Читать книгу Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich - Страница 12
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ОглавлениеZwei Tage vergingen, an denen Oskar Wichmann nicht als er selbst gelebt zu haben glaubte. Das Dienstzimmer, die Akten, die geheimrätliche Wohnung sah er nur durch einen dichten Schleier. Melodien wehten um ihn her, unwirkliche Bilder hielten ihn gefangen. Aida hatte sich auch für ihn verwandelt. Sie ging in schwarzer Spitze, durch die ihre elfenbeinfarbene Haut schimmerte, biegsam war ihre Gestalt, ihre Augen waren Erinnerung und Sehnsucht nach einer fernen, unbekannten Heimat. Marion, Marion …
Wichmann erschrak, als er auf einsamen Parkwegen den Namen laut vor sich hin gesprochen hatte. Warum waren ihre Lippen müde gewesen, als sie durch den Morgen ritt? Drüben wohnte sie in dem Hause hinter dem Ahornbaum. Der Verzauberte schaute hinüber und sah sie nicht. Wann ging sie ein? Wann aus? Er wußte es noch immer nicht.
Er hatte in der Nacht am Schreibtisch gesessen und hatte an sie geschrieben und hatte gewußt, daß er alle seine Briefe wieder zerreißen werde, ehe sie ein andres Auge sah. Torheit! Aber die Messer des Verstandes wurden schartig an der sturen Wiederholung, mit der das Gefühl seine Wünsche vorbrachte.
Dann war der Brief gekommen.
Martha hatte ihn gebracht. Pünktlich wie an jedem Tag, an dem der Regierungsassessor zum Dienst ging, stellte sie das Frühstück auf den Tisch am Fenster und legte die beiden Zeitungen und die eingegangene Post auf den Schreibtisch des verstorbenen Geheimrats. Flüchtig wie in all dieser Zeit nahm Wichmann die eingegangene Korrespondenz auf, um an der Schrift den Absender zu erkennen.
»Herrn Dr. Wichmann …«
Das hatte sie geschrieben.
Wichmann hielt den weißen Umschlag in der Hand, einen Umschlag, wie er ihn schon einmal zwischen den Fingerspitzen gefühlt hatte. Der Absender war nicht angegeben. Die Adresse war mit dünnen, weit gezogenen Buchstaben geschrieben.
»Herrn Dr. Wichmann …«
Der Federhalter, der dies schrieb, hatte in ihrer Hand gelegen. Wann? Warum? Was war das für eine Stunde gewesen, in der Marion, die Gattin des Justus Grevenhagen, den Namen Wichmann schrieb?
Der Empfänger nahm das Briefmesser und öffnete schnell, fast gewaltsam. Er las mit einem Schimmer vor den Augen, in dem die Buchstaben verschwammen. Dann stieß er einen lachenden, heiseren Ton aus.
»Sehr geehrter Herr Dr. Wichmann!
Für den Fonds, der zur Unterstützung bedürftiger Studenten der Rechtswissenschaft bestimmt ist und den ich im Auftrag der Stifter mit verwalte, erlaube ich mir, auch Sie um eine Spende zu bitten, deren Höhe Sie bitte selbst bemessen mögen. Ich danke Ihnen heute schon im Namen der Empfänger, deren Würdigkeit, wie ich Ihnen versichern kann, streng geprüft wird. Marion Grevenhagen«
Marion! Ja gewiß, Leute, die den ersten Rang in der Oper bei erhöhten Preisen bezahlen, die ein Dutzend Rosen schenken und bei Hattig essen, solche Leute gehören ja zu den Kreisen, in denen man Spendenlisten mit der Hoffnung auf erhebliche Beiträge versenden kann.
Ach, Marion, ist das der gleiche Brief, mit dem du Herrn Dr. Musa beglückt hast?
Die Liste der Spender und Spenden lag bei. Sie enthielt den Namen des Herrn von Linck … 300 RM, Regierungsrat Schildhauf … 50 RM, Fräulein Ramlo – das war ja wohl die Dame mit dem Pagenkopf – 100 RM. Dr. Musa – ah, Musa! – 20 RM. Es folgte ein unbekannter Name: 250 RM. Wichmann lachte hell hinaus. Die Befreiung von dem Alpdruck Musa gab ihm eine übermütige Stimmung. Er holte den Füllhalter aus der linken Brusttasche und schrieb: Dr. O. Wichmann: 300 RM.
Bist du jetzt zufrieden, Marion? Der Regierungsassessor hatte damit sein Konto angegriffen, dessen Zinsen sein Gehalt aufbesserten. Aber warum nicht? Er mußte ein andermal sparen. Ein andermal. Nicht an deinen Wünschen, Marion!
Wichmann las sechsmal die Liste durch.
Außer ihm und Musa war niemand von den Herren des Ministeriums darauf zu finden.
In der linken Schublade des Schreibtisches lag das beste Briefpapier.
Wichmann holte es hervor.
»Sehr verehrte gnädige Frau!
Es ist mir eine große Freude, für einen Zweck, den Sie fördern, einen Beitrag leisten zu können.
In Ergebenheit …
2 Anlagen«
Der Schreiber knickte den Bogen, legte den ausgeschriebenen Scheck und die Spendenliste, die er schon auswendig wußte, bei und schloß den Umschlag.
Es war zehn Minuten vor neun Uhr. Wichmann fuhr in den Mantel und verließ das Haus. Den Brief, den er frankiert hatte, warf er gegenüber in den Empfangskasten am Gartenzaun der Kreuderstraße 3.
Er wagte nicht zu hoffen, daß er mehr als einen vorgedruckten Dank erhalten werde.
Die Tage verstrichen wieder ohne Ereignis. Wichmann empfand, wie seine Vorstellung von der Geliebten blasser wurde und wie seine Sehnsucht nach ihr wuchs. Die unaufhörliche und fruchtlose Beschäftigung seiner Phantasie machte ihn gereizt und launisch. Mehr als einmal sah er Blicke der Kollegen und sonstigen Mitarbeiter auf sich gerichtet. Sein Verhältnis zu Grevenhagen wurde noch kühler. Er selbst fühlte sich nicht glücklich. Daß er sich nicht überwinden konnte, die Kreuderstraße zu verlassen, war ihm ein Stachel, der seine Selbstachtung verletzte. Die Untätigkeit, in der er verblieb, peinigte sein Herz und brachte ihn zu den wütendsten Ausfällen gegen die eigene Entschlußlosigkeit. Dennoch blieb er auch am folgenden Donnerstag dem Haus im Garten fern.
Der Winter begann um diese Zeit endlich seine Kraft zu verlieren. Der Frost brach sich, die Schneemassen schmolzen grau und schmutzig dahin. Im Park wurde die Schlittschuhbahn gesperrt, das Eisloch für die Enten vergrößerte sich auf natürliche Weise. Von den Bäumen tropfte es, die Parkwege weichten auf. Vögel begannen schon zu singen. Zum Reiten kam Wichmann nicht mehr so häufig wie im Winter. Herr von Schilling, der Besitzer des Fuchses, nahm sein Tier jetzt selbst in Anspruch, und Mietgäule durch den Park zu treiben, spürte Wichmann wenig Lust. Im Ministerium herrschte ein großer Arbeitseifer vor dem Abschluß des Rechnungsjahres am 31. März, und der Assessor fügte sich dem Zwang, Dienst zu tun. Das neue Bücherverzeichnis, zu Händen von Fräulein Hüsch, hatte er nebenbei fertiggestellt. Die Gerüchte der mittäglichen Tafelrunde überstürzten sich, ohne daß Wichmann recht auf sie hinhörte, er begriff nur, daß die Ernennungen in kurzem vollzogen werden sollten.
Einmal hatte er den Nachmittag des »jour fix« benutzt, um das Haus Grevenhagen wieder aufzusuchen. Er fand Marion verändert. Sie sprach mehr und bewegte sich schneller, als werde sie von einer Unruhe getrieben. Manchmal zuckten ihre Hände. Dr. Alfons Musa stand am Kamin neben dem Flackerfeuer; Marion sprach ihn nicht ein einziges Mal an, und er sah nicht nach ihr. Stets war sie in einem Kreise von Herren und Damen, der sich bald löste, bald neu füllte. Sie trug ein schwarzes Kleid wie immer. Neben der stolzen Mutter Grevenhagens schien sie wie ein verirrter Vogel, dessen buntes Gefieder in der Gefangenschaft verborgen wird. Als Wichmann sich verabschiedete, begegnete sie ihm mit einem so schmerzlichen Blick, daß er Qualen empfand, sie nicht in den Arm nehmen und in ihrer Trauer trösten zu dürfen. »Verfügen Sie über mich«, murmelte er. Ihre Augen verrieten ihm, daß sie verstanden hatte.
Der Wunsch, für Marion immer erreichbar zu sein, hielt Wichmann in den folgenden Tagen für jede freie Minute im Hause fest. Er verzichtete darauf, mit den sportlustigen seiner Kollegen am Sonnabend nachmittag zum Waldlauf zu gehen. Am Sonntag stand er früh auf und verließ um acht Uhr das Zimmer, damit es um neun gereinigt und geordnet sein konnte. Er setzte sich ans Fenster und versuchte zu lesen, aber nichts konnte seine Gedanken fesseln. Er beobachtete die Meisen, die durch die Zweige des Ahornbaumes huschten, er sah den taunassen Gartenweg, den braungrünen Rasen, der unter dem Schnee hervorgekommen war. Das eine Fenster der Gartenvilla, das ihm sichtbar war, blickte hellblau im Widerschein des Himmels. Ein Gären und Drängen lebte in der Luft, die sich mit Feuchtigkeit und erster Frühlingswärme gesättigt hatte.
Frau Geheimrat von Sydow verließ das Haus. Ihr Untermieter sah, wie sie mit wuselnden Schritten, im weiten Mantel, das Gesangbuch in der Hand, der Stadt zuging. Unter dem Hutrand lagen wohlgeordnet die grauen Löckchen.
Komm, Marion. Es ist Frühling.
Wie im Traum, in dem das geschieht, was heimlich sich öffnende Schichten des Herzens erwartet haben, oder auch wie ein Kind, das noch Wunder erlebt, nahm der Wartende eine Frauengestalt wahr. Sie kam mit ihren Schritten, die der Erde nicht weh taten, über den Gartenweg der Kreuderstraße 3. Die Vögel sangen über ihr in den Zweigen, und der Himmel war matt und hell, voll Abschied und Werden. Die Rosenknospe des Tores gab sich in Marions Hand, das Tor ging auf und zu, Wichmann hörte sein leises Klicken durch die Sonntagsstille. Frau Grevenhagen trug ein schwarzes Tuchkostüm, der Kragen der englischen Bluse schloß sich um ihren Hals. Die behandschuhte Rechte trug eine sehr kleine Tasche.
Wichmann hörte das Klopfen des eigenen Blutes, das ihm durch die Adern schlug. Als die Klingel der Wohnung schellte, war er aufgestanden. Er stand mitten im Zimmer, ohne mehr etwas zu sehen. Aber sein Gehör war scharf geworden, wie das des Tieres, dessen Leben vom Erlauschen des Geschehens abhängt.
Er vernahm Marthas flinkes Laufen, das Öffnen der Sicherheitsschlösser – ein Eintreten – den Klang einer Stimme – und Schritte – wieder eine Tür, nahe der seinen – auch diese öffnete und schloß sich.
Martha klopfte und kam in das Zimmer des Assessors herein, im Satinkleid, mit weißer steifer Zierschürze. Ihre Augen blickten erregt, sie überreichte die Karte.
»Frau Ministerialrat Grevenhagen – Frau Geheimrat ist leider ausgegangen – Frau Grevenhagen bittet in diesem Fall, Herrn Dr. Wichmann zu sprechen …«
Wichmanns Füße setzten sich mechanisch in Bewegung. Martha wich aus. »Im Salon der gnädigen Frau …«
Wichmann wußte es längst.
Er ging hinüber wie ein Junge in das Weihnachtszimmer. Mephisto ging neben ihm her … »Schafft mir die Dirne …«
Frau Marion Grevenhagen saß auf einem steifen, mit hellgelber Seide bezogenen Empiresesselchen. Auf ihrem Schoß lag die kleine eidechsenlederne Tasche. Sie hatte den rechten Handschuh ausgezogen und reichte ihre Hand.
»Gnädige Frau?«
»Darf ich Sie um einen kleinen Dienst bitten, Herr Dr. Wichmann? Ich habe Verwandten der Frau Geheimrat von Sydow versprochen, einen Gruß persönlich zu überbringen.« Die Tasche öffnete sich, Frau Grevenhagen überreichte ein Kuvert, das einen Briefbogen, vielleicht eine Photographie, zu enthalten schien. »Sie sind so freundlich, die Übermittlung zu übernehmen? Ich glaube, daß Frau von Sydow aus dem Begleitschreiben alles ersieht. Es handelt sich wohl um eine alte Photographie, ein Andenken. Mein Gatte und ich haben das Ehepaar, um das es sich handelt, bei einer unserer letzten Wochenendtouren zufällig getroffen, dabei kam die Rede auf Frau von Sydow.«
»Ich werde den Brief gern übermitteln, gnädige Frau.«
Wichmann zog die Brieftasche und legte den Umschlag hinein. Dort war der Brief neben einem kleinen Zettel verwahrt: »Boston nach der Pause. M. G.«
Oskar Wichmann stand vor der Geliebten und sah sie an.
Seine Augen konnten nicht mehr schweigen, und die Frau wich der Sprache seiner Blicke nicht mehr aus. In dem Alleinsein mit dem Weib schüttelte ihn die Leidenschaft. Die Zucht überkommener Vorstellungen spannte ihn auf die Folter.
»Sie waren lange nicht bei uns, Herr Doktor. Auf einmal sind Sie wiedergekommen. Warum?«
Die Frage, die den Konversationston zu durchbrechen schien, riß das Schloß auch von Wichmanns Zunge.
»Warum? Gnädige Frau, Sie wissen nicht, was Sie fragen. Aber wenn Sie mich anhören wollen wie ein Bild im Tempel, vor dem man alles sprechen kann und das alles zu hören vermag in stummem Gewährenlassen … wenn Sie wie dieses Bild vor mir sein wollen, dann will ich versuchen – zu stammeln. Der Strom drängt und staut sich zu stark auf einmal in meinem Innern – ich kann nicht zu dem glatten Fluß der Rede kommen – wenn Sie die Phantasie eines Fiebernden nicht langweilt, so erlauben Sie mir, laut von Ihnen zu träumen.
Ich sehe Sie wie ein Kind, Frau Marion, ich begegne Ihnen in einem Märchen. Es ist Morgen, die nassen alten Steine des Schlosses schlafen noch und beginnen erst mit bemoosten Augen zu blinzeln. Die Wipfel des Waldes rings singen vom Meer. Die Nixe, die das Licht auf den Grund des Sees gebannt hat, lauscht und weint nach der Ferne, und der alte Nöck streicht ihr Haar und raunt von dem Geheimnis der Wasser, die in tiefer Erde alle Brüder sind. Weiße Rosen schwimmenauf dem Spiegel, der das Bild des Himmels sucht. Sie gehen um den See, Marion, und das Schilf neigt sich, Sie singen leise in dem Dunkel der Bäume, und vergessene Gräber unter Wurzeln geben Ihnen ihr Geheimnis. Wenn die Nacht wiederkommt, schauen Sie aus alten Mauern nach den Sternen. Ihr Blut ist heiß, Ihre Lippen sind kühl – und der Wind streicht durch Ihr Haar, er kostet den Duft und mischt ihn mit dem heimlichen Atem der Blüten. Sie sind ein Wunder, Marion, und Sie gehen fremd unter uns wie eine Verwandelte und ich bin scheu und fürchte mich, Sie zu sehen, wie das Kind, das vor dem Geheimnis der Feen flieht und es doch nicht lassen kann, sie zu suchen. Haben Sie Geduld mit mir. Es gibt Dinge, die für Sterbliche tödlich sind.«
Frau Marion stand auf, in dem schwarzen knappen Kostüm, über dem dunklen Haar den sammetweichen, glänzenden Hut, Bote aus dem Hause eines alten Zauberers, der seine Tochter verkleidet unter die Menschen gesandt hat, um sie eines Nachts wieder in die Lüfte zu entführen. Sie war auf Wichmann zugetreten und sah ihn mit regungslosen, geöffneten Augen an. Ihre Hände hoben sich und legten sich an seine fiebernden Schläfen. Er spürte die weiche Kühle wie der Schiffer die grünen Wellen des Sees, ohne Widerstand, unfähig zu handeln. Seine Arme hingen schlaff und schmerzend, sein Mund war trocken. Er sah auch ihre Augen, nicht mehr, aber ihre Hände nahmen ihn in das Nichts und das All, in dem er versinken mußte.
Als sie ihn losließ und stumm an das Fenster trat, schlug ein Feuer in seinem Innern empor.
»Marion …«
Er stand hinter ihr. Seine Lippen waren zusammengepreßt, er biß darauf, bis sie bluteten. Seine Finger hatten sich verkrampft wie die eines Irren. Der Schweiß trat ihm auf die fahl gewordene Stirn.
»Marion …«
Sie mußte seinen heißen Hauch fühlen. Als ob sie ihn fürchte, blieb sie an dem hohen Fenster stehen. In dem Manne raste der Wunsch, sie zu umarmen. Aber das Fenster schützte sie; ein kümmerlicher Rest von Überlegung sprach noch in ihm: Ihr dürft nicht gesehen werden …
Sie glitt wie eine fliehende Katze an ihm vorbei, und als er sich umwandte, stand sie neben der Tür an der Wand. Der Mann wußte nicht mehr, ob er sie liebte oder haßte, und mit der Grelle eines Scheinwerfers leuchtete sein aufwachendes Bewußtsein sie ab. Schwarz stand sie an der hellen Wand, vor der zierlich steif gemusterten Tapete, unter dem weißen Rahmen des Stiches, den keltische Grazie mit Lüsternheit gestochen hatte. Ihre Schultern zogen sich noch einmal mit jener Bewegung zusammen, die alle Säulen der Vernunft stürzen konnte, aus ihren Augen leuchtete das Tier, unschuldig, schamlos. Ihr Körper war weich, ihre Hüften waren schmal und beweglich, um ihre Lippen legte sich das Wissen, während die Augen sich schlossen.
Wichmann kam näher. Sie sollte in seinen Armen zum Kusse mit ihm vergehen.
Da hob sie die Wimpern, und die Tränen liefen langsam über ihre Wangen.
Den Mann verließ die Kraft, er fühlte, daß seine Knie versagten und daß seine Hand eine Stütze faßte.
»Marion … Ich bitte dich …«
»Warum quälen Sie mich? Ich bin gekommen, Ihre Hilfe zu suchen.«
Wichmann schwindelte es. Er legte die Hand vor die Augen und tastete nach der Lehne des Stuhls. Dann stand er auf wie ein Mensch, dessen Fieber geschwunden ist und der noch vor Schwäche taumelt.
»Verfügen Sie über mich …«
Das waren Worte, die er schon einmal über die Lippen gebracht hatte. Jetzt klangen sie müder.
Sie löste sich von der Wand und ging mit ihren Schritten, deren natürliche Geschwindigkeit durch den Zwang des Schuhs behindert war, zurück zu der Mitte des Zimmers.
»Sie werden mir nicht zu helfen vermögen. Niemand vermag es … Herr Dr. Wichmann.«
Frau Grevenhagen saß wieder auf dem seidenüberzogenen Empiresesselchen mit den goldenen Emblemen an dem Mahagoniholz, steif und zart wie das Muster der Tapete. Batist und Spitzen hatten die Tränen aufgenommen, die Hände lagen auf dem dunklen Kleid wie Alabaster auf schwarzem Sockel.
»Gnädige Frau – vergessen Sie die Phantasien eines Kranken. Sie haben jetzt einen Diener, dem Sie befehlen können.«
»Sie sind selbst ein Zauberer, und Sie haben Wahres von mir geträumt – Herr Dr. Wichmann. Ich bin als Kind aus einem alten Schloß in den Wald und zu den Seerosen gegangen. Wir hatten ein weites Land, es war schmutzig, in den Katen wohnten Menschen wie Tiere; ich habe mich gefürchtet, wenn ich allein war. Aber wenn wir über Land ritten zu den anderen Schlössern, wenn die Fenster hell waren und die Männer sehr laut, wenn der Wein floß, dann war ich auch nur nach außen froh. Mein Bruder hat den Wein und die Pferde und die Feste gesucht – mein Bruder ist schön, sehr schön, und sein Degen ist sehr schnell. Ich habe ihn mehr geliebt als irgendeinen anderen Menschen. Hier … ist sein Brief …«
Mit abgewandtem Gesicht reichte Frau Grevenhagen Wichmann das Blatt.
Er sah hinein.
»Ich verstehe die Sprache nicht, gnädige Frau.«
»Niemand versteht meine Sprache.«
Frau Grevenhagen faltete das Blatt wieder zusammen. »Wir sind keine Deutschen.« Sie sah Wichmann an, und er begegnete ihrem Blick mit einem Gefühl, das er selbst noch nicht kannte und vor seinem eigenen Bewußtsein nicht auszudrücken vermochte.
»Ich bitte Sie darum, gnädige Frau, mir den Brief Ihres Herrn Bruders zu erklären.«
»Sie werden mich verachten.« Unruhe kam über die Hände, die Augen sahen zur Wand.
»Ich werde versuchen, Sie zu behüten wie etwas, was mir heilig ist.«
Es waren nicht nur Worte. Die Bitte hatte den Mann gewandelt. Er wußte, daß eine schöne und erfahrene Nixe mit ihm gespielt hatte, er wußte es bis zur Überdeutlichkeit. Dennoch zürnte er ihr nicht, er liebte sie immer noch, weil sie verschüttete Träume in ihm geweckt hatte und weil er glaubte, daß sie selbst litt.
Er spürte nichts mehr als den verzehrenden Wunsch, sie zu beschützen und zu beglücken. Die Erregung seines Körpers hatte sich in eine seelische Schwingung verwandelt. Was alle seine Vorsätze und Kämpfe, all sein Zerren und Entschließen nicht vermocht hatte, war durch das Bild der Phantasie in einem Augenblick geschehen. Eine Bittende stand vor ihm, und der Ritter wollte ihr Zuflucht geben. Ein Schwert lag zwischen ihr und ihm, und die Entfernung war ihm höhere Wollust.
»Die Schande, sich an einen Fremden zu wenden …«
»Warum quälen Sie sich selbst, Frau Marion? Ich bin Ihnen nicht fremd. Meine wenigen Fähigkeiten und Mittel gehören Ihnen.«
»Ich will meinen Bruder nicht verteidigen. Er ist leichtsinnig, ich weiß es. Er ist immer wieder leichtsinnig. Aber er ist schön und jung. Er ist ein Offizier … er … er … Sie müssen verstehen, daß mein Gatte sehr hart denkt …«
»Ihr Herr Bruder hat Ehrenschulden?« fragte Wichmann.
»Ja.« Marion sah an Wichmann vorbei. »Wir sind keine Bettler. Unser väterliches Gut wird es bezahlen, aber nicht heute, auch morgen. Erst nach der nächsten Ernte – der Absatz stockt jetzt – der Verwalter klagt, die Zeiten sind schlecht, die Preise fallen. Mein Bruder …«
Die Hände zerrissen das Tuch aus Batist und Spitzen.
»Wieviel brauchen Sie, gnädige Frau?«
Zum erstenmal sah Oskar Wichmann in den Wangen Marions das Blut rosarot aufsteigen.
»Es ist viel, was ich brauche, Herr Dr. Wichmann. Ich habe zwar … Ich kann einiges aufbringen … den größten Teil aufbringen … aber … es fehlen noch …«
»Sprechen Sie frei, gnädige Frau.«
»Zwanzig … zwanzigtausend Mark.«
Wichmann erschrak. Das war sein ganzes bares Erbteil.
Marions Hände flogen.
»Sie erhalten Wechsel, Herr Dr. Wichmann. In acht Tagen muß sich mein Bruder … erschießen …«
»Sie werden über die Summe verfügen, gnädige Frau. Ich muß allerdings die Papiere erst verkaufen. Ich bin leider mit Glücksgütern nicht so gesegnet.«
Ehe Wichmann es hindern konnte, hatte Marion seine Hände geküßt.
»Ich danke Ihnen. Wie soll ich Ihnen danken?«
»Nicht, gnädige Frau. – Ich … in welcher Form? Das ist das einzige, was wir in dieser Sache noch besprechen wollen.«
Marion zog ein Notizbuch hervor und schrieb einige Worte auf eines der Blätter. Als Wichmann den Zettel in die Hand nahm, erkannte er, daß er dem glich, den er bei sich trug.
»Das Konto unserer Gutsverwaltung. Im Ausland. Wenn Sie die Summe – oder die Papiere – dorthin überweisen können? Ich stelle Ihnen den Schuldschein persönlich aus – oder ziehen Sie Wechsel vor?«
Marions Lippen zitterten, und Wichmann schämte sich.
»Bitte, gnädige Frau, wählen Sie die allereinfachste Form.«
»Dann … wenn Sie mir Papier und Tinte … verschaffen … wollen.«
Wichmann brachte das Gewünschte. An dem kleinen Sekretär nahm Marion Platz. Mit unsicheren Zügen schrieb sie auf Oskar Wichmanns Briefpapier.
»Von Herrn Dr. Wichmann zwanzigtausend Mark erhalten zu haben bestätigt
Marion Grevenhagen«
Wichmann legte das Blatt in seine Brieftasche, neben den ersten Gruß von Marions – Marions? – Hand.
»Gnädige Frau, ich werde die Überweisung veranlassen.«
Frau Grevenhagen stand auf. Sie taumelte, Oskar Wichmann stützte ihren Arm und führte sie.
»Darf ich Ihnen eine Stärkung anbieten?«
»Nein. Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich werde daran denken, daß Sie meinen Bruder und mich gerettet haben.«
Im Märzmittag mit seiner sonderbar feuchten, bedrängenden Frühlingswärme sah Oskar Wichmann die schmale dunkle Frauengestalt durch das Rosentor zurückgehen.
Er saß an seinem Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände.
Den Brief für die Geheimrätin von Sydow hatte er Martha übergeben.
Er verließ das Haus und fuhr zu einem ferngelegenen Wald und einem See, um mit sich allein zu sein. Seine Gedanken setzten aus. Er wußte nichts, als daß er da und daß etwas um ihn war, und betrachtete sich selbst, das Wasser, den Sand und die Bäume mit einer ihm selbst fremdartigen Neugier.
Seine Füße gingen leicht und rasch. Die Wanderschuhe von gewollter Derbheit prägten ihre Spur in den von Feuchtigkeit festgebackenen Ufersand. Wichmann empfand die Schattierungen seiner eigenen in dunklem Grün gemusterten Hülle und die einsame Vorfrühlingslandschaft als etwas einander Angepaßtes. Die Haut seiner Wangen sprang auf; der Wind, der über den See kam, wühlte in den Haaren des Wanderers und sang in den Bäumen. Der Himmel war licht, aber über der Ferne der Erde lag eine Nebelhülle, die die Ufer jenseits der Wasserfläche verbarg. Das Auge glaubte über den Spiegel in das Unbegrenzte zu sehen. Unter dem Streichen der Luft kräuselten sich Wellen und kamen zum Ufer heran. Sie brachten altes Holz und zerbrochene Muscheln. Der Wanderer blieb stehen und sah den Wellen zu, die mit bräunlichem Schaum am Sandstrand aufwärts glitten und wieder zurückflohen. Das Element, das die Meere füllen und die Felsen brechenkonnte, spielte hier ein melancholisches, sich unendlich wiederholendes, sachtes Spiel. Einmal leckte es dem Menschen um die Füße, und er wich zurück, während er sich selbst ob seiner törichten Furcht schalt. Aber es war ihm gewesen, als ob die Pfoten einer sehr großen Katze nach ihm taste, um ihn zu greifen.
Seine Schritte gingen weiter, am leeren Strand, auf verlorenen Waldwegen. Verästelte Eichkronen streckten sich in die Feuchtigkeit und die Sonnenwärme der Luft und ließen ihre schlafenden Triebe umstreicheln. Die winterharten Nadeln der Kiefern sahen grau und überlebt aus. Die Krähen krächzten und entfalteten das schwarze Gefieder; sie waren noch hungrig. Am Ufersteg schaukelte ein Kahn, den der Winter leck gemacht hatte. Wasser stand darin, und die Farben waren ausgelaugt.
Es lag eine gewisse Ruhe über dem Land nach dem Ausgang des harten Winters. Was dem Frost erlegen war, war nun tot. Aber neben dürren Halmen kroch ein grünes Blatt hervor, es schwoll von Leben und Saft auf, als habe es den Tau im Winde gerochen, und reckte sich. Was kümmert es dich, du an den Boden Gebundenes, daß der Himmel so fern ist? Du lebst, und seine Sonne gehört auch dir.
Die Gelenke und Muskeln des Mannes waren beweglich und kräftig, und er lief, ohne zu ermüden. Das Gefühl der Bewegung war es, was er suchte, die Rastlosigkeit des Weiterschreitens und des Hintersich-Zurücklassens, deren Anstrengung genügte, um Herz und Hirn in ihren Bann zu nehmen. Als die Stunde vorrückte und der Wanderer sich einer neuen Bucht näherte, hoben sich die Mittagsnebel von den Ufern. Eine Flut von Silber ergoß sich aus der Himmelshöhe über die Wasser. Dunkle Waldrücken säumten und hegten den See.
Der Wind war eingeschlafen. Die Stille der Landschaft, die Reglosigkeit der Wasser, die Trauer der dunkelgrünen Nadelbäume hatten etwas Leeres, den Willen Aufsaugendes an sich.
Oskar Wichmann freute sich über den beginnenden Hunger, der ihn das Wirkliche und Bedürftige seines Daseins empfinden ließ. Er hatte kein Stück Brot bei sich, und der Wald und das Wasser dehnten sich weit. Sein Verstand begann zu arbeiten wie der eines nahrungsuchenden Tieres und sah sich selbst bei dieser Tätigkeit zu. Die Schritte hielten unwillkürlich an, das Auge prüfte Richtungen, und die Einbildungskraft kehrte aus der empfindsamen Hingabe an die Natur um zu dem Aufspüren der Wahrscheinlichkeit menschlicher Niederlassungen. Die unfruchtbaren Waldufer gaben kein Zeichen davon, aber die flachen Buchten in der Ferne ließen die Flecken roter Ziegeldächer erkennen. Der Richtungsweiser war gefunden.
Die Sonnenstrahlen strichen schon flach über die Erde, als Oskar Wichmann in das einstöckige Gasthaus eintrat und Malzkaffee, Brot, Butter und Wurst erhielt. Der geheizte Raum war nicht hell, die Fenster waren klein. Einfache Stühle und Tische mit blauen Decken, billige Fabrikware, möblierten die Gaststube. In der Ecke saßen zwei einheimische Männer, Landwirte oder Handwerker, sie tranken Bier und rauchten. Oskar Wichmann aß Brot und Schinkenwurst in großen Bissen. Mit Willen ließ er seine Gedanken im Realen spielen und mußte lächeln bei der Vorstellung, was die beiden Männer in der Honoratiorenecke wohl dazu gesagt hätten, daß ein Doktor der Rechte sein Erbteil von zwanzigtausend Mark einer schönen Dame gegen einfachen Schuldschein ohne Zins und ohne Rückzahlungstermin ausleihen wollte. Wahrscheinlich hätte sich ihre Überzeugung von der Minderwertigkeit einer solchen Handlungsweise nicht ändern lassen, auch wenn sie von dem Reichtum, der Beamteneigenschaft und unantastbaren persönlichen Ehrenhaftigkeit des Gatten dieser Dame erfahren hätten. Oskar Wichmann wurde sich klar, daß er vorläufig sparen mußte; die Zinsen der ausgeliehenen Summe würden ihm fehlen. Doch das Regierungsratsgehalt, das ihm in Aussicht stand, konnte davon manches ausgleichen. Sein Entschluß brauchte im übrigen nicht endgültig zu sein, wenn er nicht wollte. Er konnte die Überweisung immer noch unterlassen und den Schuldschein zerrissen zurückschicken. Eben diese Freiheit aber, die ihm blieb, bestärkte ihn in seinem Vorsatz. Auch Marion hatte nicht geschäftlich gehandelt, als sie unterschrieb, erhalten zu haben, was sie noch gar nicht besaß.
Oskar Wichmann wurde immer mehr zumute wie einem Menschen, der eine steile Höhe gewonnen hat und sich mit nachlassender Muskelspannung auf den Boden wirft, um das Erreichte zu genießen, die verlassene Tiefe zu überschauen – und nicht an das Kommende zu denken. Eine ungeheure Spannung hatte ihn verlassen, er fühlte sich locker und befriedigt; es war etwas von ihm abgefallen; er spürte die Befreiung. Das Hoffnungslose seiner Sehnsucht war getilgt, seine drängende Phantasie löste sich in einer Tat, wenn auch in einer überraschenden und sehr andersartigen, als er geträumt hatte. Marion hatte ein Geheimnis mit ihm. Auf diese Weise hatte sie sich ihm gegeben, sie war nicht mehr das vollständig Unerreichbare. Sein finanzielles Risiko dabei belastete den jungen Mann wenig. Er fühlte sich gesund, begabt und arbeitsfähig; sein Vorwärtskommen schien gesichert, und seine Ansprüche an Wohlleben waren nicht übermäßig. Er konnte verzichten, ohne sich zu kränken. In seinem Vaterhause war von Geld nie gesprochen worden, die materielle Seite des Daseins beschäftigte dieses Haus einer durch das Vermögen der Vorfahren gesicherten, pensionsberechtigten, ganz auf die geistige Leistung gerichteten Existenz kaum. Der studierende Oskar Wichmann hatte zudem zwischen ehemaligen Kriegsteilnehmern und verarmten Rentnersöhnen gelernt, daß Armut keine Schande sei. Mochten zwanzigtausend Reichsmark vorläufig dazu dienen, einem eleganten und unwürdigen Offizier das Leben zu verlängern, weil seine Schwester geliebt wurde. Wichmann gestand vor sich selbst nicht im geringsten ein, daß die Sicherheit, die in dem Namen Grevenhagen lag, für seinen scheinbar unbekümmerten Entschluß eine unterirdische Rolle spielte.
Er bestellte sich noch ein Viertel Wurst und ein dunkles Bier und gab seiner Zunge und seinem Magen damit, was sie im Augenblick begehrten. Wichmann wollte nicht in seinen eigenen Fußstapfen zurücklaufen. Der Wirt erklärte einen anderen Weg zur Bahn, der allerdings auch weit und zeitraubend war, aber doch neue Eindrücke versprach.
Oskar Wichmann brach auf, setzte seine Beine in Marsch und beobachtete mit Ernst die Kilometersteine, das Schwinden der Sonne und das Laufen des Uhrzeigers. Als er auf der schlecht gepflasterten Landstraße zwischen kahlen Obstbäumen und aufgepflügten Feldern die Station erreichte, brauste der Zog mit der altertümlichen Lokomotive heran und nahm ihn in einem der kleinen Abteile mit. Es roch darin nach kaltem Rauch.
Die Laternen brannten schon, als der Ausflügler heimkehrte. Die Straße, seine Wohnung waren verwandelt, ein Zauberduft war verflogen. Alles stand nackend da in seiner Wirklichkeit.
Martha war ausgegangen. Die Geheimrätin klopfte und fragte liebenswürdig nach späten Wünschen ihres Mieters. Er half in der Küche und trug sich Tee und Ei auf den Tisch, den die kleinen dicken Finger seiner Betreuerin gedeckt hatten.
Frau von Sydow ließ sich in dem Klubsessel nieder, während der Assessor trank und aß.
»Wir haben noch gar nicht davon gesprochen … Ich danke Ihnen vielmals für die Übermittlung des Briefes! Er hat eine alte Photographie enthalten, die zu besitzen schon lange mein Wunsch war. Meine Verwandten hatten mir das Bild versprochen, und die Sache wurde doch immer wieder vergessen. Hat Frau Grevenhagen Ihnen erzählt, wieso bei ihrem Besuch gerade auf mich und auf diese Bilder die Rede kam?«
»Ich erinnere mich nicht, daß sie darüber etwas sagte.«
»Sehr, sehr schade, daß ich nicht zu Hause war. Es ist wirklich ungemein gefällig von Frau Grevenhagen gewesen, die Sache persönlich zu übermitteln, obgleich unser Verkehr nach dem Tode meines Mannes ganz eingeschlafen war. Ich werde mich natürlich noch bedanken. Welchen Eindruck macht Ihnen Frau Grevenhagen denn nun?«
»Eine vornehme Dame. Ich finde nichts Auffälliges an ihr.«
»So … so. Ja, ich freue mich, die Verbindung mit dieser Familie wieder aufzunehmen. Sie hatten also gesagt, daß Sie hier wohnen?«
»Das hatte ich wohl einmal erwähnt.«
»Daran taten Sie recht. Schmeckt es Ihnen? Sind Sie denn satt?«
»Danke, vollständig.«
Wichmann half, das Geschirr hinaustragen.
Als er wieder allein unter seiner grünen Stehlampe saß, zog er die Brieftasche hervor und holte die Papiere aus dem sonst nicht benutzten Fach ans Licht. Er studierte die zitternde Schrift auf dem Schuldschein und legte das Notizblatt mit den Bleistiftzügen »Boston nach der Pause. M. G.« daneben.
Lange saß er davor.
Glich sich nun die Schrift, oder glich sie sich nicht? Bei dem flüchtigen Gedächtnisvergleich, der ihn an jenem Morgen nach dem Ball auf Grund der Briefadresse möglich geworden war, hatte er keinen Zweifel mehr gehabt, daß der Zettel von Marions Hand beschrieben war. Jetzt fiel ihm auf, daß vieles zwischen den beiden Schriftproben nicht übereinstimmte. Einzelheiten, die Richtung der Buchstaben, aber auch der ganze Zug, waren für das genau prüfende Auge nicht gleich. Selbst wenn man die Verschiedenheiten der Umgebung, der Stimmung, des Inhalts berücksichtigte, wurde es immer unwahrscheinlicher, daß die »Aufforderung zum Tanz« von der Schreiberin des Schuldscheins geschrieben sein könne. Aber wie? Wer konnte zu einem Zettel aus Marions Notizbuch gekommen sein? Wichmann hatte auch davon ein Zweitstück, mit der Angabe des Gutskontos. Die Zettel stimmten haargenau überein. Aber die Schrift, nein, die Schrift war wirklich verschieden. Also hatte doch jemand gewagt, Marions Schriftzüge nachzuahmen?
Wer?
Borowski oder Nathan konnten sich einen solchen Zettel kaum verschafft haben, und woher sollten sie Frau Grevenhagens Schrift kennen? Es war auch unwahrscheinlich, daß ein zweiter einen Notizblock derselben Art besaß, da er englisches Erzeugnis zu sein schien.
Sonderbar.
Wer war denn nun der Schuft? Oder hatte Marion selbst ihre Schrift verstellen wollen? Dann wäre es leicht gewesen, sie noch viel mehr zu verändern.
Sollte Wichmann die beiden Proben einem Schriftsachverständigen vorlegen? Nein. Der Name Grevenhagen war zu kostbar dafür und die Sache nicht mehr wichtig genug. Größere Dinge waren unterdessen geschehen.
Der Assessor barg die Papiere wieder in seiner Brieftasche.
Dann öffnete er den Schreibtisch, holte die Duplikate des Wertpapierverzeichnisses und des Kontoauszuges hervor, die ihm seine Bank zugesandt hatte, und rechnete mit Hilfe des Kurszettels.
Sein Vermögen reichte für die Kreditgewährung aus. 1500 RM konnte er sogar noch für sich behalten.
Morgen wollte er die Angelegenheit auf der Bank regeln, ehe er sich in den Dienst begab.
Als Oskar Wichmann am Morgen in dem Schalterraum der Bank stand, konnte er sich der nüchternen Feierlichkeit des Nur-Geschäftsmäßigen nicht ganz entziehen und legte das Verzeichnis der zu übereignenden Wertpapiere und des Spitzenbetrages in bar mit der verborgenen Unruhe eines Verbrechers vor. Er stand etwas steifer als sonst, sein Blick war schärfer, wie in Abwehr gemutmaßter Schwierigkeiten. Seine Stimme hatte etwas gewollt Gleichgültiges. Der ältere Bankbeamte las das Verzeichnis und die Angabe des Kontos, dem der Wert überwiesen werden sollte, und prüfte die Kurse nach. Er erlaubte sich, die Brauen hochzuziehen und Oskar Wichmann anzusehen, aber er sagte nichts und schob dem Kunden den Block mit dem vorgedruckten Überweisungsformular hin. Als Wichmann ausgefüllt und unterschrieben hatte, wurde seine Anweisung weitergegeben. Er hörte gedämpfte Bemerkungen der Beamten untereinander; der ältere, der ihn bedient hatte, wandte den Kopf noch einmal halb, ein letzter erstaunter Blick traf Wichmann, dann war der Auftrag im Geschäftsgang.
Oskar Wichmann bereute es nachträglich, bei der Überweisung auf das Gutskonto hinzugefügt zu haben: »Für Frau Marion Grevenhagen.« War es notwendig, ihren Namen den tuschelnden Bankleuten preiszugeben? Aber Wichmann kannte den Namen des leichtsinnigen Bruders nicht.
Der Weg zum Ministerium war von der Bank her weiter als von der Kreuderstraße. Wichmann gelangte zu der Ostseite des Königsplatzes, und da die Zeit längst über die Stunde des Dienstbeginns hinaus drängte, erlaubte er sich, gleich den Haupteingang zu benutzen. Der Fahrstuhlführer grüßte freundlich und ließ den Assessor in den Aufzug eintreten; er drückte auf den Knopf, und schon war der zweite Stock erreicht.
Wichmann wollte den grauen Korridor entlanglaufen und gedachte einen Moment des Tages, an dem er zum erstenmal seine Schritte hierher gelenkt hatte. Trotz seiner Verspätung blieb er eine Sekunde stehen und schaute aus der Erinnerung heraus nach dem elektrischen Lichtschein aus dem Melde- und Botenzimmer und nach den hohen hellgrauen Türen rechter Hand. Überrascht stockte sein Fuß, den er schon wieder hatte in Bewegung setzen wollen. Vor dem Raum Nr. 411, in den man nur durch das Vorzimmer einzutreten pflegte, stand ein Herr in dunkelgrauem Anzug, eine Aktenmappe unter dem Arm, mit etwas seitlich gehaltenem Kopf, als ob er lausche. Seine mittelblonden Haare wuchsen frisch gewaschen in die Höhe. Er sah sich jetzt schnell nach beiden Seiten um, jedoch nur sehr flüchtig und ohne Wichmann zu bemerken. Dann machte er zwei Schritte auf den Zehenspitzen an die Tür heran, duckte sich und spähte durch das Schlüsselloch.
Wichmann war starr, nicht nur aus dem Bestreben, unbeobachtet zu bleiben. Das Bild, das er von Art und Benehmen eines hohen Beamten aus seinem Vaterhause mitgebracht hatte, erhielt einen kräftigen Stoß. War es möglich? Herr Ministerialrat August Nischan lauschte und spitzelte an den Türen seiner Kollegen.
Es war ein widerlicher Anblick.
Wichmann ging weiter und ließ seine Schritte absichtlich hören. Nischan entfernte sich von der Tür, lief Wichmann noch voraus um die Ecke herum und verschwand in der Handbücherei.
Der Assessor suchte sein Zimmer auf. Die Ulmen im Hof standen noch kahl und streckten die Spitzen ihrer Zweige sehnsüchtig in die Morgensonne. Über die Fliesen zwischen den Rasenbeeten lief ein breitschultriger Heizergehilfe, der neu eingestellt war und zu Wichmanns Verdruß den alten Hauskater zu ärgern pflegte.
Wichmann arbeitete nach langer Zeit zum erstenmal wieder mit sachlichem Interesse.
Er war nicht erfreut, als um halb elf Uhr Fräulein Hüsch ungerufen bei ihm eintrat, doch mußte er sich gestehen, daß er in dem Leichtsinn glücklicher Erwartung diesem Mädchen mehr Liebenswürdiges gesagt und mehr für sie getan hatte, als daß ihr seine Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Person noch wahr erscheinen konnte. Freundlich aus einem gewissen Schuldbewußtsein bot er den Stuhl an. Die Bibliothekarin trug heute das Kostüm, in dem er sie kennengelernt hatte.
»Wie geht’s Ihnen denn, Herr Wichmann?«
»Danke – gut!«
»Sie sind jetzt immer so komisch. Die Kollegen beklagen sich über Sie, aber ich kann mich ja nicht beklagen, und ich möchte Sie heute warnen. Wissen Sie etwas über Ihre Ernennung?«
»Ich habe mich darum nie gekümmert.«
»Das scheint so. Aber vielleicht wär’s ganz gut, wenn Sie sich jetzt mal drum kümmerten.«
»Warum? Was gibt’s denn für neue Gerüchte?«
»Sehr ernsthafte. Die Sachen werden dieser Tage unterschrieben. Und … na, ich möchte Sie ja nicht unnütz aufregen …«
»Das wird Ihnen auch nicht so leicht gelingen.« Trotz dieser Versicherung rückte Wichmann nervös an den Buntstiften, deren Farbe an Dienstgrade gebunden war.
»Aber Sie müssen doch mal was tun, ehe es zu spät ist. Sie scheinen nämlich von der Liste verschwunden zu sein.«
»Ach? Auf ebenso wunderbare und plötzliche Weise, wie ich damals auf die Liste gesetzt worden sein soll?«
»Ja! Das kann vorkommen. Also überlegen Sie sich, was zu tun ist. Sie können doch mit Grevenhagen reden. Ich an Ihrer Stelle ginge sofort zum Chef.«
»Es wird sich alles historisch abwickeln, gnädiges Fräulein. Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?«
»Nein, danke. Ich muß dem Korts noch einen Besuch machen. Ist es übrigens wahr, daß Schildhauf seine Freundin abgeschafft hat.?«
»On dit.«
»Hi … hä … Schildhauf ist kein übler Mensch. Mögen Sie ihn?«
»Nicht ungern.«
»Na, wir werden ja sehen. Also Hals- und Beinbruch! Bleiben Sie nicht so apathisch. Der Borowski soll sich nicht freuen können, daß Sie sitzenbleiben! Dieser Kerl als Regierungsrat und Sie immer noch Assessor, das wäre ja lächerlich! Also adio!«
»Au revoir!«
Als Wichmann wieder allein war, fing eine Saite in ihm an zu summen. Mit dem Regierungsratsgehalt hatte er gerechnet!
Er ließ sich bei seinem Vorgesetzten melden. In der Viertelstunde, die er zu warten hatte, arbeitete er ohne rechte Konzentration weiter. Er sah häufig auf die Uhr. Um elf ging er hinüber in das Vorzimmer mit den hellen Möbeln und der schwarz gekleideten Sekretärin. Am Fenster standen zwei Hyazinthen, die in Rosa und Blau aufblühten. Die Tasten der Adlermaschine klapperten in rascher Folge.
»Einen Augenblick bitte, Herr Assessor, Herr Ministerialrat Grevenhagen ist noch in Anspruch genommen.«
Wichmann saß auf dem Stuhl neben dem runden Tisch und wartete. Am Ständer hingen ein Hut und ein Überzieher. Der Besucher des Ministerialrats schien nicht dem Ministerium anzugehören. Wer war es? Eine so interessante Persönlichkeit, daß es sich für Herrn Nischan gelohnt hatte, an der Tür zu lauschen? Aber es war nicht gesagt, es war sogar unwahrscheinlich, daß dieser Herr sich schon seit zehn Uhr, also nun eine Stunde lang, bei Grevenhagen aufhielt. Die Neugier Nischans mochte sich auf einen anderen Besucher gerichtet haben.
Die Zwischentür ging zögernd auf. Man hörte durch den Spalt Stimmen.
»In diesem Sinne! Es war mir sehr interessant, Ihre Meinung zu hören, Herr Ministerialrat.«
Der sich Verabschiedende kam in das Vorzimmer heraus. Es war ein Herr in mittleren Jahren, vielleicht um die Vierzig. Ohne daß Wichmann hätte sagen können, warum, hielt er den Fremden eher für einen Geschäftsmann als für einen Beamten. Seine Bewegungen waren selbstbewußt, seine Stimme klang etwas laut. Er nahm jetzt Hut und Mantel, grüßte Fräulein du Prel mit Betonung, ohne mehr als das flüchtighöfliche Kopfnicken der Sekretärin zu erreichen, und verließ das Vorzimmer. Als seine Schritte draußen verklangen, erschien Grevenhagen an der Zwischentür, um den Assessor hereinzubitten.
»Wollen Sie bitte Platz nehmen. Ich muß Sie noch einen Augenblick um Geduld bitten.«
Der Ministerialrat las ein Schriftstück durch und machte sich darinmit Blaustift verschiedene Merkzeichen. Wichmann beobachtete ihn dabei. Er sah die Züge, die um die Mundwinkel abwärts führten, die scharfe und gerade Nase, die gewölbte Stirn mit den etwas eingefallenen Schläfen. Das war der Mann, der hart geblieben war, als Marion sich in Angst um den Bruder gewunden hatte. Aus dem blassen Nordhimmel seiner Augen hatte er dieses Geschöpf betrachtet, in dem das Blut geheimnisvoller kreiste und dessen Körper weich war. Er hatte nein gesagt. Vielleicht hatte Marion gezittert und vergeblich gesucht, sich an ihn zu lehnen. Er war ruhig geblieben; mit gleichmäßigen ritterlichen Manieren und beherrschter Stimme hatte er sie abgewiesen. Sie, die ihm mit ihrem Körper gehören mußte, lag die Nächte hindurch mit schmerzenden Augen wach, bis sie bei einem Fremden Hilfe suchte.
»Was führt Sie zu mir, Herr Assessor?«
Wichmann schrak unter der Stimme auf.
»Eine persönliche Frage, Herr Ministerialrat. Einige Dispositionen, die ich jetzt treffen muß, machen es mir wichtig, etwas über die ungefähren Aussichten und Möglichkeiten meines beruflichen Vorwärtskommens zu erfahren.«
Über die Seele des Vorgesetzten schien der zweite, der eiserne Vorhang herunterzugehen. »Darüber kann ich Ihnen leider keine bindende Auskunft geben, Herr Assessor!«
»Das habe ich auch nicht erwartet, Herr Ministerialrat. Ich bin noch nicht lange hier, und ich weiß nicht, ob meine Arbeiten Ihre volle Zufriedenheit verdient haben. Meine Frage geht nur auf einen allgemeinen Rahmen, auf die üblichen Möglichkeiten.«
»Auch da bin ich leider überfragt, Herr Assessor. Obwohl die Stufen des Avancements festliegen, ist über die Zeit, in der man die einzelnen erreicht, nur schwer etwas zu prophezeien. Das Tempo wechselt, von Person zu Person und von Mal zu Mal. Die Umstände, die mitsprechen, sind sehr vielfältig, und speziell in Ihrem Falle gibt es keinerlei Erfahrungsregeln, denn Herr Casparius und Sie sind für uns ernennungstechnisches Neuland. Sie beide sind die ersten Herren, die in unser Ministerium schon als Assessor und nicht erst als Regierungsrat einberufen wurden.«
»Die Hoffnung, bei den jetzt bevorstehenden Ernennungen schon mit einer Planstelle berücksichtigt zu werden, würde wohl sehr vermessen sein?«
Grevenhagens verdeckter Blick schien sich auf das Schriftstück zu richten, in dem er die blauen Merkzeichen gemacht hatte.
»Ich müßte Sie bitten, sich hierüber mit der Personalabteilung unmittelbarin Verbindung zu setzen. Die Entscheidung über die Ernennungen hängt nur in geringem Maße von mir persönlich ab.«
Wichmann war wie einem Fechter zumute, dessen Stöße nicht berühren. Er war erregt.
»Dürfte ich bei einer solchen Vorsprache voraussetzen, daß ich von der Abteilung aus vorgeschlagen bin?«
»Für eine Auskunft hierüber ist der Abteilungsleiter, Herr Ministerialdirektor Boschhofer, allein zuständig. Wenden Sie sich an ihn.«
»Ich möchte keinen Schritt tun, Herr Ministerialrat, aus dem von irgendeiner Seite geschlossen werden könnte, daß ich mit der Behandlung meiner Personalangelegenheiten unzufrieden sei.«
»Das steht nicht zu fürchten. Sie können Herrn Ministerialdirektor Boschhofer sagen, daß ich Sie gebeten habe, sich an ihn unmittelbar zu wenden.«
»Ich danke, Herr Ministerialrat.«
Der Assessor ging. Ja – Grevenhagen, das war der Mann, der Marion hatte abweisen können. In Wichmann begehrte es auf. Ein weniger aalglattes Verhalten seines Vorgesetzten glaubte er durch seine Leistungen verdient zu haben.
Es war ihm jetzt unmöglich, seine Arbeit wiederaufzunehmen. Er griff nach dem Telefon und meldete sich bei Boschhofer an.
»In einer halben Stunde«, gab Frau Laura Lundheimer Bescheid.
Auch diese halbe Stunde ging vorüber, und Wichmann erschien im ersten Stock.
Frau Lundheimer hatte den Kostümrock eng um die dicken Hüften gespannt. Die Ärmel ihrer Bluse waren kurz, der Ausschnitt tief. Unter nachgezogenen Augenbrauen schauten die Augen auf den eintretenden Assessor. Die Hände gaben das Spiel über den Tasten auf.
»Guten Morgen, Frau Lundheimer …«
»… Herr Doktor! Es tut mir furchtbar leid – der Ministerialdirektor ist noch nicht da. Wollen Sie noch etwas Platz nehmen und warten?«
Wichmann setzte sich.
Frau Lundheimer betrachtete das junge Blut mitleidig-verständnisvoll und gesprächslustig. »Nun sind Sie schon ein paar Monate in unseren Arbeitsräumen. Ich erinnere mich noch gut, wie Sie hierherkamen.«
»Ja. Im Herbst. Und nun sitze ich da, immer noch Assessor!«
»So ehrgeizig?«
»Nicht einmal. Aber ich möchte jetzt einiges für meine Zukunft festlegen.«
Frau Lundheimer lachte. »Da haben Sie recht. Sie wollen sich doch nicht etwa verloben? Weil Sie von Zukunft sprechen?«
»Das kommt ja für unsereinen gar nicht in Frage, Gnädigste. Bei dem Tempo der Beamtenkarriere muß man entweder Privatvermögen haben oder Schlaganfallkandidat werden – und dann seine Pflegerin heimführen. Vorher reicht es nicht zum Heiraten.«
»Oh!« Frau Lundheimer legte den Kopf schief und blickte neckisch.
»Sind alle Frauen so anspruchsvoll? Steht es wirklich so schlimm um Sie?«
»Natürlich. Sie wissen doch, daß ich von der Liste wieder gestrichen worden bin.«
»Wirklich? Warum vermuten Sie das? Haben Sie irgendeine Dummheit gemacht?«
»Vielleicht bin ich im Mondschein über Dächer gewandelt, ohne es zu wissen. Haben Sie mich nicht beobachtet?«
Frau Lundheimer schüttelte die festgerollten blondierten Locken. »Sie haben noch Humor, Herr Doktor. Nein, ich beobachtete gar nichts. Aber überlegen Sie selbst! Vielleicht finden Sie den Grund Ihres Mißgeschicks heraus? An irgend etwas muß es doch liegen!«
»Mein Verstand geht ebenso zu Ende wie das Rechnungsjahr, Gnädigste. Meine Harmlosigkeit ahnt ja nicht einmal, was für Beweggründe hier überhaupt über Ernennung oder Nicht-Ernennung zu entscheiden pflegen.«
»Ja, wer soll das sagen? Die Leistung natürlich und das Dienstalter und wohl auch die sozialen Verhältnisse … und was dann eben noch so dazukommt, wenn die Waagschale schwankt.«
»Was sind das dann noch für rätselhafte Gewichte?«
»Tscha, wir sind alle Menschen, Herr Doktor. Ministerialdirektor Boschhofer scheint Ihnen sehr gewogen zu sein.«
»Und wer ist mir nicht gewogen?«
»Wer soll das wissen? Eine Ernennung durchläuft einen langen Instanzenweg. Wesentlich ist natürlich die Stellungnahme Ihres eigenen Referenten, möchte ich meinen.«
»Des Ministerialrats Grevenhagen? Ist er mir weniger gewogen?«
»Mit Bestimmtheit kann man dergleichen weder behaupten noch bezweifeln. Aber glauben Sie nicht auch, daß Grevenhagen furchtbar empfindlich ist?«
Wichmann betrachtete seine Finger auf der runden Tischplatte.
»Gilt er dafür?«
»Man sagt es, beklagt es, aber das müssen Sie ja als sein Untergebener am besten wissen. Ich habe kaum etwas mit Grevenhagen zu tun. Sie haben ihn doch nicht irgendwie gereizt?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Es ist den Herren manchmal schwer, Persönliches und Dienstliches auseinanderzuhalten. Die Mannesnatur ist so kompliziert – leicht verletzbar – als Sekretärin weiß ich davon leider mehr als genug zu erzählen.«
»Liebe Frau Lundheimer, es ist mir bekannt, daß Sie Ihre Schweigeverpflichtungen auf das peinlichste einhalten. Ich möchte Sie auch gewiß nicht verführen, in bezug auf meine Person irgendeine Ausnahme zu machen. Aber Sie begreifen, daß es mir darum zu tun ist zu erfahren, was denn nun eigentlich gespielt wird. Können Sie mir nicht – aus menschlichem Gefühl – irgendeine Andeutung machen?«
Frau Lundheimer kräuselte die Stirn und summte eine Tangomelodie: »Gelbe Rosen …«
Der Assessor zog die Finger, die auf der Tischplatte gelegen hatten, zur Faust zusammen.
»Tja, Herr Doktor, ich wüßte nicht, was ich weiter sagen sollte.«
»Ich danke Ihnen.«
Die Sekretärin begann wieder zu tippen, aber ein Anruf unterbrach sie.
»Ja … ja … jawohl, Herr Ministerialdirektor …«
Das Telefongespräch war rasch beendet.
»Das ist ja dumm, Herr Doktor! Der Ministerialdirektor kommt heute gar nicht mehr hierher. Er hat noch eine Besprechung im Staatsministerium und tritt heute abend schon die geplante Dienstreise an. Er wird wohl eine Woche wegbleiben.«
»Dann ist nichts zu machen. Ich danke Ihnen jedenfalls.«
»Vielleicht … in der Personalabteilung direkt haben Sie keine Beziehungen?«
»Dort bin ich persönlich ganz unbekannt.«
»Dann hat es auch keinen Zweck, daß Sie hingehen, gar keinen. Haben Sie mit Grevenhagen schon gesprochen?«
»Ja.«
»Wie ’n Krebs im Gehäuse, nicht? An die Weichteile kommt man bei ihm nicht ’ran. Und dann doch wieder gleich gekränkt. Ein sehr schwieriger Charakter.«
Assessor Wichmann saß wieder in seinem Dienstzimmer und arbeitete unter dem Stachel der Überzeugung, ungerecht behandelt worden zu sein. Wenn eine gröbere Natur dieser Lage vielleicht zum Anlaß genommen hätte, nachlässig oder aufsässig zu werden, so sonnte er sich im Gegenteil in dem Gefühl, untadelig zu handeln. Ja, die dienstlich unberechtigte und kalte Abweisung; die er von Grevenhagen erhalten zu haben glaubte, brachte ihn in eine neue Empfindungsgemeinschaft mit Marion, die unter demselben Manne litt. Er glaubte es ihr, seiner Liebe und sich selbst schuldig zu sein, daß er in einer unangreifbar edlen Haltung blieb, die die erfahrene Ungerechtigkeit um so schwärzer färbte. Nur so würde es ihm möglich sein, die Enttäuschung seines Ehrgeizes, den Spott der Kollegen zu ertragen und um so inniger an die geliebte Frau zu denken. Ihre Gestalt wandelte sich in seiner Phantasie immer mehr und wurde aus einer rätselhaften Schönen zu der Unglücklichen, seiner Hilfe Bedürftigen, für die er der Retter sein durfte, ohne die Gesetze der Ehre und Pflicht zu durchbrechen. Es war ein Reiz besonders feiner Art, der ihn jetzt mit ihr verband.
Den Ministerialrat unterrichtete er nicht davon, daß Boschhofer vorläufig nicht zu sprechen sei. Er war zu stolz, um von Grevenhagen nochmals in der Rolle des Bittstellers zu erscheinen. Er hatte Qualen durchgemacht, um sich von Marion innerlich zu lösen und das Recht des andern zu achten, aber dieser andere scheute sich nicht, eine erbärmliche Rache zu nehmen, wo er seinen Besitz begehrt glaubte. Die Scham, die Oskar Wichmann vor den hellblauen Augen empfunden hatte, war verflogen.
Seine Rolle bei der Tafelrunde um die Mittagszeit fiel ihm jedoch schwerer, als er geglaubt hatte. Das Gerücht von seinem Mißerfolg schien bereits durch alle Türen und Ritzen gedrungen zu sein. Erst sprachen die mitleidig-neugierigen Augen der Kollegen davon, dann die Andeutungen, endlich die offenen Worte. Fräulein Hüsch machte aus ihrem Mitempfinden kein Hehl, aber es war Wichmann unerträglich, von einem Weib bemitleidet zu werden. Er antwortete gereizt. Von allen, die sprachen, war Korts noch derjenige, dessen Meinung man am ehesten Geschmack abgewinnen konnte. Er sagte geradeheraus, daß es sich bei der Karriere um einen Kampf mit Wechselfällen handle. Wichmann habe jetzt Pech gehabt. Der Assessor müsse sehen, wie er die Scharte später einmal auswetze. Casparius blieb, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, ganz still.
Erst auf dem Nachhauseweg begann Wichmann, den vollen Grad seiner eigenen Wut zu bemerken. Als ihn seine Bude vor aller Neugier barg, warf er die Aktentasche mit Heftigkeit auf den Schreibtisch und ließ sich auf den steifen Lehnstuhl fallen. Unfähig sich zu fassen, stierte er nach der grünen Tapete und fühlte die Welle des Zornes in sich steigen wie aufkochendes Wasser. Ausgerechnet Grevenhagen. Er war es wert, daß man ihn hatte schonen wollen! Arme Marion!
Es war finster im Zimmer, als der Assessor sich immer noch nicht gerührt hatte. Martha klopfte vorsichtig. Ob dem Herrn Doktor etwas fehle? Ob er noch eine Tasse Tee wünsche? Oder etwas zu essen?
Nein, danke, er wollte nicht essen. Aber einen Tee – ja, einen Tee bitte.
Martha brachte entgegen der Anweisung auch Eier und Brötchen zu dem Getränk. Der seelisch Verwundete ließ sich diese Pflege stillschweigend gefallen und aß. Als das Geschirr und Martha wieder aus seinem Zimmer verschwunden waren, begab er sich in den Klubsessel, rückte die Stehlampe heran und zog die Brieftasche.
»Boston nach der Pause. M. G.«
»… zwanzigtausend Mark erhalten zu haben …« – »Konto der … Gutsverwaltung …«
Das waren ihre Schriftzüge. Wer litt stärker? Sie? Er selbst? Es war alles zu ertragen im Bewußtsein der Gemeinschaft mit ihr. Aber die Erfahrung Grevenhagen schmerzte noch.
Mit der Oper war es jetzt aus, Oskar Wichmann mußte sich nun auch ein billigeres Zimmer suchen. Er mußte Schluß machen mit der Kreuderstraße. Ach, Marion! Du bleibst bei dem Mann, der dein Haar mit Diademen schmückt und deinen Bruder sterben läßt.
Wichmann glaubte verrückt zu werden, wenn er sich nicht ablenkte. Er mußte seinen Verstand beschäftigen. Womit? Der Inhalt der Zeitung war lächerlich, die Bücher wirkten alle schal, ihre Philosophie war nichts als Papier.
»Boston nach der Pause. – M. G.«
Wie? Wußte er immer noch nicht, wer diese Worte geschrieben hatte?
Es war das einzige Rätsel, das ihn anzog. Er wollte es jetzt lösen. Er befahl sich selbst, die Ernennungsliste aus seinen Gedanken fortzuräumen.
»Boston …«
Nein. Zuerst das Papier. Wer konnte einen solchen Zettel in Besitz gehabt haben? Marion. Wer sonst? Ihr Gatte. Der schied aus anderen Gründen aus. Wichmann lachte leise. Wer sonst? Jemand, der aus Zufall das gleiche englische Notizbuch besaß. Unwahrscheinlich. Wer sonst? Jemand, der sich von Marion einen solchen Zettel erbeten hatte. Möglich? Ja, möglich! Wer konnte sich einen solchen Zettel von Marion erbitten, an dem Abend, in der Stunde, in der er ihn zu seinem Bubenstreich brauchte? Nur jemand, der Marion kannte, vielleicht mit ihr tanzte – oder der mit ihr am Tisch saß. Am Tisch saß? Ja. Hier war weiter zu grübeln. Wer hatte am Tisch dieser Loge gesessen? Grevenhagen – schied aus – Boschhofer … Boschhofer? Nein, Boschhofer schied aus. Von Linck? Unmöglich. Die Silvia? Zu dumm und zu anständig, eine Schrift nachzuahmen. Der Staatssekretär? Phantasielos. Wer noch? Nischan … Nischan … Der Lauscher an der Tür? Nischan? Möglich. Wirklich? Fähig zu einer solchen Albernheit? Nicht ganz wahrscheinlich – doch möglich. Aber wie sollte man ihm auf die Sprünge kommen? Hätte sich Wichmann nicht mit Nathan derart gründlich entzweit, so hätte er den beauftragt, es zu erschnüffeln. Nischan? Es war eine nette Beschäftigung für eine schlaflose Nacht, sich die Wege auszudenken, auf denen man diesem Schleicher unbemerkt nachschleichen konnte.
Wichmann räumte zusammen und legte sich ins Bett. Morgen war wieder ein Tag, an dem er sich von den Kollegen bedauern und anschwatzen lassen mußte. Vielleicht war Casparius an seiner Stelle auf die Liste gekommen und verhielt sich deshalb mucksmäuschenstill. Die Ernennung war dem Tropf zu gönnen. Trotzdem … Wann wohl die Entscheidung bekannt wurde? Hoffentlich bald, damit der Schmerz ausgestanden war. Wenn die Entscheidung vorlag, konnte sich Wichmann um eine andere Stellung bemühen. Konnte er das? Als Assessor? Nach einem knappen halben Jahr Dienst in dem Ministerium? Das machte einen schlechten Eindruck bei jeder Bewerbung. Der Wohlwollendste würde nicht begreifen, warum Wichmann sich einbildete, in so kurzer Zeit schon Regierungsrat sein zu müssen, und andernfalls den Leuten den Krempel vor die Füße werfen wollte. Nein, das war kein Verhalten, mit dem er seiner Zukunft diente. Er war noch angeschmiedet und mußte aushalten. Der Geheimrätin machte er die Eröffnung wegen des Zimmers, sobald sein »Sitzenbleiben« feststand. Sie ließ ihn sicher einmal vorzeitig los, wenn er darum bat. Eine neue Bude wollte er sich bald suchen.
Nischan?
Er hatte keinen persönlichen Kontakt mit diesem widerwärtigen Menschen.
Wichmann mußte sich am Morgen auf den Weg machen, ohne einen bestimmten Plan zur Entlarvung des Verdächtigen gefaßt zu haben. Die ganze Frage erschien ihm im Frühlicht weniger drängend als in der Nacht, deren Dunkel alle Eindrücke ausschloß und nur das Innere arbeiten ließ. Schließlich war die erneute Beschäftigung mit dieser Angelegenheit eine Verstandesübung zur Ausschaltung der Gefühle gewesen, die einen Zurückgesetzten bewegen mußten. – Im Dienst arbeitete der Assessor mit Verbissenheit, und Fräulein Sauberzweig mußte die Lektüre der neuesten Kriminalgeschichte von Wallace in die Zeit ihrer Straßenbahnfahrten verlegen.