Читать книгу Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich - Страница 11
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ОглавлениеDer frühere Dienstschluß am Donnerstag erlaubte Oskar Wichmann, sein Amtszimmer schon um sechzehn Uhr zu verlassen. Er lief im Korridor Fräulein Hüsch in die Arme, die im Pelzmantel, mit schiefgesetzter Kappe aus der Bücherei kam und eben den zweiten der gefütterten Handschuhe anzog. Das Blitzen des Brillanten verschwand unter der braunen Hülle.
»Herr Wichmann! Hören Sie … wo laufen Sie denn hin? Wollen Sie sich erst umziehen?«
»Wieso umziehen?«
»Tun Sie doch nicht so. Sie ham doch auch die Einladung?«
»Was für eine?«
»Übermäßiges Zieren verrät schlechtes Gewissen. Korts und Casparius kommen auch. Wir überfallen Sie jetzt in Ihrer Bude, und dann gehen wir alle zusammen.«
»Ich hatte nicht die Absicht, heute gleich loszustolpern. Es kann ja ebensogut noch an einem der folgenden Donnerstage sein.«
»Aha! Der Groschen ist gefallen. Recht ham Sie. Aber der Korts will durchaus gehn, weil er gehört hat, daß ich geh’. Sie ham übrigens recht, er ist eifersüchtig, hi-hä … und den Casparius schiebt er vor, damit es nicht so aussieht, als ob bloß er … und so kommt die Herde zusammen!«
»Wenn es Ihnen nicht paßt, Gnädigste, als Massenerscheinung aufzutreten, so wickeln Sie den Faden einfach wieder ab. Sagen Sie, Sie gehn doch nicht, dann bleibt Korts weg, und Kaspar macht sich nicht allein auf den Weg.«
»Ham Sie eine Ahnung. Wenn ein Stier im Laufen ist, hält ihn so leicht nicht wieder etwas auf. Er ist ja schon weg, um sich umzuziehen, und Casparius auch, und ich hab’ gesagt, wir treffen uns ganz einfach bei Ihnen. Wenn Sie uns nie einladen, Sie Geheimniskrämer, müssen wir eben mal mit Gewalt in Ihr geheimrätliches Asyl einbrechen!«
»Der Überfall freut mich natürlich sehr, gnädiges Fräulein, ich habe nur leider gar nichts vorbereitet und nichts anzubieten.«
»Eine Tasse Tee wird’s schon geben. Ein paar Käsestangen helf ’ ich Ihnen auch noch einkaufen. Im übrigen wollen wir uns den Appetit nicht verderben für die Grevenhagenschen Platten. Sind Sie bös?«
Die Augen spielten, während die Wangen sich im scharfen Luftzug röteten. Man ging mit vorgeneigtem Kopf, die Hand am Hut, über den Königsplatz, auf dem der Wind den Schnee verstäubte.
»Ich überlasse mich Ihrer Initiative, Gnädigste. Kaufen Sie ein und erlauben Sie mir, das Paket zu tragen. Den Tee werden wir schon bekommen.«
Martha versuchte ihre Überraschung zu beherrschen, als Wichmann mit einer Dame die geheimrätliche Wohnung betrat. Sie half Fräulein Hüsch aus dem Pelz. Ein myrtengrünes Georgettekleid mit langen, durchsichtigen Ärmeln kam zutage; ein kleines, kostbares Schmuckstück zierte den vollen Hals. Die Toilette vor dem Spiegel mit Kamm und Puder nahm mehr Rücksicht auf die sachlichen Erfordernisse der Schönheit als auf die subjektiven Gefühle Wartender. Wichmann flüsterte Martha etwas von drei überraschenden Gästen und einer Kanne Tee zu. Bei dem Begriff »noch zwei Herren« war die Achtung des Mädchens vor dem Mieter der Geheimrätin offenbar in vollem Maße wiederhergestellt.
Fräulein Hüsch trat in Wichmanns Zimmer ein. Sie blieb stehen und schaute sich ungeniert um, rückte den Armstuhl und den kleinen Tisch ein wenig anders, gruppierte Kissen auf der Couch und brachte eine Vase zum Verschwinden. Wichmann gestand vor sich selbst ein, daß das Mädchen in diesem allem recht hatte. Es schien Dinge zu geben, in denen ihre Hand geschickter war als im Ordnen juristischer Kommentare.
Martha brachte Decke und Tassen. Der Rauchtisch wurde zum Teetisch umdekoriert, und Fräulein Hüsch ließ sich auf der Couch nieder. Sie schlug die Beine übereinander, die Seidenstrümpfe glänzten, der Rücken versank in weiche Kissen, und sie nahm dankend Zigarette und Feuer von dem in sein Schicksal ergebenen Kavalier.
»Ganz nett ham Sie’s hier. Aber das Bild würd’ ich weghängen. Immerzu die Leiche zum Anschauen?«
Wichmann betrachtete die gescholtene Ölkopie der Rembrandtschen Anatomie, die über seiner Couch hing.
»Memento mori, Gnädigste.«
»Nein, furchtbar! An so was denkt man besser nicht. Überhaupt … lauter Männer mit Hüten. Aber ich brauch’ es ja nicht anzuschauen. Durchs Fenster haben Sie einen hübschen Blick.«
Wichmann stand an den Scheiben und sah auf die Straße hinunter. Korts und Casparius kamen eben von der Parkseite in die Kreuderstraße herein, im steifen Hut und guten Überzieher. Casparius war keine üble Figur, wenn er sich gut anzog. Der ungesehen Beobachtende wartete, ob die beiden Fußgänger ihre Schritte seinem Hause zulenken würden, aber sie schienen nicht dergleichen zu beabsichtigen, sondern unmittelbar der Kreuderstraße 3 zuzustreben. Wichmann mißfiel die Aussicht, dem Fräulein Hüsch allein ausgeliefert zu sein; er öffnete das Fenster und pfiff, und als die Kollegen heraufschauten, winkte er.
Korts wurde wieder einmal rot, Casparius lachte, dann folgten die beiden dem Zeichen und kamen.
»Wir haben das nicht ernst genommen«, erklärte Korts im Klubsessel. »Sie haben sich eine Hausfrau zugelegt?«
Wichmann war versucht zu antworten, die Hausfrau habe sich ihn zugelegt, aber er schluckte die Bemerkung, die ihm schon auf der Zunge war, hinunter und lächelte nur nichtssagend. Fräulein Hüsch goß Tee ein. Die Käsestangen fanden bei Casparius lebhaften Absatz.
»Jetzt bin ich neugierig …«
»Ha, des sind mir alle, Gnädigschte. Der Unterschied ischt nur, worauf sich unsere Neugier richtet. Für mich zum Beispiel wird es entscheidend sein, ob ich Sardelle krieg’ oder Schinken. Bei Schinken bin ich guter Laune und bei Sardelle schlechter, und mein Urteil über das Haus Grevenhagen wird nicht unwesentlich von dieser Frage abhängen.«
»Ich möchte mal wissen …«
»Na, was denn, liebes Fräulein Hüsch? Drei Ritter sind pflichtgemäß neugierig zu wissen, worauf eine so erfahrene Dame denn noch neugierig sein kann?«
»Ham Sie den Musa auf dem Ball gesehen?«
»Ha freilich. Ich hab’ immer drauf gewartet, daß der Dirigent ein Zeiche mit dem Taktstock geben würde und daß der Musa dann zu singe anfängt. ›Weh … wehe … Verderben … ‹ oder was sonscht ein Rachegeischt in der Oper singen kann. So ung’fähr.«
»Was der für Augen gemacht hat! Getanzt hat er nicht ein einziges Mal. Sie übrigens auch nicht, Herr Korts. Worauf läßt das schließen?«
»Auf männliche Überlegenheit, gnädiges Fräulein.«
»… oder auf Minderwertigkeitskomplexe und rasende Eifersucht …«
»Ach? Von dem Musa bilden Sie sich auch ein, daß er in Sie verliebt ist?«
»Höflich sind und bleiben Sie, Herr Korts, das muß Ihnen der Neid lassen. Auf ein bißchen mehr Anstand können Sie aber ruhig trainieren, wenn Sie jetzt zu Grevenhagen hinübergehen wollen.«
»Und Sie können ein bißchen auf Dame lernen.«
»Was soll das heißen?«
»Daß sich eine Dame nicht so hinsetzen würde, wie Sie hier sitzen.« Korts Augen hatten sich auf die Knie gerichtet, die von den Georgettezipfeln weit hinauf freigegeben waren.
»Sie sind wohl verrückt, mir Derartiges zu sagen? Was fällt Ihnen denn eigentlich ein? In Ihrer Wohnkultur daheim hat es vermutlich keine Couch gegeben, auf der sich eine Dame niederlassen könnte?«
Korts sprang auf. Sein Gesicht war puterrot bis zu den Schläfen. »Fräulein Hüsch …!«
Das Mädchen blies den Rauch der Zigarette herausfordernd in die Luft. Einen Augenblick war es, als ob Korts sich auf sie stürzen würde, dann aber wandte er sich um und trat zum Fenster. Seine Hände verschränkten sich auf dem Rücken.
»Das bereuen Sie noch …«, sagte er, ohne sich umzusehen.
Fräulein Hüsch schlug die Asche ab und lächelte vor sich hin.
»Heut probier’ ich mal, ob Grevenhagen wirklich für alle anderen Frauen unempfindlich ist. Jeder Typ wird jedem Mann schließlich auf die Dauer langweilig …«
Korts kam vom Fenster zurück. »Gut, daß Sie das selber einsehen. Eben ist übrigens Ihr Musa drüben durch die schmiedeeiserne Pforte gewandelt.«
»Ein interessanter Mensch, finden Sie nicht auch, Herr Wichmann? Wieso verkehrt er eigentlich bei Grevenhagen? Durch den Dienst oder durch den Klub?«
»Das weiß niemand. Aber Sie finden auch, daß er merkwürdig ist, nicht wahr? Daß sich Grevenhagen einen solchen Salonbolschewisten hält, das ist doch erstaunlich!«
»Ha, das beschte wird sein, wir beobachten das Tun und Treibe von diesem verdächtige Subjekt einmal aus persönlicher Nähe … Ihre Käsekringle waren wirklich net schlecht, Fräulein Hüsch, aber sie ware halt und sind nicht mehr, und so wolle wir auch einmal gucke, was es jetzt gegenüber zu speise gibt! Wichmann! Werfe Sie sich in ihre Galagarnitur. Mir gehe solang ’nüber in den geheimrätlichen Salon. Aber beeile Sie sich!«
»Ja, gehen wir. Aber Musa zieht bestimmt die Sardellenbrötchen vor. Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Casparius, daß Sie für den Schinken zu spät kommen.«
Die Gesellschaft entschwand in den Empiresalon. Wichmann zog sich um.
Als er fertig und dabei war, Fräulein Hüsch in den Mantel zu helfen, hörte er Casparius brummen: »Sardelle und Sumpfblüte …«
Wichmann warf einen raschen Blick auf Casparius, aber als der andere ihm offen begegnen wollte, machte er eine halbe Wendung, um seinen Hut von dem Ständer zu nehmen und mit scheinbarer Aufmerksamkeit daran herumzudrücken, bis er gut saß.
Nach dem kurzen Weg durch die Kälte legten die Kollegen in der warmen und hell erleuchteten Diele des Hauses Kreuderstraße 3 ab; leise Stimmen und Schritte waren aus den Empfangsräumen der vorderen Front zu hören, und ein Diener ging mit einer großen abgegessenen Platte vorbei.
Die Kollegenschaft fühlte sich von dem Schimmer der Erwartung berührt und auf eine höhere Stufe angenehmen Lebensgefühls gehoben.
Fräulein Hüschs gute Figur, der grüne Georgette, ihr kleiner passender Seidenturban, machten als Gesamteindruck keinem ihrer Kavaliere den Vorwurf, daß er mit einer unansehnlichen Dame gekommen sei. Korts folgte ihr in einer Haltung, als ob er in den Kampf ziehe.
Wichmann beobachtete noch, wie die beiden in den ersten Salon eintraten, als er selbst angesprochen wurde und ihnen nicht länger nachsehen konnte.
Schildhauf hatte ihn aufgespürt. »Kommen Sie mit mir, Wichmann, ich bringe Sie durch das Getümmel zur Hausfrau …«
Die beiden Herren gingen ohne Eile durch das Zimmer mit den dicken Teppichen, in dem das Büfett aufgestellt war. Hier verloren sie zwischen kommenden und gehenden Gästen den Kollegen Casparius, der Toasts mit Schinken entdeckt zu haben schien. Im Herrensalon flackerte wieder das offene Kaminfeuer, das Wichmann schon kannte. Rotes Leuchten und knackendes Knistern waren in der Dämmerung noch stimmungsvoller als am Morgen. In den Sesseln saßen ansehnliche Herren mit markanten Köpfen; sie betrachteten das Abglühen edler Zigarren und stießen Rauch aus, ehe sie ihre Bemerkungen mit entschiedener Stimme vorbrachten. Schildhauf und Wichmann grüßten Herrn von Linck, der sichtlich erfreut dankte.
Der Regierungsrat leitete den Assessor weiter zu dem Musiksalon, dessen blankes Parkett nicht viel mehr als den schwarzglänzenden Flügel und einige zierliche Stühle trug. In der Ecke stand eine große schlanke Vase mit Orchideenzweigen, deren jeder das Monatsgehalt eines Regierungsassessors gekostet haben mochte. In unscheinbaren Farben und seltsamen Formen lebten diese Blüten, deren Seltenheit das menschliche Herz reizte.
Damen und einige jüngere Herren standen in kleinen Gruppen umher. Seide und kostbares Tuch flossen um gepflegte Gestalten. Die Kerzenbeleuchtung schmeichelte den Farben und Formen durch ihre milde Helle und belebte sie durch den Wechsel von Schatten und Schein. Das gedämpfte Licht erlaubte es, durch die dunkel scheinenden Fenster noch hinauszusehen zu Bäumen und mondflimmerndem Schnee.
Als Wichmann bei der Frau des Hauses die Grußform des Handkusses leistete, wagten seine Lippen nicht, ihre Hand dabei zu berühren. Er sah das abwesend-höfliche Lächeln ihrer Lippen, das sie ihm fremd machte, und hörte ihre dunkle Stimme, mit der sie zu anderen wenige gleichgültige Worte sprach.
Der Flügel wurde geöffnet. Eine Künstlerin entlockte ihm die tänzerische Anmut einer Mozartsonate, aber das waren nicht die Klänge, in die Marions Bild sich lösen konnte. Es war matter und geheimnisvoller. Sie trug auch heute ein dunkles, ganz geschlossenes Kleid. Ihr Haar hatte einen nicht beschreibbaren Schimmer, ihre Hautfarbe war wie Elfenbein. Die Damen und die Herren sprachen zu ihr, und sie folgte ihren Worten mit dem gleichbleibenden Lächeln, das ihre Traurigkeit verdeckte. Selten antwortete sie; ihr »Ja« und ihr »Nein« hatten einen nachdenklichen Klang, so, als ob immer noch eine Frage nach dem Sinn alles Sprechens zurückbleibe.
Wichmann stand blaß neben Schildhauf an der seidenbespannten Wand und begehrte mit einem Blick, in den sich sein Blut zusammendrängte, die einzige Bewegung, die sie ihm noch einmal enthüllte. Aber die Herrin des Hauses war von unsichtbaren Schilden umgeben.
»Zum Wahnsinnigwerden«, sagte Schildhauf. »Sie ist die einzige Frau, die einen modernen Mann noch verrückt machen kann. Sehen Sie sich an, was darum herumsteht – nichts als Fabrikware, hundertfach auswechselbar. Aber sie ist einmalig. Ich kann Grevenhagen verstehen!«
Durch die Tür zum Herrensalon, die halb geöffnet war, wechselten Gäste herüber in das Musikzimmer. Herr von Linck zeigte, daß es ihm eine Ehre war, mit Marion Grevenhagen eine Unterhaltung zu führen. Sie sah den alten Herrn voll und lächelnd an, aber auch ihm gelang es nicht, die Luft zu durchdringen, die zwischen ihr und allen anderen lag. Wichmann dachte daran, daß sie ihn um einen Tanz gebeten hatte, und er war nicht gekommen.
»Haben Sie Musa gesehen?« fragte er Schildhauf leise und heiser.
»Den harmlosen Irren? Er war vorhin da. Vielleicht ist er schon wieder gegangen. Kennen Sie ihn?«
»Er arbeitet in der Abteilung II.«
Die beiden Herren wurden aus ihrer Zurückgezogenheit aufgestört. Bekannte des Regierungsrates aus dem diplomatischen Dienst zogen ihn und Wichmann in den Kreis.
Man sprach von Theater und Konzert und einigen neuen Büchern. Grevenhagen selbst zeigte sich und machte eine spöttische Bemerkung über Emil Ludwig.
»Oh, lieben Sie historische Romane nicht, Herr Ministerialrat?«
»Ich will Ihnen das Vergnügen an dieser Art Geistigkeit nicht verderben, gnädige Frau, ich möchte Sie nur darum bitten, mich als Mann davon zu beurlauben.«
»Aber wie …?« Die Dame mit dem Pagenkopf wurde interessiert. »Glauben Sie nicht, daß gerade der historische Gegenstand des männlichen Interesses besonders würdig ist?«
»Der Gegenstand ohne Zweifel. Aber die zumeist recht intime Behandlungsart entspricht doch mehr dem Boudoir als dem Klubsessel.«
»Oh? Aber auch Herren können sich doch geistig nicht wie unter Denkmälern bewegen. Auch die bedeutenden Menschen waren aus Fleisch und Blut!«
»… und hatten nicht auch sie ein Recht auf Diskretion?«
»Wer das allgemeine Schicksal bestimmen will, lebt auch öffentlich und darf nicht klagen über das öffentliche Interesse.«
»Der Gedanke ist sehr erwägenswert, vielleicht ist er sogar richtig. Die großen Menschen dürfen nicht klagen. Aber vielleicht vermögen einige der Kleineren freiwillig haltzumachen vor dem Persönlichen.«
»Ich glaube nicht, daß man irgendwo auf Erkenntnis verzichten sollte.«
»Sie sind der Literatur und dem intellektuellen Interesse ergeben. Ich darf mich darin nicht mit Ihnen messen, gnädige Frau. Ich sattle viel zu häufig das Roß und sprenge in die Gedankenlosigkeit hinein.«
»Reiter und Pferd sind nichts Ungeistiges«, sagte Oskar Wichmann in die entstehende kleine Pause hinein. »Ich glaube, daß sich die Begegnung des feinstempfindenden und stolzesten der Tiere mit dem Menschen unter allen Sportarten als etwas Besonderes hervorhebt. Die Einheit, die sich aus Wissen, Willen, Beherrschung und körperlicher Kraft ergibt, kann zu einem Bildwerk geläuterter Kultur werden. Bei dem Anblick eines vorzüglichen Reiters auf vorzüglichem Pferd habe ich immer noch am ehesten die Empfindung, mit der die Griechen einen schönen Körper und die Geistigkeit einer schönen Lebensführung zusammen geschaut haben mögen.«
»Das haben Sie ausgezeichnet gesagt!« rief von Linck.
»Grevenhagen, unser junger Herr Wichmann ist wert, Ihre Grauschimmel besichtigen zu dürfen.«
Das Gespräch kam auf diese Tiere und Wichmann erfuhr, daß ihr Kauf in Kennerkreisen Staub aufgewirbelt hatte. Die Dame mit dem Pagenkopf erkundigte sich anschließend nach Tips für die Rennsaison des nächsten Frühjahrs, und zwei Herren wußten über geheime Hoffnungen verschiedener Ställe Auskunft zu geben.
Marion löste sich aus der Unterhaltung, an der sie nur durch ihre Anwesenheit teilgenommen hatte, und ging langsam durch die offenstehende Tür nach dem Salon, in dem das Kaminfeuer brannte, und von dort weiter in den ersten Empfangsraum mit dem Büfett. Sie hatte nur ein einziges Mal auf Oskar Wichmann gesehen, fragend, fast befremdet.
Und war doch im Tanz die Seine gewesen.
Der junge Mann stand noch im Kreise Grevenhagen gegen über. Das war der Herr, der durch Geburt, durch Reichtum und Erfahrung besaß, was Wichmann immer unerreichbar blieb, und er konnte mit grauem Haar herablächeln auf den Jüngeren, den er nicht zu fürchten brauchte.
Oskar Wichmann erinnerte sich, daß die gesellschaftliche Übung es erlaubte, an einem »jour fix« ohne Zwang zu kommen und zu gehen. Als das Gespräch die ersehnte Pause machte und die Gruppe der Sprechenden sich auflöste, ging er für sich allein durch die Flucht der ineinander laufenden Räume zurück. Schildhauf war bei von Linck hängengeblieben.
Im Salon am Kamin schwoll ein dröhnendes Lachen alter Herren auf, und der Vorübergehende bemerkte Fräulein Hüsch, die einen Kranz betagter und vermögender Verehrer gefunden hatte. Sie saß in einem kleinen Sessel, kühn das Knie entblößend, und rauchte. »Wenn Sie den Kuß als ›Drucksache‹ auffassen wollen, hat er mit Aktenbündeln allerdings etwas zu tun«, sagte sie eben.
Korts hatte sich als Zuhörer dieses Schauspiels einen Stehplatz gesichert, und Wichmann schätzte, daß dieser Gast dem Hausherrn heute allein eine halbe Kiste Havanna kostete.
Am Büfett bewegte sich Casparius. Es war ihm gelungen, den Diener von einer Flasche Likör zu verdrängen und der Dame des Hauses selbst einzuschenken. Ach, sieh an, der Schwabe und die Sumpfblüte!
Wichmann wußte nicht, warum er auf einmal einer heiteren Stimmung fähig wurde. Er übernahm es, zu Marion Grevenhagen und dem Kollegen Casparius zu gesellen, und er wagte es, zu ihr auf fröhliche Art zu sprechen.
»Gnädige Frau, Sie haben heute den vielleicht größten Erfolg Ihres Lebens davongetragen. Ein Feind der Frauen und der Wunderblumen hat sich Ihnen offenbar unterworfen. Er bringt seine Huldigung mit dem Besten, was sein Herz kennt, mit dem Geist und der Süße des stummen Getränkes, und wenn es möglich wäre« – Wichmann schaute suchend über die raffiniert garnierte Platte –, »so wird er Ihnen noch ein Schinkenbrötchen kredenzen, das Symbol seiner schlichten und zuverlässigen Ergebenheit.«
Frau Grevenhagen sah erstaunt und nicht ohne Interesse auf die Freunde, als erwarte sie, daß dieser Faden weiter ausgesponnen werde.
»Wichmann, Sie haben das gut g’sagt, und ich bitte mir zu gestatten, gnädige Frau, daß ich Ihnen das beschte Schinkenbrötchen verehre.« Casparius hob den Teller mit der Rechten, legte die Linke ans Herz und machte einen tiefen Bückling, ohne im mindesten zu zittern. »Die Herrlichkeiten dieser Welt sind vergänglich, die herrlichstenam schnellsten, aber ich bitte untertänigst darum, den Gedanken an meine Bewunderung und Ergebenheit wenigstens so lange festzuhalten, bis dieses Schinkenbrötchen zwischen Ihren Perlenzähnen verzehrt ischt. Dann mag vergange sein, was vergange ischt – Schall und Rauch –, und ich werde gern in den Staub meines unbekannten Erdendaseins zurücksinken.«
Frau Grevenhagen nahm die sonderbare Huldigung freundlich an. Sie aß den leise krachenden Toast und den rosa Schinken mit seinem blütenweißen Fettrand.
»Sind Sie schon lange in unserer Stadt?« fragte sie.
Casparius schob Wichmann die Antwort zu.
»Erst seit einigen Wochen, gnädige Frau.«
»Habe ich Sie reiten sehen?«
»Ich habe nicht zu hoffen gewagt, daß Sie sich noch daran erinnern …›Reiten‹ ist auch zuviel gesagt. Ich saß stumm und steif auf meinem Fuchs und sah das Bild, das ich niemals vergessen werde! Die Grauschimmel in der Morgenfrühe.«
»Ja, es sind schöne Tiere. Reiten Sie gern?«
»Mehr gern als gut. Aber ich werde weiter üben.«
»Es gefällt Ihnen in unserer Stadt? Haben Sie schon vieles kennengelernt?«
»Nicht viel mehr als das Ministerium, den Park und die Kreuderstraße.«
»Ach ja, Sie wohnen auch hier.«
»Gegenüber, gnädige Frau«, Wichmann glühte unter Frau Grevenhagens aufmerksamem Blick, »bei Frau Geheimrat von Sydow.«
»Es freut mich, wenn es Ihnen in unserer Stadt gefällt.«
Die Dame des Hauses schien den jungen Herrn damit aus dem Gespräch zu entlassen. Sie führte die Hand mit dem feinen Porzellanteller zum Büfett, um den leer gegessenen abzustellen, da lösten sich ihre Finger scheinbar einen Augenblick zu früh. Wichmann griff hilfsbereit zu und faßte den Teller, den die andere Hand noch nicht losgelassen hatte. Durch das Porzellan ging eine Schwingung, die getrennte Hände für die Zeit eines Herzschlages verband. Wichmann durchfuhr das Empfinden, Bewegung aus ihrer Bewegung empfangen zu haben, so stark, daß seine Entschuldigung nur noch ein Stammeln war.
Die Hausherrin entschwand seinem Gesichtskreis und widmete sich ihren anderen Gästen.
Auf die Schulter des Assessors legte sich eine Hand. »Wichmann, Menschenskind … bleibe Se no voll bei Verstand.«
Da Casparius satt war und Wichmann nicht hoffte, mit Frau Grevenhagen noch einmal ins Gespräch zu kommen, ließen sich die beiden Kollegen die Mäntel geben und gingen. Der harte Schnee des Gartenweges schrie unter ihren Schritten. Die Schatten der Bäume fielen wirr, durchlichtet vom Mond, von erleuchteten Fenstern und vom Laternenschein. Als sich das Rosentor mit einem Klicken schloß, bemerkte Wichmann einen Herrn von schmaler Figur, der am Zaun gelehnt haben mußte und jetzt mit schnellen Schritten die Kreuderstraße hinunter der Stadt zu lief. Als Wichmann Casparius mit einer Kopfbewegung darauf aufmerksam machte, nickte der Kollege gleichmütig.
»Der viel besprochene Dr. Musa. Sardelle, Sardelle … schmeckte scharf und ischt nix dran.«
Wichmann nahm sich den schwäbischen Philosophen mit hinauf in seine Bude; er fürchtete sich vor dem Alleinsein. Eine Flasche »Cognac«, deren Etikett die französische Herkunft bestätigte, kam aus dem Renaissanceschränkchen hervor. Die beiden jungen Männer ließen sich auf den Sesselplätzen nieder und blieben noch bis Mitternacht zusammen, ohne ein Dutzend Worte geredet zu haben. Diese Stunden aber waren für ihre Freundschaft bindender als alles, was sie vorher miteinander erlebt und gesprochen hatten.
Wichmann hatte das Gefühl, einen Menschen zu finden, auf den er sich verlassen konnte und den er nicht zu hassen und nicht zu verachten brauchte, wenn er an Marion Grevenhagen dachte.
Denn Wichmann war es zumute wie damals, als er zum erstenmal allein eine weglose Wand anging, als er ausbrechende Steine in der haltsuchenden Hand fühlte und nicht wußte, ob er je weiterfinden konnte. Marion war ihm fremd und fern gewesen an diesem Abend. Das Haus beschützte sie. Sie war die Gemahlin Grevenhagens, und Oskar Wichmann war ein sehr kleiner Regierungsassessor. Er wollte niemals mehr dieses Haus betreten, niemals mehr … wollte … Was wollte er? Er hätte ihre Füße küssen können, aber sie wußte nur, daß er nicht gekommen war, als sie ihn um einen Tanz gebeten hatte. Er hätte sie mit Blumen überschütten mögen, aber sie wohnte in den Räumen, in denen jedes Zeichen seiner Liebe das Verbrechen an einem Heiligtum war.
Heiligtum? Vielleicht war sie eine Dirne, die an Alfons Musa schrieb? Alphonse …
Oskar Wichmann schenkte mit zitternder Hand dem Freunde ein. Alphonse?
Er schlief nicht, wenn er daran dachte.
Um sich selbst zu entkommen, ging er von nun an häufig des Abends zu Casparius in die winzige Wohnung mit den schreienden Drillingen, bewunderte die Stupsnäschen und die wachsenden Blondhaare und tröstete die kleine strickende Frau Casparius, wenn sie weinend aufstampfte, weil ihr Mann nie ein ernstes und imponierendes Wort sprach. »Immer bloß die Witze! Ich mag nimmer! Ich hab’ doch einen Mann g’heiratet und keinen Clown. Er ischt nie wie die anderen, wie Sie und der Herr Regierungsrat Korts! Und er kommt zu nix, obwohl er doch g’scheit g’nug wäre!« Die braunen natürlichen Locken flogen um die gewölbte Frauenstirn, und die zierlichen Nasenflügel öffneten sich und zogen sich zusammen; Frau Anna Maria Casparius war reizend, wenn sie zornig wurde.
»Ja«, gestand der Gatte zu, »ein fliegender Holländer, der mit seiner Senta ins Meer hüpft, um in Gloriole himmelwärts zu steigen, bin ich halt net – sondern nur ein treuherziger Assessor. Aber für die drei Mädle ischt’s vielleicht besser so, und mir habe ja unsere Oper, um die übrigen Gefühle abzureagieren.«
»Da komm’ ich auch nie hin.«
»Ja, willscht du denn? Ich nehm’ dich beim Wort, Anna Maria, du mußt eine Hüterin bestellen für diese Wiege und mit mir in die Oper gehen. Der Herr Wichmann kommt auch mit, gelt, daß du einen Kavalier hascht neben deinem altbekannten Schimpansen.«
Wichmann erbot sich sofort, die Karten zu besorgen.
Wie Knospen im lauwarmen Regen sprangen, so schossen bei dem Gedanken die Hoffnungen und Pläne seiner freigegebenen Phantasie. Er wurde lebhafter und liebenswürdiger als je, beugte sich nochmals über die Drillinge, die sich in den Schlaf schrien, und ließ sie seine Finger fassen. Er erzählte Frau Anna Maria von der Herrlichkeit einer Opernfestvorstellung und beriet an Stelle des Gatten mit ihr, welches Kleid sie für den Abend wählen solle. Er war bereit, sich abends um sechs Uhr anzustellen, um morgens um acht Uhr die Karten zu erhalten. Es war kein Zweifel, daß er eine Premiere oder ein berühmtes Gastspiel ausfindig machen würde, bei dem sich Bühne und Publikum in ihrem Glanze präsentierten. Im Anschluß an die Vorstellung wollte er das Ehepaar Casparius zu einem Souper bei Hattig einladen, dem nur mit ehrfürchtigem Schauer genannten teuersten Restaurant.
Frau Anna Maria war rot und blaß geworden, denn ihr unschuldiges und gerades Gemüt konnte nichts anderes denken, als daß es dem Kollegen des Gatten ein solches Glück war, ihr eine Freude zu bereiten. Wichmann aber war selig in ungehemmten Träumen von jenem Opernabend, an dem er Marion wiedersehen, an dem er auf irgendeine Art ein Wort, ein Zeichen seiner Empfindungen zu ihr gelangen lassen wollte. Seine Seele schwebte über der Erde und wollte die anderen mittanzen und mitfliegen lassen.
Der abgeschnittene Teil seines Gehirns, in der der graue Verstand wohnte, hatte versucht, ihm sein Verhalten lächerlich zu machen. Konnte er nicht jeden zweiten Donnerstag, wenn es ihm beliebte, das Haus Kreuderstraße 3 aufsuchen und neben Orchideensträußen und flackerndem Kaminfeuer die Geliebte sehen und sprechen? Warum war er nicht mehr hingegangen? Warum zermarterte er sein Herz im hundertsten Nachkosten einer Enttäuschung, im tausendsten Wiederholen einer wütenden Eifersucht, im immer neuen Zerschmelzen vor einer nicht löschbaren Flamme? Warum nannte er Marion eine Dirne, eine Hochmütige und Hysterische, warum peitschte sein Herz ihn selbst als einen Philister und im Staube schon vertrockneten Bürokraten, warum bat er den Teufel bei jedem Einschlafen noch einmal um den Traum jenes Tango … jenes einzigen Tango, der alles gewesen war – und auf den nichts gefolgt war als Mißverständnis, Entfernung, Bangen und Marter, Loswollen und nicht Loskönnen – gar nicht mehr Loswollen? Was wollte er mit seinem Streben um das nie zu Erlangende, und was glaubte er in einer Opernvorstellung zu erleben, wenn Marion in ihrem Hause stumm und unnahbar geblieben war? Er war ein Narr, ein Narr.
Aber die Nerven gehorchten der Phantasie und nicht dem Verstande. Auf dem Heimweg von des Freundes Casparius kleiner Wohnung blieb Oskar Wichmann an den Litfaßsäulen stehen und beruhigte sein Herz mit der zum dritten Mal durchgelesenen Notiz, daß der berühmte ausländische Tenor an einem einzigen Abend auftreten und den Radames in »Aida« singen werde. »Erhöhte Preise … Beginn des Vorverkaufs am …«, also in drei Tagen. Es war noch Zeit. Der Tenor sang an einem einzigen Abend! Ihr himmlischen Mächte, das war ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem die Familie Grevenhagen nicht fehlen konnte. An einem einzigen Abend! Hatte er nicht schon in der Zeitung der Geheimrätin von dem kommenden Ereignis gelesen? Er mußte morgen beim Frühstück Martha bitten, ihm das Blatt noch einmal herauszusuchen. In drei Tagen begann der Vorverkauf. Wenn Wichmann morgen etwas früher aufstand, konnte er sich schon mit dem Pförtner des Opernhauses besprechen. Vielleicht konnte er morgen schon in die Oper gehen, gleich, was gegeben wurde, und bei dem Logenschließer die Stammplätze der Familie Grevenhagen erfahren. Natürlich waren sie im ersten Rang.
Hier stand noch eine Litfaßsäule. »Festvorstellung anläßlich des einmaligen Auftretens … erhöhte Preise … Stamm- und Freikarten ungültig …«
Wichmann konnte den Text schon auswendig. Stammkarten ungültig … aber wie er Justus Grevenhagen beurteilte, sorgte dieser Hausherr und Gatte dafür, daß die gewohnten Plätze auch an diesem Abend ihm und seiner Familie zur Verfügung standen.
Wichmann kam pfeifend nach Hause, nahm am Abend noch ein Bad, stellte den Wecker eine Stunde früher und dachte an den Blumenladen in der Residenzstraße, an dieses Fenster mit den erlesensten Erzeugnissen der Gewächshäuser. Zartfarbene Teerosen sollten es sein, sich entfaltende Knospen an langen weichen Stielen – denn der Tango hatte sich »Gelbe Rosen« genannt. Er würde jetzt jeden Tag an dem Fenster der Blumen vorübergehen und träumen, wie er als Junge geträumt hatte.
Mit dem Assessor ging abermals eine Veränderung vor. Er wurde wieder arbeitslustig, die Gedanken drängten sich ihm zu, und Entscheidungen wurden ihm leicht; seine Ansichten brachte er gegenüber den Kollegen entschiedener vor als bisher. Bei der Tafelrunde in der »Stillen Klause« machte er Fräulein Hüsch nicht abreißende Komplimente. Er nannte ihren Hut sehr chic, bekrittelte den Friseur, der ihre Haare nie so vorteilhaft lege, wie sie gewachsen seien, und versicherte ihr, daß sie sich als Dame niemals in den öden Dienstbetrieb einzufügen brauche; er werde ihr den Entwurf für das neue Bücherverzeichnis machen, den Grevenhagen verlangt hatte. Den Inspektor Baier hörte Wichmann mit Geduld an und entzückte ihn dadurch, daß er das Ergebnis der herbstlichen Fußballkämpfe noch im Kopfe hatte und über die Frühjahrsaussichten von Hertha BSC zu diskutieren bereit war. Borowski schien es für zweckmäßig zu halten, sich mit Grevenhagens »rechter Hand« zu vertragen. Der einzige Kollege, mit dem der Assessor in einem gespannten Verhältnis stand, war Korts, aber der Gegensatz wurde, durch gegenseitige Achtung und Klugheit gebändigt, nie in ein Wort gefaßt.
Von der Liste der Ernennungen war häufig die Rede, und sowohl Wichmann selbst als auch die ganze Kollegenschaft hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß Wichmann als das »Wundertier des Abendlandes« zu den Glücklichen zähle. Ministerialdirektor Boschhofer hatte an der Denkschrift zu den Etatsverhandlungen besonderes Wohlgefallen gefunden.
Wichmann stand regelmäßig früh auf und freute sich immer wieder auf den Weg, der ihn an der prächtigen Blumenausstellung und der Vorhalle des Opernhauses vorbeiführte. Der Pförtner erwiderte seinen Gruß und versicherte von Zeit zu Zeit, daß die Zigarren ausgezeichnet gewesen seien. Wichmann aber wußte in der Schublade seines löwenbeinigen Schreibtisches die drei Karten, auf denen stand: Erster Rang, links, erste Reihe. Die Grevenhagenschen Stammplätze befanden sich rechts, Loge sieben, wie ihm der freundliche grauhaarige, gebückte Logenschließer berichtet hatte. Die junge Frau Grevenhagen pflegte auf dem Stuhl Nr. 1 zu sitzen. Der Operndiener hatte diese zweckdienliche Mitteilung ohne Wimpernzucken und mit einer so sachlichen Miene gemacht, daß sich Wichmann seine Verlegenheit bei der Frage ruhig hätte sparen können.
Ein Dutzend Teerosen waren vorbestellt. Der begleitende Umschlag ohne Namen und Absender, nur mit der Bezeichnung von Platz und Datum, war bei dem Büro des Geschäftes abgegeben.
An dem Tag, an dem dies geschehen war, hatte Oskar Wichmann in einer dienstlichen Besprechung bei seinem Vorgesetzten die Augen gesenkt. Die eine Sekunde, in der er dem hellen Blick des anderen nicht mehr standhielt, verriet ihm, daß seine Stellung zu dem Ministerialrat Justus Grevenhagen nicht mehr dieselbe war. Scham und Auflehnung waren im Mantel der Verborgenheit über ihn gekommen. Als er das Zimmer verließ, schaute ihn das Lichtgrau der Tür, die er hinter sich schloß, fremd an. Der düstere Korridor schien böse zu glotzen, und die kahle Wand, die kahlen Möbel seines Dienstzimmers waren ihm feindlich. Aber er versenkte alle diese Gesichter der Pflicht in den unteren Wassern des Bewußtseins und ließ die Wellen der Phantasie darüber hinwegspülen.
Als der 24. Februar 1929 zum Abend dunkelte, war es noch schneidend kalt. Die Feuerwehren waren herbeigerasselt, um eingefrorene Enten und Schwäne auf den Parkteichen zu befreien. Die Herren stellten die Pelzkragen, und die Damen verbargen die Nasenspitzen in Tücher, während ihre seidenbestrumpften Beine unterhalb der kurzen Röcke in der Eisluft rot anliefen. Beim Gehen zogen sich die Schulternzusammen, und Muffe waren aus Kisten und Schränken hervorgeholt worden.
Wichmann hatte für den Besuch der Oper ein Mietauto bestellt, dessen Form etwas neuer und eleganter war als die der üblichen Taxen. Er bestieg es beizeiten und gab die Adresse der Familie Casparius an. Frau Anna Maria hatte liebevoll einen Imbiß vorbereitet, den man zusammen einnahm, während der Wagen unten wartete. Frau Anna Maria sah in ihrem einfachen Seidenkleid, mit den glühenden Wangen wie die Freude und Erwartung selbst aus. Die Drillinge schliefen schon unter der Obhut der Nachbarin, der der übrigbleibende Teil der belegten Brötchen überlassen wurde. Die Herren knöpften die Mäntel zu, Anna Maria verabschiedete sich von ihren drei Lieblingen, dann stieg man gemeinsam die Treppe hinunter, an den töricht gemusterten Glasfenstern vorbei, und schlüpfte in das wartende Auto. Frau Anna Maria begann sich sicher zu fühlen wie die Prinzessin im Zauberland.
Ihre helle Fröhlichkeit steckte Wichmann an. Er floh in das Arglos-Unverbindliche ihrer Festerwartung und ließ sich gern vorplappern, daß sie heute wieder einmal, wie einst als Backfisch, die Sekunden gezählt habe bis zum Beginn des großen Abends. Casparius summte »Hoolde – A-ii-da!« und hoffte, daß der fremde Tenor sich seiner südlichen Sangessprache nicht werde berauben lassen zugunsten holzhackerischer Konsonanten. »Wichmann, es ischt wahr … liebend dahinschmelzen kannscht du nur auf ›A‹ und ›O‹ und nicht auf ›Str‹ und ›Pfr‹… Vielleicht liegt’s daran, daß wir Deutschen niemals die rechten Troubadoure geworden sind.«
Der Angeredete konnte sich nicht enthalten, heimlich an den geliebten Klang zu denken. Marion … Aber »Grevenhagen« war voll Konsonanten, und das Wappen dieses Geschlechts war ein Zaun, der eine Rose einhegte.
Der Wagen federte gut, wenn er auch nicht so leicht dahinglitt wie ein gewisses dunkelfarbiges Kabriolett. Die Residenzstraße wurde erreicht. Wagen hinter Wagen fuhr vor, schnittige Formen, viele ausländische Wagen waren darunter. Die Fülle der Menschen, die eleganten Abendmäntel, kunstvoll gelegte Locken, blitzende Ohrringe und Diademe verrieten schon an den Treppenstufen des Opernhauses den »großen Tag«. An der erleuchteten Kasse stand »Ausverkauft«. Unverbesserlich hoffnungsfreudige Herren, schmollende Damen warteten noch bei den uniformierten und betreßten Dienern auf den Glücksfall frei werdender Plätze. Wichmann verteilte die erworbenen Karten an seine beiden Gäste; Anna Marias Augen wurden groß, und ihre Lippen bildeten die reizend runde Öffnung einer Seerose, auf die ein Fisch überraschend zuschwimmt.
»Ha … no! Aber Herr Wichmann! Erster Rang! Das könne mir doch gar net annehme?«
»Nehmen Sie es ruhig an, gnädige Frau. Ich bin oft genug Ihr Gast gewesen. Im übrigen: für die Kollegen zu bluten ist eine Art Junggesellensteuer, mit deren freiwilliger Entrichtung wir Hagestolze uns das moralische Recht auf unser sonst so bequemes Dasein sichern.«
»Nein … so einer sind Sie? Da muß man Sie recht schröpfe, damit Sie Ihr bequemes Dasein eines Tages doch endlich dick haben und ein reizendes Mädle glücklich mache?«
»Machen Sie einen ersten Versuch dazu, liebe Frau Casparius, indem Sie sich mit Ihrem Gatten heute ganz als meine Gäste betrachten.«
»Da danke mir halt recht sehr!« Auf den Wangen erschienen die Grübchen. Die breite Treppe zum ersten Rang, in Gold und Rot, nahm die Freunde und die junge Frau auf. Man stieg langsam die Stufen hinauf und genoß dabei die flimmernde Atmosphäre zwischen Uniformen, Smokings und gewagten Toiletten. Die weiße Stirn von Frau Anna Maria hatte sich gerötet, während ihre flinken Augen Natur und Kultur der Damenwelt erfaßten.
»Das Diadem ischt übrigens weg«, sagte Casparius.
»Was für …«
»Das Diadem … vor dem die Silvia Sauberzweig jeden Abend g’schtande ischt.«
»Vielleicht hat er’s in den Laden hereingenommen.«
»Nein … es ischt verkauft.«
»Hast du dich etwa dafür interessiert, Kasper?«
»Warum soll ich mich net für Platindiademe interessieren? Meine Frau will ja auch einen Tenor singen höre.«
»Und was hat es gekostet?«
»Der Preis des Diadems war 28ooo M …«
»Hast du das für die Silvia festgestellt?«
»Ganz recht. Sie hat’s so gern wisse wolle.«
Frau Anna Maria gab an der Garderobe ihr Tuchmäntelchen mit den Überziehern der beiden Herren zusammen ab. Sie drückte, selbst blühend wie eine Heckenrose, den Heckenrosenstrauß, den Wichmann ihr überreicht hatte, an die Brust gegen die helle Seide ihres Kleides. Ihr Gatte betrachtete sie mit einem unverhohlen verliebten Blick.
Der Logenschließer verkaufte jedem der beiden Herren ein Programm, und man trat durch die schmale Tür in den Innenraum der Oper.
In dem leisen Summen der Stimmen und der Instrumente, in dem Aufklingen eines Geigentones, im Klappen der Polstersitze schwirrte die Erwartung.
Die mächtigen Lüster leuchteten über Ränge und Parkett.
Der eiserne Vorhang hatte sich schon gehoben. In schweren, prunkenden Falten fiel der goldgebortete Plüsch vom Himmel bis zum Boden der Bühne. Die edlen Hölzer und die Bronze, mit der Wände und Rangbrüstungen verkleidet waren, spiegelten das Licht. Die Reihen füllten sich. Sammet und Seide, Hermelincapes und Zobel erschienen; schlanke Frauengestalten und kleine dicke; geschniegelte junge Herren und gepflegtes Grauhaar; fremdländische Diplomaten und Militärs; ein einzelner Straßenanzug, der den festlichen Stil des Ganzen als Gegensatz noch mehr empfinden ließ. Die Mitglieder des Orchesters fanden sich schon zahlreicher ein, das Stimmen der Instrumente wurde vielfältiger, alle Notenständer füllten sich mit Blättern. In den Rängen und im Parkett suchten einzelne kleine Operngläser nach Bekannten. Da und dort begrüßte man sich. Auch die meisten der Logen waren schon besetzt. Nur einzelne standen noch leer.
Die beiden jungen Herren und ihre Dame hatten sich in den Sitzen der ersten Rangreihe bequem zurückgelehnt. Sie konnten Zuschauerraum und Bühne leicht übersehen und brauchten nicht die Hälse zu recken.
»Ist das schön!«
»Gefällt es Ihnen so gut, Frau Anna Maria?«
»Wie im Himmel.«
Wichmann lächelte und studierte scheinbar das Programm, während sein Blick heimlich immer wieder hinüberflog auf die andere Rangseite.
Loge 7 war noch nicht besetzt.
In den Garderoben schallte das erste Klingelzeichen. Die Menschen an den Türen drängten sich. Reihen standen auf, um die Nachzügler an die Plätze zu lassen; wieder klappten die Sitze. Beim zweiten Klingelzeichen begann das Licht der Lüster zu erlöschen. Im Orchester erschien der Dirigent, das Stimmen der Instrumente verstummte zur gespannten Stille. Die letzte Helle im Zuschauerraum verschwand, nur die gedeckten Lampen über den Notenständern glühten. Ein schnell verhuschender Schimmer aus hellem Spalt fiel noch einmal in den dunklen Raum. Loge 7 war besetzt worden. Oskar Wichmann hatte die schmale dunkle Frau mit den weißen Armen erkannt. Sie hatte sich geneigt, als ob ihre Hände etwas aufnehmen wollten, und hatte sich dann niedergelassen. In dem Schatten des Raumes, im Aufschwellen der Ouvertüre sah Oskar Wichmann nur sie, ein Traumbild.
Vielleicht lagen ihre Hände jetzt über biegsamen Rosenstielen, und die knospenden Blüten ruhten auf ihrem Schoß. Die Fülle der Musik schwang im Raum, der Gesang der Geigen, das Todesahnen der Harfe. Die Luft wallte in klingenden Wellen, die sich nicht nur dem Ohr mitteilten. Mit Schmeicheln und Brausen umfingen sie den Menschen und drangen in ihn ein. Das Blut ließ sich ergreifen von den Rhythmen des Sieges und der Liebe. Das besondere Ich, der begrenzte Körper weiteten sich in dem Lied der Instrumente, das menschliche Sehnsucht mit vollem Mute sang. In dem Dämmer des Raumes, das satt war von verborgenem Goldschimmer, tanzten die süßen und mächtigen Töne. Sie weckten die Ahnung des Kommenden, sie schwollen in Visionen des prächtigen Lebens und liebenden Todes; nur ein Sohn des Südens hatte sie so ungebrochen aus dem Äther erlauschen können. Die Hörenden waren dem Freudenfeste der Töne und dem schaurig-stillen Klang der Tempelharfen hingegeben.
Oskar Wichmann bedauerte es fast, als der Vorhang sich hob, als die Zauberwelt sich in das Licht stellte und eine, wenn auch sehr schöne, so doch bestimmte und damit nicht mehr alles umfassende Gestalt annahm. Der Augenblick der Enttäuschung ging vorüber. Ägyptische Sonne gleißte zwischen rätselhaft steifen, Ahnen und Enkel überdauernden Säulen. Der Gesang des Menschen, herrlicher als alle Instrumente seiner Kunst, hob sich mit Flügeln. »Aida …«
Entgegen den Gewohnheiten des Hauses rauschte der Beifall der offenen Szene entgegen. Das Mitschwingen der Körper setzte sich in ein Brausen der zusammenschlagenden Hände, in laute Schreie um. »Bravo … bravo!«
Das Haus und die Bühne hatten sich vereinigt. Der Sänger setzte von neuem zu seinem Liebesliede an.
Farbstrotzende Gewänder, in Rot, in Grün, in Blau, weißgekleidete Priester, braunhäutige Frauen mit langem Schwarzhaar, malerisch zerlumpte Gefangene wurden die Körper der jauchzenden, unbekümmerten Musik, die in immer neuer Fülle aus Kehlen und Saiten quoll.
Im Dunkeln und Hellen, im Fallen und Steigen mischten sich die Klänge, hundert- und tausendfältig folgten sie sich und schlossen sich zusammen zu dem einen Leben, dem einen Traum, den der schwarzgekleidete Mann am Dirigentenpult dem Schöpfer des Werkes nachträumte, um ihn den Menschen wiederum mitzuteilen.
Radames stand auf der Höhe seines Glücks. Er wußte sich geliebt von Aida, der Tochter des gefangenen Königs.
Der Chor der Studenten hoch oben im letzten Rang schrie seine Wonne laut hinaus. Viele erhoben sich, der Lärm der Beglückten war wie ein Strom, der auf die Bühne zurücktrug, was von dort an beseligenden Klängen gekommen war. Der Feldherr des ägyptischen Königreiches und die schöne Sklavin verneigten sich vor dem Vorhang.
Das Wort Pause konnte nicht das bezeichnen, was sich dann begab. Das Spiel ging fort. Der Rahmen des Kunstwerks selbst war lebendig und spielte sein eigenes Leben weiter in hell erleuchteten Gängen, im funkelnden Foyer, in den Spiegeln mit den vorbeischreitenden Bildern schöner Frauen, im leisen Wallen der Gespräche.
Oskar Wichmann hatte gesehen, daß die Loge Nr. 7 verlassen worden war. Mit leisem Beben begleitete er die liebliche Heckenrose und den in Melodien versunkenen Gatten; langsam schreitend, kam man in der zum großen Foyer strömenden Schar vorwärts. Die Hände der Herren hielten die Programme. Frau Anna Maria trug anmutig den rosa Blütenstrauß; das Mündchen plauderte von der Schönheit der anderen Frauen und schämte sich auch kleiner Bosheiten nicht.
»Gucken Sie, Herr Wichmann – die verhinderte Aida!« Eine fettquellende Dame im Brokat wandelte dahin.
»So ungefähr müssen Sie sich Frau Lundheimer vorstellen.«
»Ach so … die berühmte!«
Der Eintritt zum großen Foyer wurde begonnen. Hoch oben, auf der schmalen Galerie, zwitscherten die Spatzen der oberen Ränge, Köpfe beugten sich herab, um den Rundgang der Insassen von Parkett und erstem Rang zu beobachten. Der Raum war groß genug, um trotz der großen Zahl der Besucher nicht übermäßig voll zu wirken. Die Gruppen konnten Abstand voneinander halten. Die Brokat-Aida mit ihrem schmalschultrigen Kavalier, jene schlanke Meergrüne und ihr Kometenschweif im Frack, ein allzu groß geratenes Hermelincape über allzu kurzem Rock. »… die einzelne Stockwerk sind ein bißle zu klein geraten!« wisperte Anna Maria.
Endlich erkannte man eine Dame in Schwarz mit unbestimmt leuchtendem Haar und die stolze Gestalt ihres Gatten.
Frau Anna Marias Fuß hielt an, und unwillkürlich legte sich ihre Hand an Wichmanns Arm, um ihn zurückzuhalten.
»Oh, schauen Sie … komm Eugen, wir wollen ein bißle stehenbleiben oder sitze mir da her auf das Sofa … das Bild muß ich mir in Ruhe anschauen. Das ischt die Schönste … ischt das eine aparte Frau!«
Wichmann küßte Frau Anna Maria Casparius die Hand, ohne daß sie ahnen konnte, warum.
Er setzte sich mit ihr und dem Gatten auf das schmalsitzige rote Wandsofa zwischen den hohen Spiegeln und schaute hinüber, dahin, wo Marion Grevenhagen Hof hielt.
»Guck, Eugen … wenn die singen könnte … das wär’ meine Aida. Sie hat das Ausländische und Geheimnisvolle … Ja schau no, das aparte Kleid, die schwarze Spitze und die weiche Schultern, wie des herunterfließt und wie sie die Rosen hebt, die schöne gelbe Rosen in ihre weiße Händ’ … und des merkwürdig schwarze Haar, das schimmert … Eugen! Du bischt ein Stock! Verliebscht du dich denn gar net ein bißle?«
»Auf dein Geheiß, mein Ehegespons!«
»Ach geh … Herr Wichmann, hab’ ich nicht recht?«
»Vielleicht, gnädige Frau!«
»Wenn ich ein Mann wär’ … ich würd’ mich auf der Stelle verlieben! Ob der große elegante Herr mit dem feinen Kopf ihr Mann ischt … der ihr jetzt den Pelz abnimmt?«
»Da haben Sie nicht ganz falsch vermutet.«
»Woher wissen Sie das? Sie kennen ihn doch nicht etwa?«
»Ha, natürlich kenne mir den, Liebschte«, antwortete Kasper an Wichmanns Stelle. »Das ischt unser Herr und Meischter und hoher Chef Justus Grevenhagen. Der wird sich denke, daß er uns net erscht befördern braucht, wenn wir jetzt schon den erschten Rang zahle.«
»Oje … lieber Mann – da müsse … da dürfen wir grüßen, wenn mir vorbeigehe?«
»Des wird uns net erspart bleibe.«
»Also das hätt’ ich wirklich net gedacht, daß es in eurem Minischterium auch solche Leut hat.«
»Danke für das Kompliment, mein Herz. Aber die gnädige Frau Grevenhagen befindet sich auch nicht in unserem Minischterium. Mir begnüge uns schon mit dem Fräulein Hüsch.«
»Die Frau Grevenhagen wär’ auch wirklich zu schad für euch. Du … sie schaut her!«
Die beiden Herren und Anna Maria grüßten. Wichmann war aufgestanden. Frau Grevenhagen hob den Rosenstrauß und neigte den Kopf in die Blüten, als wolle sie den Duft noch einmal stärker spüren. Oskar Wichmann war nicht mehr auf der Erde.
Von einer Lichtwolke seiner Stimmung umflossen, schwebte er neben dem irdisch-schwäbischen Ehepaar über das eingelegte Parkettholz des Foyers zu der Dame seines Herzens. Ein Kreis von Herren und Damen gab Zutritt, die Verbeugungen fanden statt, Wichmanns Lippen standen wieder über der Hand, die einer weißen Blüte glich.
»Die Rosen sind eine große Aufmerksamkeit gewesen, Herr Dr. Wichmann. Ich habe mich darüber gefreut und danke Ihnen dafür.«
Wichmann begriff nach diesen Worten, daß der Logenschließer geplaudert hatte. Der Regierungsassessor wurde rot wie ein ertappter Primaner, und da er diese Art und Weise seines Körpers, eine wortlose Beschämung zu gestehen, albern fand, errötete er nur noch mehr. Marions Gatte verzog leicht die Mundwinkel mit ein wenig Verstehen und ein wenig Spott. Wichmann fühlte sich ihm einen Augenblick unterlegen, zugleich besiegt und lächerlich. Er wand sich innerlich in diesem unerträglichsten aller Gefühle vor der bewunderten Frau.
Marion aber war bei ihrem Dank ernst geblieben. In ihren Augen lag wieder das Schimmern brauner Moorseen, die in einsamer Stille brüten. Mochte der Gatte lächeln, Marion schämte sich der Rosen nicht. Wichmann sah das Diadem in ihrem Haar, den einfachen Platinreif mit dem Diamanten, aus dem tausend Feuer spielten. Es war das kostbarste aller Geschenke, das sie hatte erhalten können, aber wenn sie es mit unvergleichlicher und scheinbar unnahbarer Grazie trug, so schlossen sich ihre Hände doch weich und zart um die lebenden Rosen.
»Gnädige Frau, ich bin sehr glücklich über Ihren Dank.«
Wichmann fühlte die Blicke der Herren und Damen auf sich gerichtet. Sein Nacken hob sich, und seine Lippen schlossen sich fester in Abwehr gegen die Neugier.
»Wir haben eben über die Oper als Kunstform gesprochen, Herr Wichmann« – Grevenhagens Stimme ging so leicht und schmiegsam wie ein feingeschliffener Stahl. »Wie denken Sie darüber?«
»Schon, daß die Frage aufgeworfen wird, zeigt, daß die Oper eine Krise durchmacht …›durchmacht‹ ist schließlich ein Wort, das schon zuviel für den Ausgang Partei nimmt – es kann sein, daß die Oper als Kunstform in dieser Krise unter geht – oder daß sie sich entwickelt.« Auch Wichmann bemühte sich, in einem beherrschten und zugleich unbeschwerten Ton zu sprechen.
»Es ist ja hübsch … aber eigentlich ist es doch komisch, daß Menschen einander ansingen«, sagte die junge Dame mit dem Pagenkopf. »Herr Musa nannte kürzlich die Oper einen elenden Ausdruck bourgeoiser Prunksucht und hysterischer Übertreibung. Wie denken Sie darüber, Herr Dr. Wichmann?«
»Meine minder kämpferischen und genußfreudigeren Ansichten, gnädige Frau, gestehen immerhin zu, daß unsere Oper nur die Kunst einer bestimmten Gesellschaftsschicht und einer bestimmten Zeit ist – welche Kunst wäre das nicht mehr oder minder? Aber vielleicht macht sie durch die Zusammenfassung so vieler Ausdrucksformen, des Wortes, des Klanges, der Farben, nach unserem Empfinden besondere Ansprüche und stößt doch weniger tief durch zu den Wahrheiten der Seele und des Alls, als es der grandiosen Fülle und Technik ihrer Ausdrucksmittel entsprechen müßte. Dadurch wird das Aufgebot ihres Sinnenreizes für uns fraglich in seiner Berechtigung. Wir empfinden auch das Mißverhältnis in der scheinbaren Einheit, die Vergewaltigung des Wortes zugunsten der Musik, die Ablenkung vom reinen Ton durch die Schau der Farben und Körper. Was das Vollkommenste sein sollte durch die Vereinigung der Künste, wird auf einmal ein hinkendes Monstrum, das zu verspotten billig ist. Die Wurzel des Versagens ist vielleicht wirklich in der geistig-seelischen Lage der Gesellschaft zu suchen, die die Oper hervorbringt. Bei höchster Ausbildung des Technischen, bei der Herrschaft über alle Mittel fehlt uns doch der große Gegenstand, dem sie dienen könnte, und die Mittel verwirren sich dadurch in unseren Händen.«
»Sie sind also auch ein Gegner der Oper?« Die Dame mit dem Pagenkopf schien von den Ausführungen ihres Diskussionspartners befriedigt zu sein.
»Ich kann mich auch in einen Gegner meiner eigenen Beweisführung verwandeln. Wir Deutsche gehen mit zu viel Philosophie, zu viel schneidender Sachlichkeit an ein schönes Spiel heran. Die italienische Oper, auch einige unserer Mozartopern sind nun einmal dieses Spiel, das nicht mit Begriffen genossen werden kann, das Spiel einer heiteren Menschengesellschaft …«
»Wir wollen uns heute zwei Erstickende im Steingrab ansehen, Herr Doktor.«
»Das doch eigentlich nicht – wir wollen das Duett der Leidenschaft unter den Harfenklängen priesterlicher Strenge hören …«
»Nennen Sie das einen heiteren Gegenstand?«
»Sie haben mich auf einer Ungenauigkeit – einer Unvollständigkeit ertappt, gnädige Frau. Die Gesellschaft spielt nicht nur in Anmut, sie spielt auch mit der Leidenschaft, und das tut der südliche Mensch sicher unbeschwerter, unbefangener, als wir es vermögen. Darum ist die Oper in stärkerem Maße sein Element, der echte Ausdruck seiner Lebensfreude, einer Freude, zu deren Fülle auch die Anschauung vom Kampf und Tod gehört. Auch das noch in dem Spiel gelöst …«
»Also unwahr …«
»Sie werden wieder zu sachlich, gnädige Frau. Das Volk hat seinen Liebesschmerz noch immer auch im Lied hinausgesungen. Die Oper ist keine schlichte Melodie dafür, sie ist ein sehr raffiniertes und wahrscheinlich vergängliches Werk aber sie stammt doch aus demselben bleibenden Triebe.«
»Sie machen Kompromisse …«
Wichmann zuckte. »Es kann sein, daß das mein Fehler ist.«
Frau Anna Maria hatte die Diskussion mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.
»Sie werden von allen diesen Bedenken nicht beschwert, gnädige Frau?« fragte Grevenhagen sie freundlich.
»Ha nei. Ich freu’ mich einfach, weil’s mir so gut g’fällt und weil alles so b’sonders und feschtlich ischt.«
Das frische Geständnis fand allseitiges Wohlwollen und schloß die Debatte.
Die Gruppe begann sich zu bewegen und wieder in den allgemeinen Strom einzuschalten. Wichmann war für eine sehr kleine Spanne Zeit an Marions Seite; er roch den herben Duft ihres Haares und den süßen der Rosen.
»Ich glaube, daß es gleichgültig ist, was man singt oder tut wenn es nur das Ungewöhnliche ist.« Ihre Stimme war leise, ihre Lippen waren voll und schön geschwungen.
»Sie selbst sind das Ungewöhnliche, gnädige Frau, das die Sehnsucht bis zur Verzweiflung an sich zieht …«
»Ja …?« Das war wieder dieses »Ja« mit dem ausschwingenden Klang, der die Notwendigkeit alles Sprechens in Zweifel zog.
Die Klingel schrillte.
Oskar Wichmann beugte sich zum Abschied über die Hand und küßte sie ohne Scheu.
Weiter wußte er von dem Weg bis zu seinem Platze nichts mehr.
Parkett und Ränge füllten sich wieder mit Gemurmel, mit den schön gekleideten Menschen. Köpfe beugten sich, um Nummern zu suchen, zahlreiche Operngläser suchten nach Bekannten und besonderen Toiletten. Das Orchester stimmte die Instrumente für den nächsten Akt. Die Lichter verloschen, grün schimmerte der Nil in der Nacht. Amonasro suchte seine Tochter. Die Luft wehte kühl von der geöffneten Bühne in den heißen Zuschauerraum.
Oskar Wichmann fühlte die Pracht um sich, die Wärme der Menschen, das Geheimnis des Dunkels, das Singen und Klingen, aufrauschende Hochzeit der Töne. Seine Hände lagen auf der sammetbezogenen Brüstung, seine Augen faßten den Zauber der nächtlichen fremden Landschaft, schillernde Wellen, den Ausdruck der Qualen der Liebenden und drüben, fern und doch erreichbar, den Schatten Marions.
Ihre Lippen hatten »ja« gesagt. Was mehr? Was war gewesen, was sollte sein? Nichts. Nichts war als sie und dieser Augenblick. Nie sollte es enden, der Dämmerschein sollte bleiben, die Stille der Menschen, das Fliegen und Schmelzen der Töne, der Traum ohne Zeit und ohne Wirklichkeit, »… in den Schluchten von Napata …«
Verräter geworden, todgeweiht, Radames …
Wichmann verließ in der zweiten Pause seinen Platz nicht mehr. Den Kopf in die Hand gestützt, alles Äußere von sich wegschließend, wartete er, bis die Klingeln die Zuschauer zurückriefen und das Dunkel sie wieder zu Schatten werden ließ. Auch Marion war in der Loge geblieben … Felonie … Felonie.
Die Priester hatten gesprochen. Unter gleichmütigen Säulen, heiß leuchtendem Himmel, unter den Klängen der Harfen lag das Grab dunkel, aber es erstickte nicht den Sieg der Leidenschaft.
Als ein nur schwer Erwachender nahm Wichmann das Ende seines Traumes wahr. Die Stürme des Beifalls brausten, fluteten, ebbten ab und schwollen wieder an. Der Tenor dankte, er rief seine Mitspieler, der Name des Dirigenten hallte durch den Raum, und der schwarz gekleidete Mann mit den zarten Händen erschien zwischen Radames und Aida auf der Bühne und dankte mit ihnen. Die Türen der Ränge und des Parketts waren schon geöffnet. Begeisterte kamen in Hut und Mantel zurück, um sich noch einmal in den Chor des Beifalls einzumischen.
Endlich sank der eiserne Vorhang.
Das Spiel war aus.
Benommen noch von dem Festrausch dieses Abends, schritten Wichmann und seine beiden Gäste die Treppe hinab. In den Vorraum strömten kalte Winde durch die Türen, die auf- und zugingen. Die Kasse hatte verdunkelt. Die Damen nahmen die Pelze fester um sich, die Herren hatten die Handschuhe angezogen. Draußen hupten die Autos und ließen ihre Lichter spielen. Märchenhaft teure und elegante Wagen nahmen ihre Besitzer in sich auf und rollten ab.
Das Mietauto brachte drei Menschen, die noch stumm waren unter ihren Eindrücken, vor das Restaurant Hattig. Wichmann zahlte dem Chauffeur Preis und Trinkgeld. Er geleitete Frau Anna Maria und seinen Freund Casparius durch die Doppeltür, an dem von Repräsentationsbewußtsein getränkten Pförtner vorbei und hinauf in den ersten Stock. Die Eintretenden empfing gedämpfte Musik einer nicht sichtbaren Kapelle. Wenige Tische mit damastglänzenden Decken standen zur Wahl; der Kellner hielt sich in der lässig-dienstbereiten Haltung eines verkleideten Prinzen zur Verfügung. Er erkannte sofort Wichmann als den Dirigierenden und reichte ihm die Speisen- und die Weinkarte. Der Assessor nannte die Gerichte und Marken und verschwieg die Preise. Es kam eine kleine ausgewählte Speisenfolge mit Hummer und Kaviar zustande. Teller, Gabeln, zu seltsamen Blüten geformte Servietten erschienen lautlos, wie unter einem Zauberstab.
»Eugen – da ischt es aber arg fürnehm. Da müssen wir hochdeutsch schwätzen«, flüsterte Frau Anna Maria, als der Ober mit der überlegenen Miene sich entfernt hatte.
»Bitte, gnädige Frau, bleiben Sie doch bei Ihrem schwäbischen Mutterlaut. Für mich ist das, als ob ich ein Vögelchen sein Lied singen höre, wie Gott es ihm gegeben hat.«
»Sie sind aber ein arger Schmeichler, Herr Wichmann. Wenn Sie immer so schmeicheln?! Es ist doch wüscht, wie ich schwätz’! Können Sie sich vorstelle, daß Frau Grevenhagen so schwätze würd’?«
Wichmann lachte. »Nein, aber sie ist auch eine ›Sumpfblüte‹, wie Ihr Gatte einmal festgestellt hat, und Sie sind ein Heckenröschen.«
»Sumpfblüte? Das hat er g’sagt? Ha gewiß, ein bißle unheimlich ischt sie scho, weil mer nicht schlau aus ihr wird. Aber apart, so apart und interessant! Ihr Mann gefällt mir auch sehr gut, weil er so was Stolzes an sich hat und dabei freundlich – ich beneid’ dich, Eugen, daß du alle Tage zu dem hingehen darfscht.«
»Gehe nie zu deinem Fürscht – wenn du nicht gerufen würscht. Ich dräng’ mich da gar net so arg vor, mein Herzlieb. Und so sind die Gaben und Möglichkeiten eben meischtens falsch verteilt.«
Frau Anna Maria aß den Hummer mit Geschick. Die drei Speisenden waren die einzigen im Raume, bis eine weitere Gesellschaft von Gästen eintrat. Die junge Dame war darunter zu erkennen, die mit Wichmann über die Oper diskutiert hatte, auch Herr von Linck war den Freunden bekannt. Man grüßte sich.
»Die mag ich net, die ischt so eingebildet mit Ansichten, die sie sich gar net selber ausgedacht hat. Aber wissen Sie, Herr Wichmann, was mir für ein Gedanke gekommen ischt, wie Sie da so hohe Sache erzählt habe, für die ich viel zu dumm bin?«
»Nein?«
»Wir lebe doch eigentlich ein sehr künschtliches Leben – mir esse den Hummer, den mir in der Nordsee g’fange habe, und trinken den Wein, der im schnöden Frankreich wächst, und dazu gibt’s ein bißle Kaviar von der fernen Wolga und einen Strauß von Rose für die Dame mitten im Winter. In der Oper singt ein italienischer Tenor, und ’s grüne Wasser fließt wirklich auf der Bühne – und wir wisse, wie’s im alten Ägypten vor fünf- oder vor zehntausend Jahr zugange ischt oder zugange sein soll. Es ischt doch alles arg kompliziert, und mir denke bloß, es wär’ so selbstverständlich.«
»Da haben Sie recht, Frau Anna Maria. Wenn ich Ihre Gedanken weiterspinnen darf, es gibt auch Menschen, die künstlich geworden sind und ohne das Komplizierte gar nicht mehr dasein können. Es gibt auch Bücher und gibt auch Opern, bei denen das der Fall ist – dann gibt es wieder andere Menschen und Werke, die sind so natürlich und kräftig geblieben oder so weit ins einfache Innere der Dinge vorgestoßen, daß sie immer und überall zu leben vermögen, auch wenn der französische Wein ausbleibt und die Rosen im Winter erfrieren. Unter den Menschen gibt es sogar nicht wenige, die das noch vermögen, wenn sie eben müssen. Das hat der Krieg gezeigt.«
»Ah … ja … wissen Sie, jetzt denk’ ich grad, ob die Dame da drüben, die die Opern abschaffen möcht’, eigentlich so was sein könnt’ im Ernscht – ich glaub’s beinahe net. Und dann – ja – das ischt eigentlich interessant, daß mer seine Mitmenschen auch einmal so einteilt – können Sie sich Frau Grevenhagen als Bäuerin vorstellen?«
Wichmann sah auf das weiße Tischtuch und die roten Hummerscheren und hörte die Klänge der verdeckten Kapelle, in denen das Erleben des Abends ausschwingen konnte. »Als Bäuerin – nein – aber …«
»Aber?« bohrte Casparius.
»Als Druidenpriesterin oder so etwas.«
»Mach dir keine Illusionen, Wichmann, sie kann net hexe. Aber das Weib eines Salonanarchischte sein … des ging’ vielleicht. Kann sein, daß ihr des ungewöhnlich genug wär’.«
Wichmann wurde feindselig. »Musa, meinst du?«
»Ha nei … bloß allgemeine Theorie.«
»Was hascht du denn bloß gegen die Frau, Eugen? Wenn eine Frau einen solchen Mann hat wie die, braucht sie keinen Anarchischten mehr. Er wirkt so kühn und ritterlich und trägt sie gewiß auf Händen …«
»… und kauft ihr ein Diadem für 28ooo Mark!«
»Ha, des war des? Das ischt auch wirklich wunderschön und paßt so ganz zu ihr.«
Wichmann vermochte seiner stillen Erregung nicht Herr zu werden. Was hatte Casparius von seinem Gespräch mit Marion gehört? War Kaspar der einzige Unberufene gewesen, der das kurze Verstehen zweier Menschen erlauschte? Und was wußte er von Musa?
Wichmann leerte sein eben eingeschenktes Glas Burgunder auf einen Zug.
»Kaspar … grad heraus … wie bist du auf diesen Anarchisten gekommen?«
»Jetzt laß mich bloß zufrieden. Ich werd’ doch nicht den Heiligenschein der Gemahlin unseres Chefs antasten. Ich mein’ bloß so im allgemeinen, ihr Typ, der will immer was Besonderes habe. Ob’s ein Großfürscht ischt oder sein Attentäter, das ischt dann wurscht, ’s tut’s auch einmal ein Ministerialrat und Herrenreiter …«
Wichmann sah unbefriedigt über den Freund weg. Er konnte Frau Anna Maria jetzt verstehen. Es war wirklich zum Wildwerden mit des Eugen Casparius unaufhörlichen philosophischen Witzen. Casparius mußte irgendeinen Verdacht haben. Es mußte irgendein Geschwätz umgehen. Hätte er damals nur diesen Brief aufgerissen und gelesen! Was hätte der Postbote schon anders machen wollen als schelten? Aber er, Wichmann, war ein ewig Zaudernder. Er wollte die Fäden endlich zerreißen, die ihn hinderten, und nach der Einzigen fassen.
Nach ihrem »Ja« mußte er wissen, ob sie ihn wirklich liebte, Gedanke des Himmels, oder ob sie nur mit ihm spielte. Er konnte nicht mehr sein ohne die Entscheidung.
Frau Anna Maria plauderte, und Wichmann lächelte, ohne sie recht zu hören. Casparius stand mit dem Hummer auf dem Kriegsfuß und hielt sich an den Wein.
Als es ein Uhr geworden war, brach man auf. Trotz der beißenden Kälte empfanden alle den Wunsch, ein Stück zu Fuß zu gehen. Frau Anna Maria hatte sich von dem eleganten Ober den Heckenrosenstrauß in Papier binden lassen, damit er nicht Schaden nahm. Sie lief jetzt vergnügt zwischen ihren beiden Kavalieren.
»Guck … Heckenrösle … nei, nix sage, Wichmann … da vorn im Schein der Bogenlampe, wie g’falle dir die zwei?«
»Net schlecht. Zwei so stattliche Menschen und gut angezoge. Viel mehr kann ich von der Rückansicht her net erraten.«
»Des ischt das vielbesungene Fräulein Hüsch.«
»Ach so? Des würd’ mich interessieren, die kennezulerne … Wer ischt denn der Herr? Ischt der auch aus eurem Minischterium?«
»Net aus unserem. Des ischt doch der Regierungsrat Schildhauf, wenn mich net alle Auge täusche? Jetzt nehme die zwei sich ein Taxi.«
»Das machen wir auch bald, Kasper, eh uns die Nasen erfrieren.«
Als man mit dem von Wichmann vorgeschlagenen Gefährt die Wohnung des Ehepaars Casparius erreichte, wurde Wichmann noch zu einem Mokka eingeladen.
»Es war ein wunderbar schöner Abend! Von dem Abend erzähle’ noch unsre drei Töchter, wenn sie groß sind. Das habe mir Ihne zu verdanke, lieber Herr Wichmann. Und eigentlich – ja eigentlich möcht’ ich jetzt wisse«, sagte Frau Anna Maria, während sie das duftende Gift einschenkte und ihr Gatte die Zigaretten anbot, »ob ein Mann oder eine Frau heutigentags noch so lieben könnt’ wie der Radames und die Aida … so ganz wahnsinnig. Wie ich in der Oper g’sesse bin, ischt es mir so vorkomme, und selbscht bei meinem guten Eugen spür’ ich noch so einen Schwung.« Sie lachte liebenswert, und Eugen schmunzelte.
Wichmann versuchte zu denken. Es war vergeblich. So ganz wahnsinnig? Wer wußte es denn? Er wußte nur, daß etwas geschehen mußte, wenn er nicht zugrunde gehen sollte in dem Strom seines Gefühls, dessen Ziel er selbst nicht kannte. Aber was? Was wollte er? Sie an sich reißen? Die Augen schließen, nichts mehr wissen, nichts mehr fühlen als sie, ihren Leib, das Klopfen ihres Blutes, und ihr Geheimnis in sich hineindrücken!
Als diese Nacht zu einem frostigen Morgen erwachte, hatte Oskar Wichmann die Augen noch immer offen. Aber der Gedanke, wie er Marion finden und wie er Marion prüfen könne, war zu keinem Ende gekommen. Er hatte nur ihre weißen Hände gesehen, die sich um Rosen legten, und die schwere Musik ihrer Stimme gehört, als sie ein »Ja« sprach.