerte. Das Großartige des einheitlichen Systems zog ihn an, auch wenn ihm vor der Beschränktheit seiner Nutzanwendung graute. Die Pläne der Vorsehung enthüllen und dann beim preußischen Staat landen! Nichts gegen Preußen … aber war es der Sinn der Welt?
Was sagst du dazu, alter Heiliger mit dem mageren Antlitz und den allzu reichen Falten im Gewand?
Der Verwaltungsassessor Dr. Oskar Wichmann ließ durch das offene Fenster noch immer den Duft des Parks an sich herankommen, Duft von Moder und Fäulnis an diesem Abend. Die Straße war ohne Laut und Bewegung. Auf dem asphaltierten Gehweg spiegelte sich das Abendrot in seinen himmlischunfaßbaren Tönen in Pfützen, die sich als Gewirr durch abtrocknende Stellen zogen. In der Mitte der Fahrbahn lag wieder ein welkes Ahornblatt. Hoch oben an den Zweigen grüßten sich im Sonnengold noch die Brüder, die auf dem Weg des Vergehens bald folgen mußten. Die eisernen Ranken des Tores und der sandbestreute Weg mit seinen Rasenrändern träumten schon im verschwommenem Dunkel zur Nacht dahin.
Wichmann schloß das Buch. Er trank den Tee aus, den Martha noch gebracht hatte, und entzündete die Zigarette. Sein Rücken spürte die nicht harte und nicht weiche Stütze des gobelinbezogenen Holzes. Er legte die Hand auf das dunkle Löwenhaupt, dessen Mähne in vielen Jahrzehnten von vielen Händen glatt gegriffen worden war. Drüben, im rötenden Sonnenstrahl, schimmerte noch ein undurchsichtiges Glasauge des halb verborgenen Hauses.
Die blauen Kreise, die sich aus den rauchenden Lippen lösten, verschwebten ohne Ziel im Herbst und Abend. Der letzte Duft des Tees, den Oskar Wichmann aus einer durchscheinenden Schale getrunken hatte, zog mit ihnen aus dem Fenster. Nicht sichtbare Häuser verdeckten den Tod der Sonne. Die Straße wurde grau, und das dürre Ahornblatt flatterte noch einmal hilflos im Wind. Eine Laterne schien durch den Nebel, der aus Park und Gärten herausfloß.
Oskar Wichmann hörte Schritte, ohne den Kopf zu wenden. Sie klangen leicht, dem Verdämmern der stillen Straße angepaßt, in einem doppelten Takte, der das Gehen zweier Menschen verschiedenen Wuchses verriet. In dem zwiefältigen Schimmer, in dem die Ausstrahlungen der Laterne in das Dunkel der Parkwege hineintasteten, wurde die Bewegung für den, der sie gehört hatte, auch sichtbar. Er sah eine Frau, ohne den Mann, der sie geleitete, bewußt wahrzunehmen. Sie trug ein Cape aus schwarzem Tuch, das auch im matten Schein glänzte; der Hut, die hohen Stiefel, der dünne scharfe Strich der Reitgerte waren durch den nervenreizenden Gegensatz ihrer Steifheit und Strenge mehr Enthüllung als Versteck für die Grazie des Frauenleibes.
Das Melodische der Stunde, die zwischen Abend und Nacht schwebte, löste gleiche Schwingungen in der Körperseele des fünfundzwanzigjährigen Mannes. Der Klang jener Schritte, der auf sandbestreutem Weg die Grenze des hörbaren Lauts kaum mehr berührte, hallte in ihn hinein, und er horchte auf sie wie auf das Ausklingen einer Saite, das durch keinen anderen Ton mehr gestört wird. Seine eigene Hand war nur noch ein matter Schatten. Er zog an der Zigarette. Das Feuer war ausgegangen.
Oskar Wichmann war wunderlich verzaubert und ließ sich von der Nacht in tiefere Träume spinnen. Seine Hände wurden langsam kalt, und Feuchtigkeit setzte sich an seine Haare. Es war eine untergründige Wollust in dem Gefühl, eine sehr schöne Frau gesehen zu haben, und das Unbestimmte und Unbekannte ihrer Erscheinung machte das Spiel der Phantasie frei und süß. Die Mächte, denen der Zufall untertan war, hatten ihn in der fremden Stadt in das Haus geführt, das dem ihren gegenüberlag. Niemand verwehrte ihm, die tausend Möglichkeiten zu durchfliegen, die für das Wiedersehen der noch Unbekannten offen lagen. Eine einzige Bewegung ihrer Schulter hatte sie nackt vor ihm gemacht; die Mischung von Fremdheit und unbegreiflicher Nähe verwirrte und verstrickte ihm das Gefühl.
Als er die schweren Vorhänge geschlossen und die Stehlampe mit dem dunkelgrünen, tief heruntergeführten Schirm auf ihren geschnitzten Füßen näher gerückt und zum Brennen gebracht hatte, begann sein Verstand zu sagen, daß er wisse, wen Oskar Wichmann gesehen habe. Aber seine Empfindung tanzte auf dünnem Seil hoch über diese Wissenschaft hinweg; sie balancierte, die Tiefe unter sich, in freien Lüften, gewichtslos fliegend im Raume des Traums. Mochte ein anderes Selbst spotten, daß eine Tasse Tee, eine halb angerauchte Zigarette, etwas Moderduft und eine heimkehrende Reiterin das Herz des unbeobachteten Beobachters in die Schiffsschaukel primanerhafter Empfindungen heben konnten. Mochte es … schon gefiel dem jungen Manne das unnütze Schweben der Empfindungen zu gut, als daß er noch hätte davon lassen wollen.
Wichmann ging auf dem unregelmäßig gemusterten Chinateppich auf und ab und sah mit neuen Augen das Zimmer, in das nie eine Frau zu führen er versprochen hatte. Das Nachgeahmte, Anspruchsvolle und Unbequeme seines Stils erschien ihm auf einmal lächerlich. Er dachte an seine Tätigkeit im Amt als etwas, was seinem allgemeineren Schaffensdrang nie würde genügen können, und die Stadt, in der er mehr durch Fügung als nach eigenem Plan gelandet war, hatte in der Unklarheit ihres Wesens nur das aufzuweisen, daß sie jene Frau beherbergte … jenen Schatten einer Frau. Obwohl alles unbefriedigend war, was ihn außer seinem Phantasiebild noch umgab, fühlte er sich nicht beengt. Flügel regten sich; seine Kräfte schliefen nur wie Vögel, die sich erst aus dem Nest recken mußten; er sah ihnen zu und fühlte sich voll Zukunft.
Er lachte jungenhaft bei der Vorstellung, daß er reiten lernen werde. Der Schweißgeruch, das Schnauben edler Pferde waren um ihn, die Hufe klopften in die weiche schwarze Erde des Parks. Goldene Blätter fielen um den streng geformten Schulterschnitt eines Reitkostüms. Die Wiesengründe, die Baumgruppen, Bäche und kleine Brücken waren Ausdruck eines Lebens, in dem die unbeschnittenen Elemente des Seins sich zum Schönen zu entfalten schienen. Weit ausladende, lichtumflossene Zweige schlossen sich zu dem Bilde der Krone, die dem Keim im Boden vorschwebte und die er einmal unter aber tausend Malen vollkommen verwirklichte. Die Wurzeln des Grases fanden den feuchten Grund, den sie in dichter Verschlingung überzogen, um die eigene Art ungestört zum Wachstum zu bringen. Enten quakten und nisteten, das Wasser glitt in unsichtbarem Fluß, der Tiefe zustrebend, in den stummen Mund eines Teiches. Nichts war erzwungen und doch alles voll Kunst; die Elemente und Formen gaben sich der nachschöpfenden Hand des Menschen, und der tiefe Reiz, den gebändigte Kraft durch den geheimen Zwiespalt ihres Daseins ausübt, teilte sich dem Beschauer mit. So schien ihm das Weib, den Müttern der Erde verwandt, noch immer Urelement und dennoch zur Form geworden, dem Manne nie ganz ergründbar.
Was war das Haus, in dem er sich befand? Dünn, dünn waren seine Wände und Dächer. Darüber standen die Sterne, darunter lag das Herz der Erde, unerkannt, ewig. Die Mächte des Alls gingen durch ihn hindurch, aus ihrem Atem atmete er, sein Blut wirkte aus ihren Kräften. Leib aus dem Mutterleib nie endender Zeugung und dem Winde verwandt … nicht wissend, von wannen er kommt oder wohin er geht – ein Glied in der tausend und aber tausend Glieder langen Kette … wie ein Hauch, der die Birke streift, und ihre Zweige folgen liebend dem Zug und träumen. Wo blieb die Grenze seiner Seele? Sie floß hinaus in die wirkenden Kräfte und empfing ohne Körperlichkeit.
Alphonse … Die Nymphen sangen im weißen Nebel und sprachen mit dem Rauschen der Bäume, die zum Schlafe gingen.
Ein Mensch sein, nichts als ein Mensch, nackend vor Gott und dem Teufel, unschuldig und grausam wie das Gras und die Bäume und frei über den Scherben der selbst erbauten Gefängnisse.
Stärker noch als der Park war der Traum des Dschungels. Wenn der Tiger durch die Nacht schlich … Nein, Frau Geheimrat, dieses Bild kann der Verwaltungsassessor nicht mehr vor Ihnen entwickeln … aber wollen wir nicht einmal ehrlich sein? Wenn der Tropenregen Ihre Löckchen gepeitscht hat, daß die Strähnen wirr hängen, wenn die Natur Ihnen die Kleider vom Leibe reißt, daß Sie mit nacktem Hängefleisch zwischen Wurzeln und Schlingen stehen wie jene Wilden, über die Sie lachen – dann sind Sie nichts mehr als eine der welkenden, nicht zur Frucht gekommenen Blüten, die bald im Wasser verfaulen. Aber die Tigerin schleicht und knurrt, ihre Sehnen spannen sich, ihre Tatzen treten leise. Dieses herrlichste Geschöpf eines fremden Gottes begegnet dem Stärkeren in der Nacht und unterliegt dem, der sie aus unbewußten Trieben gesucht und gefunden hat. Sie kannten sich nie im Licht, die beiden, und werden sich bei Tage nie wiedererkennen. Einzige leichte Bewegung, mit der eine Schulter des echten Weibes die Säulen und Dächer der Zivilisation stürzt, und es ist nichts mehr da als das wunderbare Leben und der Augenblick seiner Schöpfung.
Wichmann hatte den Schritt angehalten. Die Stimmungen, die ihn überkamen, waren ihm fremd und unheimlich. Er hatte eine Hexenmeisterin gesehen.
Als er sich entkleidete, fielen ihm die guten Maße des eigenen Körpers auf. Etwas störte ihn. Er wurde unruhig wie ein Wanderer, der sich zu weit in den Sumpf gewagt hat und des Rückwegs nicht mehr gewiß ist. Schnell brachte er die Abendtoilette zum gewohnten Ende und lagerte sich unter den Daunen.
Der Schein der grünen Lampe fiel auf das dünne Papier und die Antiquaschrift des Faust; Wichmann hatte ohne Wissen aufgeschlagen, um dem Zufall eine Frage zu stellen.
Mephisto: »Ein überirdisches Vergnügen!
In Nacht und Tau auf den Gebirgen liegen,
und Erd und Himmel womöglich umfassen,
zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen,
der Erde Mark mit Ahnungsdrang durchwühlen,
alle sechs Tagewerk’ im Busen fühlen,
in stolzer Kraft ich weiß nicht was genießen,
bald liebewonniglich in alles überfließen,
verschwunden ganz der Erdensohn,
und dann die hohe Intuition –
(Mit einer Gebärde)
ich darf nicht sagen, wie – zu schließen.«
Faust: »Pfui über dich!«
Der junge Faust auf der Roßhaarmatratze fühlte seinen Zustand erkannt und war, wie sein größeres Symbol, verärgert. Er feuerte das Buch auf den chinesischen Teppich.
Als er des Morgens übernächtig erwachte, haßte er das Geschöpf des Mephistopheles, das ihn in seinem Traum verführt hatte, und er suchte zu vergessen.
Ein Umweg führte ihn um den Park herum, den er auf einmal scheute, und seine Seele griff nach dem Gleichmut der Sandsteinmauern mit ihren Simsen und Friesen, um sich daran zu halten. Der Vogel Greif, seine Flügel und Löwenklauen, die in Stein über Amtsfenstern gebildet waren, wollten ihn zum erstenmal sonderbar berühren, aber er zog sich davor zurück und eilte die nüchterne Treppe von der Ottostraße her hinauf zu den schlecht beleuchteten, grau belegten Korridoren. In seinem Zimmer stand ein neuer Strauß, kindisch in seinem bunten Aussehen und seinem Vorhandensein überhaupt. Die Hand wollte ihn zur Seite rücken, da kippte die Vase, Wasser floß über den Schreibtisch und machte diese Sache noch lächerlicher.
Wichmann warf die Blümchen in den Papierkorb und verbarg die Vase im Waschtisch; er würde sie heute Fräulein Sauberzweig mit einer unmißverständlichen Ablehnung weiterer derartiger Liebesdienste zurückgeben. Das Handtuch wischte den Schreibtisch trocken, auf gehäufte Schriftstücke waren Tropfen gefallen. Blumen gehörten nicht in den Dienst.
Nein. Übrigens wird die Aufwartefrau sie heute abend sicher aus dem Korb holen und ins Wasser stellen.
Wichmann vergrub sich in die Bezirksreform, nachdem er die laufende Arbeit mit Hast erledigt hatte. Er mußte endlich den Gedanken herbeizwingen, der diese Reform weiterbrachte. Nur auf die Eingebung zu warten hatte keinen Zweck. Wie in einem chemischen Laboratorium mußte er Versuche anstellen, bis die Lösung endlich gelang … Wenn er nur einige Hilfskräfte gehabt hätte, denen er das rein Technische aufbürden könnte! Dennoch war es vielleicht ganz gut, selbst einige Blätter zu schneiden, Berechnungen anzustellen, Mitteilungen zu ordnen. Die einfache Hantierung lenkte ab, und das Sachliche drang von außen her in die Seele ein … vielleicht.
Ob es angebracht war, sich einmal bei einer zuständigen Stelle über die Aussichten auf seine Ernennung zum Regierungsrat zu erkundigen?
Zur Mittagsrunde gedachte er bei Fräulein Hüsch zu erforschen, was sie Näheres über den offiziellen Ball gehört habe.
Er kam jedoch nicht dazu, und am nächsten Tage erschien ihm die Frage samt den Beweggründen, die ihn dazu verleiten wollten, nur töricht.
Als die Woche wieder um war, ergab es sich jedoch, daß Oskar Wichmann zu dem Tee mit anschließendem Abendbrot bei Lotte Hüsch mit einem sehr gründlichen Muskelkater der ersten Reitstunde erschien. Dank seiner Willensanstrengung, die in ihrem Mißverhältnis zu dem gegebenen Anlaß komisch war, bewegte er Beine und Körper gerade vorwärts, brachte mit schmerzendem Kreuz eine Verbeugung zustande und nahm ohne auffallende Steifheit auf seinem Stuhl Platz.
Man saß an einem großen runden Tisch. Auf der Glasplatte, die die helle Politur schützte, lagen die kleinen Deckchen, deren jedes für einen Gast einen Teller und die Tasse trug. Der Tee duftete gut; die Brötchen mit Schinken, Ei, Sardellen, Senf und Kaviar waren für Herrengeschmack richtig zubereitet; es begann ein Futtern, dessen Lebhaftigkeit auf unverbildete Triebe schließen ließ. Die Anwesenden waren zahlreich, die Themen Dienst und Frauen die einzig gemeinsamen. Lotte Hüsch sah mit ihrem kräftig braunen Haar und dem reinen Teint wirklich gut aus; das kornblumenblaue schmucklos getragene Seidenkleid stand ihrer Art und ihren Farben. Wichmann betrachtete sie wie ein hübsches Tier im Zoo. Zwischen ihm und ihr befand sich jetzt ein unsichtbarer Graben, den er gar nicht mehr zu überspringen wünschte. Ihre zierliche Hand mit dem funkelnden Ring schenkte Tee ein; der Regierungsrat aus dem Staatsministerium, dessen Schmiß heute besonders herausfordernd wirkte, half beim Herumgeben der Tassen.
»Also ham Sie gehört? Am 20. Dezember im ›Hotel de l’Europe‹… geht man hin?«
»Sind Gäste zugelassen?« fragte der mit dem Schmiß.
»Von verbündeten Mächten … warum nicht? Kommen Sie?«
»Wenn mein Terminkalender mich nicht schon anderweitig festlegt, mit dem größten Vergnügen, gnädiges Fräulein.«
»Kommen Sie auch, Herr Korts?«
»Nein.«
»Warum denn nicht?«
»Ich komme nicht.«
»Tanzen Sie nicht?«
»Nein.«
»Warum denn nicht?«
»Weil ich das für eine unnütze Art der Fortbewegung halte, sich umeinander im Kreis zu drehen. Ich gehe lieber gradeaus vorwärts, voran.«
»Ach, Quatsch. Kommen Sie doch! Wenn Grevenhagen und Boschhofer kommen …!«
»Wissen Sie das?«
»Natürlich. Sie ham ja Karten genommen. Grevenhagen kommt mit seiner Frau.«
Ein leichtes »Ah« lief um den Tisch. Wichmann fühlte sich merkwürdig fremd und abwesend.
»Dann kann ich ja auch mit Ihnen kommen, Fräulein Hüsch«, rief Korts.
»Herr Korts, ich füttre Sie hier nicht, damit Sie frech werden.«
»Herr …« Die Narbe des Mitglieds aus dem Staatsministerium schwoll an. Der Ton klang hilfsbereit und händelsuchend.
»Bitte die Tasse, Herr Regierungsrat Schildhauf … seien Sie vorsichtig … Sagen Sie, Herr Korts, also Sie kommen doch?«
»Ich werd’ mir’s überlegen.«
»Boschhofer möchte ich tanzen sehn, Kinder!«
»Er fordert Sie auf, Fräulein Hüsch, das ischt einmal sicher.«
»Wieso?«
»Er ischt ein Junggeselle, und Ihr Onkel ischt Reichstagsabgeordneter. Er hat Sie ja auch auf die Beförderungslischte gesetzt.«
»Boschhofer? Das muß doch Grevenhagen machen!«
»Fragen Sie nur unser Auskunftsbüro …«
»Herr Nathan? Was wissen Sie denn Neues?«
»Daß Sie jetzt erst auf die Liste gekommen sind, Gnädigste. Grevenhagen hatte sich für unzuständig erklärt.«
»Na, hören Sie, was soll denn das? Ich arbeite doch bei ihm!«
Bei dem Wort ›arbeiten‹ brach die Mehrzahl der Herren in ein despektierliches Gelächter aus.
»Was lachen Sie denn? Er muß mich doch zur Beförderung eingeben!«
»Hat sich aber als unzuständig erklärt. Die Bücherei sei nicht seine Referatsangelegenheit, sondern eine allgemeine Abteilungssache.«
»Na hören Sie! Da könnte ja der Pöschko kommen und als ›Abteilungsamtmann‹ kontrollieren. Es wäre eine Schweinerei und eine glatte Gemeinheit, wenn mich Grevenhagen dem preisgeben wollte. Gut, daß ich das hör’ … da muß ich morgen sofort etwas unternehmen! Auf der Liste bin ich aber?«
»Durch Boschhofer, ja. Der bewußte Anruf hat gewirkt.«
»Was Sie immer alles wissen! Aber sagen Sie, das hätt’ ich nicht gedacht von Grevenhagen. Immer den Kavalier spielen – die Sauberzweig ist ja auch schon nicht mehr ganz normal, weil sie sagt, der Ministerialrat habe ihr den Hut aufgehoben – und dann hintenherum einen dem Pöschko preisgeben.«
»Was haben Sie denn gegen Pöschko? Das ist doch ein tüchtiger Beamter?«
»Ach, Herr Korts, jetzt hören Sie aber auf. So ein heimtückisches, minderwertiges Subjekt! Er will mich durchaus kontrollieren!«
Korts wandte sich bei dem Stichwort »Kontrolle« von der Gastgeberin ab und Borowski zu. »Haben Sie schon gehört? Grevenhagen erhält ein Kontrollreferat über den ›Orient‹…«
»Wa … waas? Das wäre ja unerhört! Das lassen wir uns nicht bieten!«
»Dann werden Sie wohl den Dienst quittieren müssen, Herr Borowski. Ministerialdirigent wird Grevenhagen ja doch bald. Die Funktionen werden ihm etwas früher übertragen. Nischan hat eine Dummheit gemacht in einem Gesetzestext. Großer Stunk! Grevenhagen ist in jeder Beziehung obenauf.«
»Na, dann könn’ wir vom ›Orient‹ unsere Karriere begraben. Die Herren von drüben sind sowieso immer viel schneller vorwärtsgekommen. Grevenhagen ein Kontrollreferat! Der Pinsler! Das ist unerträglich!«
»Sagen Sie das nicht so laut vor den Ohren des Abendlandes!« rief Lotte Hüsch.
»Ist mir egal. Sie können ruhig weitererzählen, was ich gesagt habe, Herr Korts.«
»Ich habe kein Interesse am Klatschen. Wir werden sehr fruchtbar zusammenarbeiten.«
»Ha, ich muß sage, es isch hübe im Abendland eigentlich ganz nett, und der Grevenhagen weiß wirklich bedeutend mehr als unser Nischan …«
»Sie sind ja schon infiziert! Bei Grevenhagen ist man nichts als Sklave!«
»Ha no, jetzt so ein Haussklave hat’s manchmal ganz gut g’habt, Herr Borowski, des probiere Sie nur einmal aus. Die Hälfte der Worte, die Sie am Tage zu spreche gewohnt sind, müsse Sie halt dann außerhalb des Dienschtes gruppiere, zu der zweite Hälfte läßt der Grevenhagen Ihnen schon Zeit, wenn Sie sich ein bißle beeile.«
»Ja, so ungefähr habe ich mir das vorgestellt! Seinen Mitarbeitern den Mund verbieten! Angeblich alles selber gemacht haben! Alles besser wissen! Nach fünf Uhr noch anrufen! Um halb neun Uhr kommen! Den Vornehmen spielen … niemanden vorlassen durch die hochmütige du Prel … den Halbgott markieren … und sich dann einbilden, daß das heutzutage noch ungestört so weitergeht … An mir wird der Herr aber sein blaues Wunder erleben!« Borowski schüttelte die blondborstigen Locken. »Das wird ein Tanz werden! Aber ich denke gar nicht daran, mir etwas gefallen zu lassen. Ich bin schon mit ganz anderen Leuten fertig geworden. Wir werden ja sehen. Grevenhagen … na!«
»Wie soll denn das werden, Herr Nathan?« rief Lotte Hüsch. »Wenn Grevenhagen noch mehr zu tun kriegt, kommt man ja überhaupt nicht mehr bei ihm an? Da muß ich morgen unbedingt noch hin. Hätt’ ich’s nur damals gleich getan. Wann sollen denn die Beförderungen herauskommen?«
»Mit den Ernennungen.«
»Und die Ernennungen?«
»Die liegen noch beim Staatssekretär.«
»Immer noch? Hören Sie! Wenn alle Hennen so lange brüten wollten, gäb’s nichts als stinkende Eier.«
»Na ja, und in dem Fall gibt’s höhere Beamte.«
»Der Unterschied ist vielleicht nicht groß! Ich verstehe überhaupt nicht, wie ein Mann Beamter werden mag. Was ist das schon? Das war mal was! Aber jetzt? Und bei der Bezahlung? Sie könnten doch alle das Doppelte und Dreifache verdienen.«
»Aber wir hätten nicht eine so reizende Kollegin, Gnädigste.« Der Regierungsrat vom Staatsministerium kam wieder zu Wort. »Und dann … was wollen Sie mit den Industriebonzen ohne Tradition, ohne Manieren? Sie wären eine Perle unter Säuen!«
»So komme ich mir in unserm Stall auch öfters vor, glauben Sie mir. Und zu einem anständigen Leben gehört eben Geld, und nochmals Geld.«
»Das braucht man doch nicht unbedingt zu verdienen, das kann man doch auch haben?«
»Ja? Sprechen Sie da aus Erfahrung?« Fräulein Hüsch musterte interessiert das Gesicht mit dem Schmiß, den sehr guten Anzug, die goldenen Manschettenknöpfe. »Ja, da ham Sie recht. Darauf war die Hungerleiderei der Beamten eben aufgebaut, daß sie ›hatten‹ oder daß sie ›heirateten‹. Aber das sind doch jetzt nach Krieg und Inflation nur noch Ausnahmen. Die ganze Institution hat sich überlebt.«
»Im Gegenteil, sie ist im Vordringen, Fräulein Hüsch.«
»Wieso, Herr Korts?«
»Weil unsere Industrie verbeamtet.«
»Leider, leider! Das sterbende Beamtentum verbreitet den Aasgeruch seiner ›Akten‹ und ›Zuständigkeiten‹ überall, das ist schon wahr. Es ist zum Auswachsen. – Bitte, Herr Wichmann? Den Kaviar? Nehmen Sie doch! Sie kommen doch auch zu unserem blödsinnigen Ball?«
»Ich möchte mich von der Geistesverwirrung nicht ausnehmen.«
»Das ist lobenswert. Wenn Boschhofer und Grevenhagen kommen, muß man sich sowieso zeigen. Ich bin ja diebisch neugierig, endlich Frau Grevenhagen zu sehen … und wie der Boschhofer tanzt!«
»Ha, der tanzt ausgezeichnet, des kann ich Ihnen versichern. Gucke Sie, der ischt so ein runder Ball, der springt ganz reizend und leicht. Habe Sie schon einmal einen schlanken oder eckigen Ball gesehn, gnädiges Fräulein?«
»Nein – Sie ham aber auch Ideen!«
»Logisch zusammengehörige, gnädigstes Fräulein. Das Tanzen ischt eine beschleunigte Fortbewegung. Oder wann und aus welchem Anlaß laufen Sie sonscht so viele Schritte auf dem Parkett umher an einem einzigen Abend? Zur Beschleunigung gehört Erleichterung, ein bißchen Losgelöstheit von dieser Anziehungskraft, die der Newton erfunden hat, und die uns partout aufm Bode habe will! Um der ein Schnippchen zu schlage, muß man sich mit Gas füllen, damit man leicht wird, oder Fett tut’s auch. Fett hat ein geringeres spezifisches Gewicht, und das Runde hopst nun einmal besser als das Spitzige.«
»Einen Hupfwalzer! Damit kann ich mir den Boschhofer vorstellen, Herr Casparius … aber nicht mit mir.«
»Ha, wenn’s durchaus net sein soll, dann nehme Sie eben Ihren undankbaren Grevenhagen, der immer noch net einsieht, wie Sie sich für ihn überarbeiten, und schweben Sie mit ihm dahin in einem Valse Boston, bis ihm die Sinne vergehen! So ganz dahingegeben, mit dem Ernscht des Todes, wie’s jetzt Mode ischt, und mit der Süßigkeit der Empfindung, die sich aus der voraussichtlichen Eifersucht seiner Frau ergibt.«
»Ach ja, übrigens Herr Wichmann, Sie wohn’ doch da gegenüber? Sie müssen sie doch jetzt endlich einmal gesehen haben?«
»Ich glaube nicht. Vielleicht ist sie verreist.«
»Ach nein«, platzte Nathan heraus, »vorigen Sonntag ist das Ehepaar im Park geritten. Ein fabelhaftes Weib!«
»Mit einem schlechten Geschmack, sonst hätte sie nicht eine solche Herbstzeitlose zum Mann genommen.« Der blondlockige Borowski sah dem Trio des Abendlandes aufreizend offen in die Augen. »Oder ist es ihr ums Geld gegangen? Sehr genußreiche Nächte kann sie sich doch nicht versprechen.«
Wichmann wurde weiß wie die Wand. »Herr Borowski! Sie sind bei einer Dame zu Gast, und Sie sprechen von einer Dame. Ich erwarte nicht von Ihnen, daß Sie selbst eine Empfindung dafür haben … Sie sind nicht dementsprechend konstruiert, und für Ihre seelische Struktur können Sie letztlich nicht verantwortlich gemacht werden; keiner springt über seinen eigenen Schatten. Ich mache Sie aber jetzt darauf aufmerksam, daß Sie das angeschlagene Thema in meiner Gegenwart besser vermeiden. Sie könnten sich sonst Unannehmlichkeiten zuziehen.«
»Danke verbindlichst für die Warnungstafel! Der Knappe verteidigt seinen Ritter und seine Dame! Fräulein Hüsch, unsere schöne Gastgeberin, brauchen Sie aber nicht zu verteidigen, Herr, sie kennt doch die Welt und ist nicht eben erst aus einem Mädchenpensionat entlassen. Ihre Bemerkung mit der seelischen Struktur ist aber für einen Moralprediger pikant. Sie heben damit alle sogenannte sittliche Verantwortlichkeit auf? Chacun à son goût?«
»Nur daß der eine einen guten, der andere einen schlechten Geschmack hat. Das ist der Punkt, wo der Hase im Pfeffer liegt und das Niesen anfängt«, bemerkte Lotte Hüsch.
»Über Geschmack läßt sich nicht streiten.«
»Darum habe ich auch nur eine schlichte Feststellung getroffen«, sagte Wichmann noch einmal scharf. »Sie können sich danach richten oder nicht. Die etwaigen Folgen sind Ihnen jetzt bekannt.«
»Sie scheinen mit dem Kontrollreferat gleich beginnen zu wollen. Wie die Alten sungen …! Na, lassen wir das. Aber Duellforderungen sind gesetzlich verboten.«
Borowski hatte die drohende Miene des Regierungsrates Schildhauf bemerkt, der nur darauf wartete, Wichmann in einem entstehenden Ehrenhandel beizuspringen. Als Borowski jetzt klein beigab, widmete sich Schildhauf mit voller Aufmerksamkeit dem Pfropfen, den er einer Weinflasche aus dem Hals ziehen wollte.
Der Wein war gut, Wichmann kam allmählich wieder zu sich. Als die Flaschen einander folgten, begriff er wenigstens, wofür er Fräulein Hüsch wieder einmal einen Überbrückungskredit von fünfzig Reichsmark gewährt hatte. Im Zurückzahlen zu gegebenen Terminen war das Mädchen ja pünktlich. Das mußt man ihr lassen.
»Der Wein und die Frauen,
die Lüfte, die lauen …
du kannst nicht drauf bauen …«
»Wie’n Kater miauen …
am Dickende kauen …«
setzte Borowski fort. »Fangen Sie nur nicht wieder an zu dichten, Nathan, hören Sie auf, eh’ Sie angefangen haben, sonst geh’ ich hoch!«
»Die Frau’n und der Wein,
schenk mir noch mal ein!«
Borowski stöhnte. Fräulein Hüsch warf Schildhauf und Wichmann, die je eine Flasche verwalteten, den Blick zu, der dem Dichter das Gewünschte verschaffte.
»Oh … oh … danke sehr …
ohne Gegenwehr …
trink ich mehr und mehr …«
»Es ist genug, mein Herr!« Borowski lachte. »Ex!«
Man tat ihm Bescheid.
»Die Frauen und die Trauben haben doch eine gewisse Ähnlichkeit, zum Beispiel …«
»Die Frauen und der Wein, meinen Sie, Herr Casparius?«
»Nei, ebe net. Die Frauen sind die Trauben. Bei den Frauen und der Philosophie müsse Sie immer bei Adam und Eva anfange, Herr Schildhauf.«
»Eva, Eva, jawohl!«
»Der Adam ischt auch nicht zu verachte, mein Herr. Ohne den Adam wär’ aus einer Traube niemals ein Wein geworden, verstehen Sie? Das ischt unser Verdienscht, und desweg muß man bei den Traube anfange. Die sind, wie der liebe Gott sie hat wachse lasse, sauer oder süß, weich oder hart … Und da kommen dann wir und fangen an zu keltern. Bei den einen, da wird gleich ein goldgelber Saft draus, der in unserm Glas schillert, aber bei den andern kann sich ein Elefant die Kern in die Füß’ trete, eh’ daß die gekeltert sind, und mer muß allweil noch ein bißle Zucker zusetze.«
»Das ist hierzulande leider überhaupt sehr beliebt.«
»Ich weiß, ich weiß, auch da, wo er nicht hingehört. So eine kleine Fälschung soll beim weiblichen Geschlecht auch vorkommen … man denkt, es isch Natur …«
»… und stößt auf die Kultur,
die Puderquaste fuhr …«
»Ein Glück, daß Ihnen die Reime ausgehen, Herr Nathan! Nur die Puderquaste macht’s nämlich auch nicht! Da schauen Sie sich die Lundheimer an – Ihre Laura Lundheimer …« Fräulein Hüsch biß in ein Lachsbrötchen. Sie aß wenig. Die schlanke Linie erzwang Lebensregeln.
»Wieso ›meine‹ Lundheimer?«
»Das kann sich doch jeder denken … bei den Nachrichten, die Sie immer von dort beziehen?«
Der Angeredete lachte breit. »Ich mache mächtigen Vorgesetzten keine Konkurrenz. Das verstößt völlig gegen meine Auffassungen.«
»Von der Seite her wäre Ihre Tugend allenfalls verständlich, obwohl ich nicht dran glaube.«
»Für was für einen Don Juan halten Sie mich denn, Gnädigste?«
»Der Leporello hat auch gern poussiert. Vom Poussieren allein wird einer noch kein Don Juan, wissen Sie! Sonst hätten wir mehr von der Sorte.«
»Aha! Da kommen Ihre weiblichen Ideale zutage.«
»Klar! Ich mach’ noch Ansprüche.«
Das Gespräch ging in Witzeleien über. Die Weinflaschen wurden leer. ›Cognac‹ erschien auf der runden Tafel.
»Donnerwetter! Sie strengen sich ja an für ihre Amtskollegen! Auf das Wohl unserer Gastgeberin!«
Wichmann stieß mit an und trank das letzte Glas aus. Er war noch vollkommen nüchtern und saß jetzt wie ein angenehm unterhaltener Zuschauer im Theater. Mit seinem eigentlichen Leben hatte alles, was an der Tafel um ihn vorging, nichts mehr zu tun. Als man bei der Flasche echten ›Cognac‹ die Plätze wechselte, setzte sich Schildhauf zu Wichmann und erzählte Anekdoten aus der Corpszeit. Sie waren nicht alle neu, aber der Erzähler war so ehrlich begeistert davon, daß Wichmann bei seinem dröhnenden Lachen aus Freundlichkeit mittat. Korts hatte sich zu den beiden gefunden. Er schien guter Stimmung.
Auf dem Heimweg, den Schildhauf, Wichmann, Korts und Casparius als erste antraten, gelang es Schildhauf, Wichmann allein zu sprechen.
»Wollen Sie nicht in unsern Klub eintreten? Grevenhagen als Pate … von Linck ist sicher auch bereit? Sie lernen dort Menschen kennen. Was wir heute gesehen haben, waren doch nichts als Tierchen. Schade um die Hüsch. Sie ist ein Vollweib. Wie ist es denn mit Korts? Er kommt von der IG-Farben und soll Karriere vor sich haben? Wenn Sie wollen, nehmen wir den noch dazu. Etwas ungewandt scheint er. Also überlegen Sie sich’s erst mal selbst?«
»Was tun Sie denn in Ihrem Klub?«
»Rauchen und Gespräche machen. In Klubsesseln sitzen. Die Herren sind ganz passabel. Ein paar Stabsoffiziere, etwas Journaille und Wirtschaft – ein Prinz … drei Beamte … das ist so die Mixtur, die sich meistens zeigt. Kommen Sie! Sie waren doch bei einer schlagenden Verbindung? Also gut. Wir sprechen noch darüber. Der alte Grevenhagen läßt sich auch ab und zu sehen. – Sie müssen an diese Kreise Anschluß finden, wenn Sie etwas werden wollen. Ich führe Sie einmal als Gast ein.«
»Dafür wäre ich Ihnen dankbar.«
»Abgemacht. – Übrigens, im Vertrauen – sagen Sie: Ist die Hüsch schon engagiert?«
»Sie ist nicht verlobt meines Wissens.«
»Nein, das hab’ ich auch nicht angenommen. Ich meine …?«
»Korts macht Ansprüche.«
»Korts? Zum Piepen. Dabei sitzt er da wie ein Stock und rührt sich nicht. So – Korts. Danke für die Mitteilung. Wie steht denn die Hüsch dazu?«
»Wer soll das bei einer Frau wissen?«
»Ah so … im Bilde.«
Korts und Casparius rückten an einem Straßenübergang zu den beiden auf.
»Gehen wir noch einen Mokka trinken?«
Man einigte sich auf diesen Abschluß, an den alle schon im stillen gedacht hatten, und saß noch bis ein Uhr in einem lichtflimmernden Lokal. Draußen vor den großen Fenstern zogen die Menschen als Schatten auf und ab; eine Kapelle machte Lärm, und die Gäste schwatzten. Damen und Püppchen wechselten Blicke mit Schildhauf und Korts, wenn Ihre Versuche an Wichmann abgeglitten waren. Casparius schnitt heimlich die Grimassen, mit denen er die Bemühungen blau untermalter Augen nachahmte, und reizte den aufgeregten Korts zum Lachen.
Wichmann pries die Vorzüge einer gediegenen Weinstube, und es wurde beschlossen, daß das Kleeblatt vierblättrig sein sollte, wenn es das nächste Mal dorthin ging.