Читать книгу Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich - Страница 14
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ОглавлениеOskar Wichmann erinnerte sich später noch an den Herzschlag, mit dem das Gebäude seines Gleichmuts und der bürgerlichen Bescheidung zu wanken begonnen hatte. Es war, als ob sich ein Riß aufgetan habe, ein Riß, der schrie, so, wie Risse schreien, wenn tauendes Eis brechen will. Der Abend war müde gewesen. Die Teiche im Park lagen unbewegt, und Frösche quakten auf Seerosenblättern. In den Steinen der Stadt brütete die Schwüle und strömte in die Dämmerung. Die Reitwege wirbelten staubig auf, wenn die Hufe der verschwitzten Pferde darüber trommelten. Als die Laternen aufblinkten, spielten Mücken ruhelos in ihrem Schein. Der Hochsommer des Jahres 1929 hatte einen frühen Vorboten geschickt.
Die Fenster des Musiksalons waren geöffnet, das Licht der Kerzen spiegelte in dem schlanken Stil der Vase, die Orchideenzweige hielt, und fiel hinaus zwischen Büsche und Rasen. Die Klänge eines persischen Liebesliedes sangen sich vom Flügel fort in die beginnende Nacht, zu dürstenden Bäumen und glitzernden Sternen. Marion lächelte schwermütig. Sie hatte sich dem jungen Mann zugewandt, der am Fenster stand, ihre Augen liefen in die seinen, ihr Kopf neigte sich in den Nacken, so daß ihr Haar aus der Stirn fiel. Die Ahnung des schwülen Tages flutete durch ihren Körper. Oskar Wichmann deckte die Hand über das Gesicht, denn er hätte Marion sonst umschlingen müssen.
Sie war nahe zu ihm herangetreten, und als sie ihre Worte sprach, glaubte er den warmen Atem zwischen ihren Lippen zu spüren.
»Lieben Sie das kleine Mädchen?«
»Marion …« Sein Mund formte das Wort ohne Ton darin.
Er blickte auf den Parkettfußboden hinunter; der Glanz des gepflegten Holzes verschwamm ihm vor den Augen.
»Sind Sie schon mit dem Segel über den See gefahren? Es ist schön, so dahinzugleiten. Wollen Sie mit uns kommen?«
»Wenn Sie es mir erlauben, gnädige Frau …«
Die Augen gingen ineinander. »Mein Gatte und ich würden sich freuen.«
Als Oskar Wichmann nach diesem Abend und nach dem Sonntag, der darauf gefolgt war, wieder an dem Schreibtisch vor der getünchten Wand saß und zu dem Laub der Ulmen hinaufstierte, wußte er, wovon er träumen konnte. Sie trug eine weiße Bluse. Der dünne weiße Wollrock mit den gepreßten Falten schmiegte sich eng an ihre Hüften und ihre Knie und flatterte, wenn die Luft über das Boot zog. Ihre Augen und ihre Wangen schimmerten zwischen Licht und Schatten, und das Blut wollte aus ihren Lippen springen. Das Boot glitt dahin. Freiheit, Sehnsucht aller erdgebundenen Wesen, lag in dem Trieb der geblähten Segel. Die Leinen knarrten, die Muskeln spannten sich, weißlich wallte es um die Wunde des Wassers, die die Spitze des Bootes schnitt. Der Wind wehte, seine Stimmen rauschten, fern waren die Ufer. Wasser und Himmel schlossen sich zusammen. Wolken, Segel der Himmlischen, zogen im Flug mit den Dahingleitenden. Ja, es ist schön, Marion, mit dem Winde zu gehen, frei von der Schwere menschlichen Schritts und der Arbeit der Ruder, und schön ist es, über das schaumspritzende Wasser zu fahren, wenn die Sonne glüht. Die Silberflügel der Möwen fliegen mit uns. Dein Haar spielt locker, die Luft will deinen Leib umfangen. Lachst du, Marion? Deine Augen haben heute ein stärkeres Leben.
Laß die Kleider fallen. Deine weichen braunen Glieder dehnen sich in der Sonnenglut, sie spielen sich durch die Wasser, du schwimmst mit den Fischschwänzigen, Tochter des Sees. Ist deine Seele nicht wie das Element, das weicht und sich wieder schließt, wandelbar und niemals zu halten?
Laß uns umkehren, Marion, denn der Abend sinkt, und wir wollen still sein. Der Wind flüstert, das Segel lauscht auf ihn. Der See ist wie Sonne geworden, goldene Fläche, mit leisen Wellen treibt er zum Ufer, und wir fahren langsamer. In deinen Augen liegt das scheidende Licht, du duftest wie Wasser und Lüfte. Der Sommer prangt noch in der Nacht, seine Sterne funkeln, und die Wasser rauschen und klickern über den Sand und spiegeln zitternd den runden Mond. Schwarz stehen die Bäume. Sie haben uns beschützt, Marion, als deine Wange sich an meine Schulter legte. Wir haben leise gesprochen wie die Geigen, deren Klang mit dem Mondschein um uns gewebt hat; das Wasser vor uns war dunkel und undurchsichtig geworden und trug nur die Lichtstraße des himmlischen Gestirns, Pforte der Träume. Die Funken des Himmels fielen und verloschen im See, und du erschrakst und fürchtetest, daß es dein Stern sein könne, der gefallen war.
»Stille Silberflut
zog in mondenweite Ferne,
Liebe gab die Hand,
es fielen Sterne.
Sterne sterben auch –
einem Herz ist höllenbang,
über Busch und Strauch
weht Gesang.«
Ich sprach von dir und den Wassern, Marion, und die windverspielten Bäume rauschten in der Nacht.
Ich habe dich nicht geküßt, Marion, aber nun, da du mir entschwunden bist, küsse ich dich tausendmal. Kind der schwimmenden weißen Rosen und dunkler Wälder.
Ich muß dich wiedersehen, und meine Arme werden nicht mehr zögern.
Du wirst spüren, daß meine Lippen heiß sind.
Wichmann saß vor seinem Schreibtisch im Büro. Er hatte die Hände auf die Akten gelegt, die Abdrücke der Typen der Adlermaschine standen ungelesen auf dem Bogen. Der Gefangene hatte die Fenster geöffnet. Die Stadt roch nach Staub, Rauch und Hitze, die Handflächen waren feucht von Schweiß. Drunten im Hof ärgerte der Heizergehilfe, der im Sommer wenig zu tun hatte, den fauchenden Kater. Von den Ulmen fielen vorzeitig verdorrte Blätter auf den grauen Erdboden.
Woran denkst du, Marion? Weißt du es noch, wie wir beide in die Flut sprangen, wie wir erschreckt hinuntersanken zwischen die Fische und die Wasser über uns wallten und zusammenschlugen und wie wir durch grüne Schimmer wieder zur Sonne auftauchten? Hast du im Traum noch einmal unter den schwarzen Bäumen gestanden in der schweren Süße der Nacht und noch einmal gewußt, warum mein Herz stockte und meine Glieder lahm gewesen sind? Tausendmal gehofftes Wunder, im Schlafen und Wachen ersehnt, betäubt den Wartenden, wenn es geschieht.
Meine Arme schlingen sich jetzt um dich, Marion, ich presse dich an mich. Du bist mein. Wir sehen uns wieder, Marion.
Wichmann hatte das Klopfen überhört. Er schrak auf, als es sich wiederholte, und bat den Einlaß Suchenden einzutreten, aber es klopfte nur ein drittes Mal, und Wichmann erhob sich und machte die Türe auf.
In der dämmrigen Schwüle des Korridors stand eine Gestalt mit vorgebeugtem Nacken und unsicheren Augen. Die breiten Lippen lächelten verlegen. Die Kopfhaut glänzte unter dem schütteren, leicht gekräuselten Haar. Wichmann entsetzte sich, ohne zu wissen, warum.
»Sie haben geklopft? Wollen Sie bitte eintreten, Herr Nathan?«
»Ich störe Sie gewiß?«
»Ja. Aber Sie werden die Störung dadurch nicht geringer machen, daß Sie sich jetzt wieder zurückziehen. Bitte …«
Wichmann schob den Gast, von dem er immer noch nicht wußte, warum er ihm unheimlich war, durch die Tür herein.
»Ich möchte Sie nicht aufhalten, Herr Wichmann.«
»Was führt Sie zu mir?«
»Nichts … ich wollte weiter nichts. Ich dachte, Herrn Casparius vielleicht bei Ihnen zu treffen. Er ist nicht hiergewesen?«
»Heute noch nicht.«
Der merkwürdige Mensch blieb in der Mitte des kleinen Zimmers stehen und sah sich um.
»Sie wohnen nicht schlecht, Herr Assessor Wichmann. ›Klein, aber mein.‹ Als ich seinerzeit eintrat, mußte ich mit einem zweiten Herrn zusammen hausen. Die Räume sind knapp und winklig in unserem alten Bau, nur für die hohen Herren ist Platz. Können Sie eigentlich durch den Hof zu uns in den Orient hinübersehen?« – Der Sprecher trat an das Fenster. – »Kaum. Im Winter vielleicht durchs dürre Geäst. Ein Wunder, daß die Ulmen noch wachsen. Es gibt doch eine Ulmenkrankheit? Die könnte man auch kriegen, wenn man lange genug in dem Stall hier versauert.«
»Fühlen Sie sich bereits angegriffen, Herr Nathan?«
»Der Bazillus fliegt uns alle an. Ist das ein Leben, das wir hier führen? Vor den Akten sitzen, wenig verdienen, langsam vorwärtskommen, die Launen der Mächtigen ertragen und verkalkt in Pension gehen – sind das die Hoffnungen, die Sie sich haben an Ihrer Wiege singen lassen?«
»Meine Wiege war, soviel ich mich erinnern kann, ein Gitterbett, und der Gesang war vermutlich mehr meinerseits. Über seinen Wohlklang und die darin ausgedrückten Zukunftsansprüche kann ich aus Mangel an Gedächtniskraft leider keine Aussagen mehr machen. Aber vielleicht hat Ihr Intellekt etwas früher zu registrieren angefangen, Herr Nathan, und Sie können sich die bei der Säuglingsmilch gehegten Hoffnungen noch einmal hochkommen lassen?«
»Es kommt nichts als Käse zum Vorschein, Herr Wichmann, laufend, stinkend, schon verdorben. Wenn man sich vorstellt …«
»Ich begreife auch nicht, Herr Nathan, warum Sie sich bei uns aufhalten. Es gibt ohne Zweifel bessere Verdienstmöglichkeiten. Auch Fräulein Hüsch, deren Vater Geschäftsmann ist, stellt das immer wieder fest.«
»Verdienst, sagen Sie? Was will ich schon mit dem Verdienst?«
»Ist es nicht Ihr Lebensziel, ein reicher Mann zu werden?«
»Nein – Herr –«
Nathan hatte sich dem Fragenden zugewandt. In seinem Körper ging auf einmal eine Veränderung vor, als ob in ihm etwas wachse und seine schlaffen Glieder, seinen gebeugten Nacken ausfülle und straffe. Er sah aus wie ein gereiztes Tier im Angriff, und Wichmann nahm unwillkürlich das Kinn zurück, mit einem Schauer und wie vor einem beginnenden Kampf. Aus den Augen des andern brach ein gelbes Licht, und seine Fäuste hatten sich verkrampft.
»Nein – Herr – Verdienst ist nicht mein Ziel – Macht will ich haben – Macht!« Mit dem letzten Wort brach die Spannung in dem Menschen wieder zusammen. Die Finger hatten sich gelöst, die Augen schlossen sich halb, und die Schultern wurden wieder schlaff. »Es ist alles Mumpitz, Herr Wichmann. Reden wir von etwas anderem. Wenn man noch ein Leben führen könnte wie der Grevenhagen. Die Familie hat offenbar viele gesellschaftlichen Beziehungen! Grevenhagen muß sehr vermögend sein, vielleicht auch von der Frau her?«
»Ich habe die Grevenhagensche Steuererklärung noch nicht studiert. Aber mir scheint, Geld ist doch auch in Ihren Augen nicht so unnütz, wie Sie mir eben versichern wollten.«
Der Regierungsrat lachte leichthin. »Von ganz unnütz habe ich nichts gesagt. Oder doch? Aber auch Geld ist Macht. Na, jedenfalls der Stil, in dem die Familie ihren Sport und ihre Geselligkeit treibt, ist für einen schlichten Ministerialbeamten auffallend. Es muß sehr viel privates Vermögen dahinter stehen, so daß man sich fast wundert, warum Grevenhagen auf das schimmlige Dasein in den Amtsräumen überhaupt noch Wert legt. Auf Gehalt und Pension müßte er doch verzichten können, wenn er innerhalb von wenigen Monaten ein Diadem für achtundzwanzigtausend Mark und zwei Grauschimmel für sechzigtausend Mark kauft.«
»Sie sind genau orientiert, wie nicht anders zu erwarten war, Herr Regierungsrat Nathan. Genauer als ich! Wollen Sie mir nicht weitere reizvolle Einzelheiten aus den privaten Budgets der Abteilung verraten?«
»Es ist bemerkt worden, Herr Wichmann, daß Sie sparen. Aber das ist ohne Zweifel eine Tugend und mit den kommenden Ausgaben für das Eigenheim durchaus zu rechtfertigen. Blonde Mädchen sind hübsch, nicht?«
»Warum soll ich mich von dieser allgemeinen Geschmacksrichtung ausschließen?«
»Sie haben recht. Das Kollektive des Geschmacks ist eine der interessantesten soziologischen Erscheinungen in der Stadt. Es zeigt sich darin, daß die Großstadt fähig ist, ein eigenes Lebensgefühl auszubilden.«
»In der kleinen Stadt ist das doch viel ausgeprägter.«
»Irrtum, Irrtum, Herr Wichmann. Die sogenannte Kleinstadt ist nichts als ein ekelerregendes Amphibium, nicht Fisch, nicht Fleisch, nicht Dorf und nicht Stadt. Sehen Sie sich die Frauen dort an, wie sie gekleidet sind, das sagt alles. Die Tracht ist ihnen verlorengegangen, und Geschmack haben sie nicht. Sie laufen herum mit Rosen und Federn, die Röcke zu kurz oder die Röcke zu lang. Ich würde die Menschen nicht so hassen, und ich wäre überhaupt anders geworden, wenn meine Eltern nicht in der Folterkammer ›Kleinstadt‹ gelebt hätten. In der Großstadt ist der unerträgliche Zwischenzustand zwischen Dorf und Stadt überwunden. Man hat sich ganz gelöst von dem total platten Lande, und das Flutende hat seinen eigenen Rhythmus gewonnen. Augenblicklich geht der Strom nach ›industrieblond‹ haben Sie sich nicht auch schon gewundert, daß eine so elegante Dame wie Frau Grevenhagen das Haar noch immer schwarz trägt?«
»Ich habe ehrlich gestanden über eine andere Möglichkeit noch nicht nachgedacht. Vermutlich wird sie ihrem Gatten so gefallen, wie die Natur sie geschaffen hat.«
»Eine typisch teutonische Auffassung, daß eine Frau sich nach dem Geschmack des Mannes zu richten habe. Haben Sie sich noch nie Rechenschaft darüber gegeben, was für eine Barbarei in dieser Forderung liegt? Geschmacksfragen gehören in das subtile Empfinden der Frau, allenfalls noch derjenigen Männer, die genügend weibliche Hormone in sich haben, um mit Feingefühl zu reagieren. Man kann Nuancen nicht mit der Keule entscheiden. In Fragen des Geschmacks sollen die Frauen unsere Erzieherinnen sein. Nicht umgekehrt.«
»Dann bilden Sie Ihr Auge an den großen Blumen der Dame Lundheimer, Herr Nathan; ich nehme an, daß Sie sich dem Unterrichtskurs mit Hingabe widmen. Haben Sie aus Ihrer bewährten Quelle nicht schon etwas Neues erfahren, was Sie heute hierher treibt?«
Ein kurzer Ruck mit dem Kopf verriet, daß Nathan sich in einer stillen Absicht überrascht und getroffen fühlte. Er parierte. »Ach, der rätselhafte Besucher bei Boschhofer ist Ihnen auch schon bekannt?«
»Sie haben angenommen, daß die Nachrichten ins Abendland aus Mangel an genügend interessierten Stafettenläufern etwas langsamer transportiert werden?«
»Na ja. Also was meint man denn hier zu der Sache?«
»Wenn Herr Nischan den Besucher durch das Schlüsselloch gesehenhätte, wären wir vielleicht besser unterrichtet. Bloße Kombinationen gebe ich nicht weiter.«
»Durch das Schlüsselloch? Sie machen mir Spaß, Herr Wichmann!« Nathan lachte laut. »Gibt es so was?«
»Ein Schlüsselloch? Natürlich – an den meisten Türen gibt es so etwas.«
»Sie machen mir Spaß, Herr Wichmann. Hat Ihnen Nischan schon von der Sache erzählt?«
»Nischan nicht, aber vielleicht haben Sie die Güte?«
»Es geht mich eigentlich nichts an. Ich möchte mich auch nicht auf bloße Kombinationen einlassen; das geht zu weit, Damen gegenüber so gut wie im Amt. Aber eine Frage …«
»Hm?«
»Sie kennen den mysteriösen Herrn vielleicht vom ›jour fix‹ bei Grevenhagen? Mit Grevenhagen hat die Sache unbedingt etwas zu tun.«
»Wenn Sie den Namen wüßten?«
»Irgend etwas mit ›burg‹, ›bruck‹– oder ›krug‹? Wäre das möglich?«
»In dem weiten Zauberkreis, den Sie mit diesen präzisen Angaben ziehen, ist vieles möglich. Haben Sie den Herrn gesehen? Wenn nicht, dann muß doch Frau Lundheimer beschreiben können, wie er aussieht?«
»Gut angezogen jedenfalls, gesetzten Alters, mit Zwiebelnase und Zwicker – können Sie sich an eine so markante Erscheinung erinnern?«
»Nicht ohne weiteres, aber wenn mein Gedächtnis zu arbeiten anfängt, werde ich Sie von den Ergebnissen unterrichten.«
»Sehr verbunden. – Der neue Etat ist übrigens heraus. Sie werden doch diesmal Regierungsrat?«
»Nicht ehe Sie sich zum ›Ober‹ durchgerungen haben. Ich halte gern Abstand.«
»Sie lieben die zweideutigen Komplimente. Aber warten Sie lieber nicht auf mich. Unter Grevenhagen sind meine Chancen nicht groß.«
Das Gespräch verlor sich in Belanglosigkeiten. Als Nathan gegangen war, überlegte Wichmann, was zu tun sei. Er witterte Gefahr und war unruhig wie ein aufgestörtes Tier. Dennoch empfand er es jetzt als eine Wohltat, daß die Arbeit drängte. Er zwang sich zum Schweigen, Überlegen und Abwarten, bis er am späten Abend bei seinem Freunde Casparius saß. Frau Anna Maria und Dieta brachten die Drillinge zu Bett.
Das Frauenlachen und Dietas helle Stimme waren bis in die ›Zelle‹ zu hören, die der Hausherr für sich gerettet hatte: das ›Halbe Zimmer‹ der kleinen Neubauwohnung, in dem der Schreibtisch von einer Wand zur anderen reichte und die beiden Sessel den restlichen Platz einnahmen. Casparius und Wichmann rauchten, sie streckten die Beine und legten den Arm auf die Sessellehne auf. Wenn sie einen Zug getan hatten und sprachen, schauten sie einander nicht an, sondern Wichmann blickte hinauf zu den drei Rissen an der Decke, um Wege von einem zum anderen zu finden, und Casparius betrachtete seine Stiefelspitzen, an denen die Sohlen dünn wurden.
»Jetzt versteh’ i bloß des eine net, Wichmann, warum hat der Nathan des grad dir erzählt? Er schwätzt gern und viel, aber nicht ohne Überlegung, und wenn der mit seiner Neuigkeit zu dir läuft, so hat er eine ausgesprochene Absicht dabei. Ihr seid doch sonscht net grad Milchbrüder.«
»Nein. Aber vielleicht hat er vermutet, daß ich etwas weiß, was er gern wissen möchte, und wollte mich ausholen. Man wirft ja auch mit der Wurst nach dem Schinken.«
»So ungefähr muß er spekuliert haben. Und was soll ich jetzt in der Sache tun?«
»Eine Zwiebelnase mit einem Namen auf ›burg‹–›bruck‹– oder ›krug‹ kannst du dich auch nicht erinnern in der Kreuderstraße kennengelernt zu haben?«
»Doch – freilich.«
»Kasper!«
»Warum bischt denn du so aufgeregt? War übrigens des vielleicht derselbe Herr, den der Nischan beim Grevenhagen bespitzelt hat?«
»Kann sein, ich weiß es nicht. Aber sag doch … du kannst dich an den Zwiebelnasigen erinnern?«
»Ein Herr Schomburg ischt beim ›jour fix‹ gewesen, auf den möcht’ eure Beschreibung passen. Er hat kleine Auge hinter seinem Zwicker, und des Näsle formiert sich dicklich unter der platten Wurzel. Aber ’s mag auch mehrere Exemplare von der Sorte gebe …«
»Wie heißt er denn?«
»Schomburg – hab’ ich dir doch grad’ g’sagt. Ein Bankier ischt das. Komm, ich hol’ dir einen Schnaps, du bischt ja in einem Zustand! Lieber Freund und Tischgenosse!«
Wichmann schüttete den angebotenen Trunk in einem Zug hinunter.
»Wenn du mein Freund bist, Kasper, mußt du herausbringen, was der Kerl bei Boschhofer gewollt hat.«
»Ich werd’ mein möglichstes tun. Wenn man die roten Flecken auf deinen Wangen sieht, mein lieber Spießgeselle, könnt’ mer glauben, daß du dem Grevenhagen gepumpt hascht.«
»Daß Grevenhagen den ihm unterstellten, nicht beförderten Assessor um Kredit bittet, ja, das ist wahrscheinlich.« Wichmann lachte mit Absicht. »Vielleicht hätte ich ihm Kredit geben sollen, damit sich der Herr künftig etwas mehr für meine Beförderung interessiert.«
»Auch ein Gedanke, ein guter sogar. Ich werde jedenfalls meine untersuchungsrichterliche Tätigkeit aufnehme. In drei Tagen ungefähr erschtatt’ ich dir Bericht. Des auch noch in der Hitz!«
Die Tür öffnete sich um einen Spalt, ein freundliches Gesicht im blonden Lockenrahmen schaute herein. »Herr Casparius? Sie müssen Ihren Töchtern gute Nacht sagen!«
»Das wolle mir freilich net versäume.«
Der zärtliche Vater erhob sich, Wichmann blieb bequem im Sessel sitzen, und Dieta ließ, nach einigem Zögern, Casparius allein gehen und kam in das männliche Allerheiligste herein. Sie schlakste sich auf den zweiten Sessel, übermütig und doch mit einer gewissen Scheu, wie ein junger Hund.
»Da sitzt ihr, Okka? Oh, das ist aber ganz fein hier, so gemütlich, nicht? Kommt ihr nachher noch wieder ein bißchen zu uns? Du hast mir noch gar nicht von deiner Segelpartie erzählt. Ist es sehr schön gewesen?«
»Ganz nett.«
»Ganz nett?! Wie du das sagst! O du, denk dir, wir haben euch vorbeifahren sehen am Eicheck, ja denke dir, und haben so gewinkt, und du hast uns gar nicht gesehen – bloß der schlanke Herr im weißen Anzug hat zurückgewinkt. War das Grevenhagen?«
»Das wird er wohl gewesen sein, denn er hat mich nachher darauf aufmerksam gemacht, was ich versäumt habe.«
»Du, der sieht aber fesch aus – und wer war denn die Dame in dem weißen Plisseerock? Frau Grevenhagen?«
»Muß wohl – die andern Gäste weiblicher Gattung auf dem Boot trugen keine Plisseeröcke!«
»Du, das ist ein wunderbares Boot, ganz wunderbar – wie das in Fahrt war, und prächtig habt ihr gesegelt, so kühn – Wie die Segel sich gebauscht haben, und ihr habt vor dem Wind gelegen, daß man dachte, ihr müßt kentern – aber immer wieder habt ihr’s gemeistert – du, ich war direkt stolz auf dich, wie du da mitgetan hast – du mußt doch ganz selig gewesen sein?«
»Hat mir gefallen …«
»Und denk dir nur, Schildhauf hat erzählt, daß das Boot vorigen Sommer ein Rennen gewonnen hat! Dieses Jahr hat Grevenhagen sich auch wieder zur Regatta gemeldet. Er soll sehr sportlich sein, war längere Zeit in England. Weißt du das schon? Die Regatta wollen wir uns dann ansehen, oh, bitte ja, Okka? Oder magst du jetzt gar nicht mehr mit mir in unserem kleinen Paddel sitzen?«
»Doch … natürlich …«
»O fein … du, ich freu’ mich ja so!«
»Frau Annemarie ruft …«
»Ja, jetzt hab’ ich meine Lieblinge versäumt – kommst mit hinüber, Okka? Annemarie hat uns noch einen Punsch gebraut, Zitronenpunsch. Das ist doch sehr freundlich von ihr?« Oskar und Dieta sagten in der gegebenen Gesprächsatmosphäre beide ›Annemarie‹ und nicht das im kleinen Heim für ihre Ohren geschraubt klingende Anna Maria. Warum legten Kasper und das Heckenröschen darauf überhaupt Wert? Wichmann wischte die Frage weg; sie schien jetzt nicht wichtig. Man vereinigte sich im Wohn- und Eßzimmer um die dickbauchige Bowle, aus der Casparius mit dem Glaslöffel Flüssigkeit schöpfte und schlüpfrige Zitronenscheiben fischte. Die Frauen lachten in einem fort, und die Männer, die erst den Kopf geschüttelt hatten über eine so ursachlose Bewegung, lachten endlich mit, wobei sie als Grund die grundlose Betätigung der weiblichen Gesichtsmuskeln vorschützen konnten.
Drei Tage später saß Eugen Casparius bei seinem Freunde Wichmann im Klubfauteuil. Die grüne Stehlampe beleuchtete belegte Brote und den Tee, den Martha gebracht hatte. Als man bei den Zigaretten angelangt war, begann Kasper zu berichten.
»Ich habe ungeahnte Fähigkeiten entwickelt, lieber Wichmann, hoffentlich bischt du zufrieden. Aber des muß ich sage, die Lundheimer, die Klatschbas, gehört ja eigentlich entlassen. Ich möcht’ wissen, ob der Boschhofer etwas ahnt von diesem Kanal, der vornehmlich die geischtigen Abwässer aus seinem Zimmer in die weitverzweigte Abteilung leitet.«
»Du kannst ihn ja mal drauf aufmerksam machen.«
»Ich bin ein kleiner Mann, mein Freund, und schaue zu den Belangen der Großen dieser Welt nur mit ehrfürchtigem Staunen und gelegentlichem inwendigem Räuspern hinauf. Aber daß mir zur Sach’ komme …«
»Ja? Was wollte denn der Kerl? Hast du es heraus?«
»Ich hab’s historisch durchmachen müssen, und deshalb muscht du erlaube, daß ich dich schön langsam noch einmal meinen Weg führ’. Erscht hab’ ich bloß große Ohre g’macht, und da hab’ ich nicht umhin könne, die Stimme und Weisheit des Herrn Borowski zu vernehme. Der hat erzählt, daß der Grevenhagen Schulden hätt’ – aber eß no deine Brötle weiter. Der Tee ischt übrigens ausgezeichnet. Schau, bloß wege dem Tee hat sich’s verlohnt, daß du meinem Rat g’folgt und wohne bliebe bischt.«
»Der Borowski hatte das von dem Nathan?«
»Nein ebe net. Des war der erschte Fade, den meine Häkelnadel gefangen hat. Der Borowski hat des net vom Nathan g’habt. Also …?«
»Also?«
»Wo hat’s der Borowski her, wenn er’s net vom Nathan hat?«
»Dann hat er’s vom Pöschko.«
»Richtig, mein Busenfreund. Ich sehe, daß du intelligent und in einem halben Jährle scho in die Katakombengänge unserer Gerüchtekanäle eingedrungen bischt. Kann sich der Pöschko mit der Lundheimer leide?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nicht kann er sich leide. Also hat’s der Pöschko seinerseits vom Nathan g’habt oder von einem anderen Amtmann. Das war die Frage.«
»Wie hat sie sich gelöst?«
»Das war net so einfach. Ich wollte jetzt erscht einmal herauskriegen, was die Lundheimer denn eigentlich weiß. Aber das Weib ischt mir nicht gnädig gesonne, und deshalb hab’ ich mich versteckt und einen der mir dienstbaren Geischter vorgeschickt.«
»Du hast doch nicht etwa das Krähennest alarmiert?«
»Ich hab’ mir den dort bereits bestehenden Alarmzustand zunutze gemacht und des Sauberzweigle aufgeputscht, daß sie bei der Lundheimer vorspricht. Die Weiber sind allemal noch schlauer als wir. Sie hat alles ’rausgebracht …«
Wichmann goß seinem Freunde Rum in den Tee.
»Damit sich das Räderwerk deines Gehirns und deiner Zunge etwas beschleunigt!«
»Danke vielmals. Hascht du mir da jetzt net zu viel nei? Komm, gib mir noch so ein Käsbrot … danke … Also des Sauberzweigle hat ihre Sache ganz gut gemacht. Die Lundheimer, hat sie erfahre; weiß überhaupt nicht, was der Herr Bankier Schomburg …«
»Der ist es also tatsächlich gewesen?«
»Ach so, des hab’ ich noch net gesagt. Also er war’s. Herr Bankdirektor Schomburg. Kannscht du dich net erinnern, was der für Auge an die Frau Grevenhagen damals hingemacht hat?«
»Der Himmel – nein, das ist mir ganz entgangen.«
»Du warscht net ganz bei Trost an dem Abend. Also jedenfalls er ischt es gewesen, und was er beim Boschhofer wolle hat und was er drin g’schwätzt hat, des hat die Lundheimer nicht in Erfahrung gebracht. Aber – mein Lieber – jetzt wird die Sache ernscht …«
Eugen Casparius lehnte sich im Sessel zurück. »Es ischt dir doch klar, daß mir eine Telefonzentrale habe mit einem menschlichen Herz und weiblicher Neugier?«
»Nee …«
»Nee? Dann nimm’s dir ad notam. Selle Telefonzentrale geht öfters mit der Lundheimer ins Kino und verzählt sich ein bißle was mit ihr. Sie hat ihr auch unter den sieben Siegeln der tiefschten Verschwiegenheit mitgeteilt, was der Boschhofer zu der Zeit, als der Schomburg bei ihm war, mit dem Rechnungsbüro telefoniert hat.«
»Ja?«
»Er hat angefragt, ob der Grevenhagen Gehaltsvorschüsse in Anspruch nimmt.«
»Ich bin überzeugt, daß er das nicht tut.«
»Du hascht mit deiner Menschenkenntnis ins Schwarze getroffen. Er hat noch nie um einen Vorschuß nachgesucht.«
»Dieser Schomburg ist doch ein ganz übler Geselle. Wie kommt er dazu, hinter Grevenhagens Rücken mit einer solchen Frage zu dessen Dienstvorgesetzten zu laufen. Eine ausgesprochene Gemeinheit.«
»Das menschliche Herz brütet die seltsamsten Pflanzen aus, je nachdem ihm der Herrgott Eier unterg’legt hat.«
»Kasper, ich mache dich darauf aufmerksam, daß deine eindrucksvolle Bildersprache allmählich in das sowohl theologisch als zoologisch-botanisch Anfechtbare gerät.«
»Das ischt durch die Erschütterung meines Seelenlebens und die Hitz zu entschuldigen. Eigentlich müßte man dem Grevenhagen stecken, was da geschpielt wird. Aber wenn ich vor ›Seiner Unnahbarkeit‹ stehe, lallt meine Zunge doch bloß wieder. Es ischt keine Gemütlichkeit bei ihm zu erreichen und kein Verständnis für menschliche Schwächen. Es würde mir nicht möglich sein, die Geschichte von der Lundheimer, von unserem Sauberzweigle und der Telefonzentrale vor ihm auszubreiten, ohne daß ich mich an dem Eis seines Blicks verkühle. Wie ischt’s denn mit dir? Du bischt doch ein Kavalier, comme il faut, und sein Segelpartner? Kannscht du nicht einmal eine Andeutung riskieren? Daß er sich vor dem Schomburg in acht nehmen soll?«
»Ich will mir’s überlegen. Es kann doch nur der pure Neid und die erbärmliche Gehässigkeit sein, die hier ihr Spiel treiben, weil die Familie Grevenhagen noch auf großem Fuß leben kann. An der Solidität der Grevenhagenschen Verhältnisse wird ein Mensch, der den Ministerialdirigenten und seinen Vater gesehen hat, nicht zweifeln. Kürzlich sagte der alte Minister noch anläßlich des Falls Emmerich, daß für ihn geschäftliche Zuverlässigkeit eine Sache der persönlichen Ehre sei.«
Während Wichmann sprach, hatte er sich vorgebeugt, um die Zigarettenasche in die Schale auf dem niedrigen Rauchtisch zu streifen. Jetzt stützte er die Ellbogen auf die Knie und betrachtete die Muster des chinesischen Teppichs.
»Unbestritten, Wichmann, was du da sagscht. Wenn nur die Frau nicht wär’.«
»Die hat doch mit der finanziellen Seite des Grevenhagenschen Daseins gar nichts zu tun.«
»Wollen wir’s hoffen. Sie hat was Orchideenhaftes, und Orchideen waren mir mein Lebtag so unsympathisch wie Sardelle.«
»Du bist voreingenommen. Das ist doch nur eine Stil und keine Charakterfrage.«
»Wollen wir’s hoffen. Aber wege nix und wieder nix läuft kein Bankdirektor zum Boschhofer hin.«
»Wie stehen eigentlich zur Zeit Boschhofer und Grevenhagen miteinander?«
»Na, weniger miteinander als gegeneinander, kann man nur sagen. Wo hascht denn du jetzt immer deine Augen und deine Gedanke? Ich hab’ g’meint, du bischt in ein normales Leben zurückgekehrt, weil du mit der Dieta paddelscht, aber ich muß mit Entsetzen bemerken, daß du scheint’s nur eine ausgestopfte Haut zu uns und in den Dienscht spaziere g’schickt hascht, während dein Geischt offenbar immer noch in andern Gefilden wandelt. Also was deine Frage anbetrifft: Der Grevenhagen behandelt den Boschhofer als einen Dummkopf und Nichtskönner, und der Boschhofer macht hinterm Rücken von seinem Minischterialdirigenten die bösartigsten Bemerkungen über Bürokraten und Besserwisser. Mir läuft immer eine Gänsehaut der Verlegenheit über den Rücken, wenn die zwei zusammenkommen. Wenn der Boschhofer seinem Minischterialdirigenten eins auswischen könnt’, das wär’ der schönste Tag seines Lebens.«
»Aber die Atmosphäre der Feindschaft ist Grevenhagen gleichgültig. Das bewundere ich immer an ihm. Er kann so leben – sagen wir mal – wie ein Tier in freier Wildbahn, immer auf dem ›Quivive‹, daß ihm etwas den Tod bringt, wenn er nicht genügend aufpaßt – aber er paßt auf und fühlt sich dabei, so scheint es, ganz wohl.«
»Das sind die kriegerischen Naturen, Okka. Wie der Herrgott dich und mich gebildhauert hat, hat er ein bißle mehr Tonerde zwischen die Finger gekriegt. Der andere ischt harter Kristall.«
»Meinst du? Ich weiß nicht. Glas ist auch hart und bricht doch leicht.«
»Ha, man wird ja sehen, wie die psychologischen Welträtsel sich entwickeln. Ich bin jedenfalls froh, daß ich meine Anna Maria hab’ und meine Pensionsberechtigung. Das Heroisch-Interessante schau’ ich mir lieber aus gewisser Entfernung an. – Warum erschrickscht denn? Hat dich ein Teufel in die Waden gezwickt?«
»So ähnlich. Ich kann Grevenhagen ja doch keine Andeutungen mehr machen. Der letzte jour fix ist vorläufig gewesen. In den Hochsommermonaten finden keine Empfänge mehr statt. Und im Dienstzimmer – nein, im Dienstzimmer bringe ich diese Sache auch nicht durch das Gehege meiner Zähne.«
»Schad. Hascht du keine weitere Wochenendeinladung in der Tasche?«
»Nur so unverbindliche Redensarten – würden uns freuen, Sie wieder einmal mitzunehmen usw. Damit kann es lange dauern.«
»Das ist ungeschickt. Da müssen wir unsere gute Absicht vorläufig unausgeführt lasse. Vielleicht gibt sich einmal eine überraschende Gelegenheit.«
»Kann sein. Aber nun sag mal, wird im Kino irgend etwas gegeben, was kein totaler Kitsch ist?«
»In der Hitz würd ich die Dieta an deiner Stelle lieber abends einmal in den Vergnügungspark führen – des Mädle auf der Todesschaukel oder im Karussell, wenn ihr mit fliegende Locke schwindlig wird und ihr des Gluckse zwische’s Lache kommt – des müßt’ doch nett sein.«
»Auch eine Idee.«
Als Casparius eine Stunde nach diesem Gespräch gegangen war, setzte sich Oskar Wichmann an den Schreibtisch. Die Fenster standen weit offen. Über den Ahornbaum und das Dach der Gartenvilla gegenüber konnte man nach den Sternen sehen. Der Himmel stand in diesen Sommernächten nicht wie eine abschließende Glocke über der Erde; er war auch im Dunkeln noch von einem Leuchten bis in unabsehbare Tiefen und Weiten erfüllt. Wichmann schaute lange in die Ferne, bis er endlich zu schreiben anfing.
»Sehr verehrte gnädige Frau!«
Marion, du bist in Gefahr. Was weiß dieser Schomburg?
»Sehr verehrte …!«
Nein …
»Sehr verehrte gnädige Frau!
Wenn der Weg, den ich wähle, nicht richtig ist, so bitte ich Ihre Güte, mir zu verzeihen. Meine Absicht ist rein.«
Ich liebe dich ja, Marion. Aber die Worte, die ich hier geschrieben habe, klingen albern. Ich zerreiße den Bogen und beginne von neuem.
»Sehr verehrte gnädige Frau!
Ein Herr Bankdirektor Schomburg scheint, wie ich vertraulich erfahre, bei amtlichen Stellen hinter dem Rücken Ihres Gemahls Erkundigungen über finanzielle Angelegenheiten einzuziehen. Da ich offiziell hiervon nichts weiß, bin ich leider nicht in der Lage, Ihrem Herrn Gemahl offiziell davon Mitteilung zu machen.
Gestatten Sie mir, gnädige Frau, daß ich es Ihnen überlasse, ob und wann Sie Ihren Gatten von dem Inhalt dieser Mitteilung unterrichten oder ihm meinen Brief zur Kenntnis geben wollen.
In aufrichtiger Ergebenheit
Oskar Wichmann«
Ich liebe dich sehr, Marion.
Der Schreiber faltete den weißen Bogen zusammen, verbarg ihn im Umschlag, schloß und adressierte. Ohne Hut und Mantel ging er hinaus in die sommerliche Nachtluft, und nach einem letzten kurzen Zögernwarf er den Brief in den Kasten, aus dem ihn der dicke Ledersack des Postboten am nächsten Morgen früh sechs Uhr abholen würde. Der Brief fiel, mit kaum wahrnehmbarem Laut, Papier auf Papier. Die Zähne des Briefkastens legten sich wieder hinter den Schlitz und verteidigten das einmal übernommene. Langsam wanderte Wichmann zu seinem Haus zurück. In der Villa hinten im Garten leuchteten die Fenster, und der Hauch eines Tangos klang herüber zu dem Einsamen auf die Straße.
Was ist die Stadt in einer heißen Sommernacht? Sinnlos lächerlich erscheinen ihre Steine. Im Park girrten Mädchen, und Jünglinge schwärmten. Es war für einen jungen Mann geschmacklos und erbarmenswert, dort allein zu gehen.
Kehren wir zu dir zurück, alter hölzerner Heiliger im Faltengewand. Hast du auch geliebt, als du jung warst?
Wichmann legte sich auf die Couch und ließ die Fenster offen. Nach Mitternacht strömte endlich etwas von der Kühle herein, die mit dem leisen Wind von Seen und Wäldern kam. Die Gegenstände im Zimmer schimmerten nur in Umrissen durch die Dunkelheit. Noch lag der Brief im Bauche des Briefkastens. Morgen ging er zu ihr. Wichmann versuchte sich vorzustellen, wann er in ihre Hände gelangen könne. Vielleicht schon mit der Zehnuhrpost, wenn die Hausherrin vom Ausritt zurückkam. Oder er lag des Abends auf silberner Schale, auf einem kleinen Tisch in ihrem Boudoir. Der Schreiber hatte eine nur in seinem Gefühl begründete Gewißheit, daß Marion ihre Briefe allein und unkontrolliert empfing. Sie pflegte in ihrer Ehe gewiß nicht eine illusionslose Gemeinschaft, sondern jene letzte Entferntheit, die sie dem Gatten immer wieder als die Dame seiner großen Leidenschaft erscheinen ließ.
Marion war morgen gewarnt. Wichmann empfand eine große Erleichterung bei dem Gedanken, und er haßte Schomburg. Hast du ihm zu viel vertraut, ahnungslose Frau? Obwohl Wichmann die Erinnerung mit Heftigkeit unterdrückte, hörte er. doch immer wieder Marions Worte: »Es ist viel … den größten Teil bringe ich auf … aber es bleiben noch …«
Es waren noch zwanzigtausend Mark geblieben. Wie hoch war der »größte Teil« gewesen? Und wie hast du ihn aufgebracht, arme Marion? Mit Hilfe dieses Schomburg? Wichmann mußte feststellen, an welcher Bank ein solcher Mensch »Direktor« war. Mit einem Gurgeln, wie Wasser unter Moorerde, drang ihn das Wissen an, daß es mit der Konjunktur abwärtszugehen anfing. Vielleicht fürchteten Banken schon um Außenstände? Grevenhagen hatte die Entwicklung kommen sehen. Aber Marion, schöne Tochter aus dem Schloß der verschwenderischen Feste und Schwester eines Mannes, der mit dem Degen und mit dem Würfelbecher schnell war, was weißt du von Börse und Aktienkursen? Was weißt du überhaupt von der Welt? Du bist geschaffen, um beschützt zu werden. Was wirst du mit meinem Brief machen?
Wichmann behauptete vor sich selbst, daß er an keine Antwort, gewiß nicht an eine schriftliche denke. Dennoch durchsuchte er jeden Tag mit Spannung die einlaufende Post. Einmal entdeckte er eine unbekannte Schrift. Der Brief ohne Angabe des Absenders schien von Manneshand adressiert. Die Schrift war auffällig. Es lag ein gewollter Zug darin. Wichmann öffnete sorgfältig mit dem Briefschneider.
»Sehr geehrter Herr Dr. Wichmann!
Meine Frau und ich würden sich freuen, Sie am Freitag, dem 2. Juli, nach dem Abendessen um 8 ½ Uhr zu einem geselligen Zusammensein bei uns zu sehen.
Alfons Musa.«
Musa! Wichmann schrieb sofort die zusagende Antwort. Es reizte ihn, diesen sonderbaren Propheten kennenzulernen.
Bis zum Abend des 2. Juli 1929 hatte sich die Frühsommerhitze gebrochen. Ein lauer Regen wusch die staubigen Blätter und färbte das Straßenpflaster dunkel. Am Himmel standen die Wolken lichtgrau mit rötlichen Sonnenrändern, und die Luft drang frisch und duftgeschwängert aus Park und Gärten. Oskar Wichmann hatte den Ulster über den dunklen Anzug gezogen und bummelte durch die Straßen. Die Abende dehnten sich in der Jahreszeit hell bis zur neunten Stunde. Wichmann strebte dem Viertel zu, in dem sich nach der Aussage seines Stadtplans das ›Lange Ufer‹ und damit die Wohnung des Herrn Alfons Musa befand.
Wichmann hatte noch Zeit. Er ging an Nr. 27, dem Haus, in dem Musa wohnte, vorüber und folgte dem langsamen Dahingleiten eines Schleppkahns auf dem Kanal. Der Hund auf dem Kahn kläffte, die Männer stakten mit den langen Stangen auf den Grund und stemmten die Schulter ein, um den Kahn zu treiben. Eine Frau nahm Wäsche von der Leine ab. Das Schwerblütige und Gemächliche dieses Kahns, der doch ein großer und munterer Wanderer war, beschäftigte Wichmanns Phantasie. Was taten die Luxusjachten und schnellen Boote auf dem See? Sie blähten die Segel und jagten vor dem Wind, und des Abends in der Flaute hingen ihnen die Flügel schlaff, und sie schlichen heim. Der Kahn aber schwamm des Tages und des Nachts über die stehende, stinkende Brühe, bis er an den großen Fluß und über den großen Fluß an den Rand der Meere kam, und die auf ihm fuhren, gehörten dem Kahn ganz im Wachen und Schlafen, beim Essen und Trinken, mit ihrem Leben und Sterben. Er war für sie kein Werkzeug des Sports, er war ein Schicksal, der Schauplatz ihrer Arbeit, und wahrscheinlich lebte und liebte man auf seinen Planken mit weniger Träumen und der Wirklichkeit näher.
Als Wichmann die hallende Haustür von Nr. 27 hinter sich schloß, befand er sich in dem altertümlich großen Raum eines Treppenhauses. Die Holztreppe mit ihren flachen Stufen wand sich im Rund um einen kalkverkleideten Pfeiler. Wichmann stieg die Stufen auf ihrer breiten Seite aufwärts und fand im ersten Stock vor einer Glastür die Visitenkarte: ›Dr. Alfons Musa‹. Die Karte war mit einem Reißnagel befestigt, der nicht genau die Mitte gefunden hatte, und hing schief. Unter der Karte waren ein Emaille- und ein Messingschild angebracht mit den Namen Lyhme und Reitberg. Der Ankömmling zog den Klingelzug.
Es näherten sich leichte Schritte, und als die Tür geöffnet wurde, sah sich Oskar Wichmann einem Wesen weiblichen Geschlechts gegenüber. Das Mädchen oder die junge Frau – kein Ehering verriet, wie sie zu klassifizieren sei – trug einen grünen Kittel über der knabenhaften Gestalt; die nackten Füße steckten in Schuhen mit Holzsohlen, aus grünem Oberleder. Am fremdesten an der Erscheinung waren ihr Gesicht, das flachsige Haar, eine stumpfe Nase und hervorstehende Backenknochen. Mit den wasserblauen Augen wußte Oskar Wichmann nichts anzufangen. Sie beklemmten ihn.
Ungewiß, ob er die Hausfrau oder ihren dienstbaren Geist vor sich habe, machte er lieber eine Verbeugung zuviel als eine zuwenig. Er hatte es bei seinen Vorstellungen über Musasche Verhältnisse nicht für angebracht gehalten, sich mit einem förmlichen Besuch in der Familie vorher bekannt zu machen.
»Ja bitte, Herr Wichmann …«
Die grüne Eidechse streckte kameradschaftlich die Hand aus.
In dem Korridor, dessen alte Dielen knarrten, befand sich eine gestrichene Holzleiste mit Kleiderhaken, an denen Wichmann die abzulegenden Bekleidungsgegenstände anhängen konnte. Er trat im Gefolge des Wesens, das er nun mit Sicherheit als Frau Musa definieren zu können glaubte, in ein großes parkettbelegtes Zimmer ein, das fast leer war. In der rechten Türecke stand eine sehr breite Couch, deren Hügellandschaft auf gebrochene Federn schließen ließ. Sie war einfarbig dunkelrot gedeckt und trug auf diesem Grund eine Symphonie buntfarbiger Kissen. Die Muster der Kissen bestanden in Streifen und Würfeln, nicht einmal ein Dreieck hatte sich zwischen die Quadrate und Rechtecke eingeschlichen. Die Strenge der vollen Farben und der einfachen Formen wirkte auf eine besondere Art zwischen den hellen Wänden, an denen nicht ein einziges Bild hing. Zwei niedrige runde Tische, rot lackiert, die dazu passenden Hocker und Sesselchen mit ihren strohgeflochtenen Sitzen und eine kleine Kommode vervollständigten das Mobiliar. Auf der Kommode stand der Spirituskocher, über dem Teewasser sich wärmen sollte.
Dr. Alfons Musa mit seinem dunklen Haar und den dunkelumrandeten Brillengläsern stand in der Mitte des Raumes. Als Wichmann ihn begrüßte, tat er es mit dem Gefühl, daß es um diese bewegliche Figur im sorglich gebügelten Jackett eigentlich nach Schwefel riechen müsse. Eine zweite Dame gab dem neu Eingetretenen die mollige Rechte zum Gruß; auf dem Handrücken bezeichneten Grübchen die Stellen, an denen bei Frau Musa die Knöchel mager hervortraten. Frau Korsakoff, wie die Dame vorgestellt wurde, war in ein Kleid aus schwarzer Spitze gehüllt, das die Helle ihrer Hautfarbe unterstrich.
Man ließ sich auf den Hockern um den runden Tisch nieder.
»Aber mit einem Krebs könnte ich mich nie vertragen«, sagte Frau Korsakoff, offenbar in Fortsetzung des Gesprächs, das durch Wichmanns Eintritt vorübergehend unterbrochen worden war. »Unter gar keinen Umständen! Wie denken Sie über das, Herr Dr. Wichmann? Krebs ist ja sehr, sehr schwieriger Natur!«
»Ich mache seine Bekanntschaft auch lieber bei Hattig als am Strand, gnädige Frau. Aber sicher ist mit dieser meiner Antwort nicht der tiefere Sinn Ihrer Frage getroffen.«
»Nein, Sie scherzen, Herr Dr. Wichmann. Sie beschäftigen sich auch mit Astrologie? Das ist eine sehr, sehr wichtige Sache für die ganze Lebensführung!«
»Wahrscheinlich habe ich mich, an der Bedeutung dieser Angelegenheit gemessen, viel zuwenig damit beschäftigt. Um so mehr würde es mich freuen, von Ihnen Näheres über die Erkenntnisse zu hören, die man daraus schöpfen kann.«
»Aber sehr, sehr wichtige Erkenntnisse! Darf ich fragen, wann Sie geboren sind?«
»Im September, gnädige Frau«, schwindelte der Assessor.
»Vor oder nach dem zwanzigsten?«
»Vor.«
»Also eine Jungfrau.«
Wichmann schnitt eine Grimasse und konnte feststellen, daß die Bewegung seiner Gesichtsmuskeln dabei ähnlich verlief wie diejenige des Herrn Musa. Frau Korsakoff brachte die nächste Zigarette zum Glimmen.
»Sie lachen, mein Herr, aber ich sehr ernst. Ich kann Ihnen sagen vieles über Ihren Charakter und Zukunft, wenn ich das Datum Ihrer Geburt weiß. Sie sind sehr klug, sehr klug und pflichtgetreu. Sie sind kühle Natur und heiraten gar nicht oder spät.«.
»Da ich noch keine Ehe geschlossen habe, besteht eine gewisse Chance, daß Ihre Voraussage eintrifft.«
»Die Sterne lügen nicht. Sie haben eine große Wahrheit, während Menschen klein und lügnerisch sind. Ja, glauben Sie nicht auch?«
»Es gibt allerdings Stunden, in denen man sich bemüßigt fühlt hinaufzuschauen.«
»Aber nicht nur mit Gefühl, Herr Dr. Wichmann, sondern mit Vernunft und großem Wissen, das ist wichtig. Die Erkenntnis müssen Sie haben!«
»Ich beneide Sie, daß Sie an solche Erkenntnisse so sicher glauben. Sie sind glücklich dabei?«
»Ich hab’ aus meine große Unglück gelernt, daß man zu Erkenntnissen kommen muß, Herr Dr. Wichmann. Die menschliche Seele im Glück ist wie Tier, das schläft, wenn es satt ist. Nur wenn Hunger kommt, wacht sie auf und geht umher, zu suchen.«
»Dem, was Sie da sagen, wird jeder nur zustimmen können, gnädige Frau. Aber nicht jedes suchende Tier findet eine gute Beute. Es kann auch ein vergifteter Brocken sein, den einer hinlegt, der auf den Hunger spekuliert!«
Der Klingelzug meldete weitere Gäste. Frau Musa ging hinaus, um zu öffnen, und Frau Korsakoff, die in der Familie bekannt zu sein schien, kümmerte sich um den Tee.
»Sie haben recht, Herr Dr. Wichmann«, sagte sie nach einer Pause, während sie das kochende Wasser in die dickbauchige chinesische Teekanne goß, »sehr recht. Vergiftete Brocken hat man armen russischem Volk hingelegt …«
Die letzten Worte waren von einem Jüngling verstanden worden, der mit zwei anderen Herren und einer Dame eben in das Zimmer trat.
»Sie sind wieder bei Ihrem Thema, Katja!« rief er, ohne zu grüßen oder jemanden anders zu beachten. »Die Schleierhänge Ihrer bourgeoisen Meinung können die Wahrheit über Rußland aber nicht auf die Dauer verbergen. Es handelt sich um den grandiosesten Versuch, den ein Volk je zu seiner eigenen Befreiung und der Befreiung der ganzen Welt unternommen hat.«
»Seit Jahrtausenden sind die Menschen bei jeder ihrer Unternehmungen von neuem in irgendeine Knechtschaft gefallen.« Wichmann stand neben seinem Hocker und warf die Worte dem sehr jungen Gesprächspartner nur hin, während seine Hauptaufmerksamkeit den anderen neuen Gästen galt. »Es fragte sich immer nur, welcher Stil der Knechtschaft als der erträglichere erschien.«
Dr. Musa war mit dem Vorstellen beschäftigt. »Der Regierungsrat Loeb – Herr Dr. Wichmann – Sie kennen sich ja – Herr von Burgstall – Frau Cholm.«
Der Jüngling trug den Namen Raumer. Er heftete sich an Wichmann, während die gefüllten Teetassen von Katja Korsakoff und Anuschka, Musas Gattin, ausgeteilt wurden. »Sie belieben den Skeptiker zu spielen, Herr Wichmann, typisches Verhalten des müde gewordenen Bürgertums, das keine anderen Waffen zur Verteidigung der vorhandenen Mißstände mehr findet. Weil der ›Weltbeglückungsversuch‹ unter dem Motto ›laissez faire, laissez aller‹ mißglückt ist, werden die Möglichkeiten aller anderen und besseren Methoden ebenfalls angezweifelt. Man will sich weiter in dem Dreck des Egoismus sielen, man hat ja nun die besseren Plätze im Stall einmal gewonnen und brüllt und stößt mit den Hörnern, wenn die Tür zur frischen Luft geöffnet wird und der Reinigungsbesen erscheint. Daß es sich bei einer Revolution um eine Herkulesarbeit handelt daran zweifle ich allerdings nicht.«
Der sehr junge Mensch begann Wichmann zu verachten und Tee zu trinken.
»Haben Sie die ›Dreigroschenoper‹ gehört, Anuschka?« rief Frau Cholm.
»Sie müssen sie hören – ja, ich besorge Ihnen Karten, für Sie und Ihren Mann. Es ist ein epochales Ereignis.«
Wichmann zog sich auf sich selbst zurück und begann die Mitmenschen zu studieren, unter die er geraten war. Sie hatten alle Interessen und Leidenschaften, vielleicht hegten sie auch nur Illusionen und waren hysterisch. Wichmann hörte ihnen mit Neugier zu, um ihre Wesensart zu ergründen. Der einzige, der sich ebenso schweigsam wie er selbst verhielt, war der Regierungsrat Loeb. Das Schweigen der beiden Herren begann sich allmählich anzuziehen, und als die Schar der Gäste sich noch vergrößerte und man die Plätze wechselte, fanden sich Wichmann und Loeb beim geöffneten Fenster zusammen. Ihre Teetassen stellten sie auf den Sims. Zigaretten rauchend schauten sie auf den stillen Kanal draußen im Sommerdunkel.
»Sie sind zum erstenmal hier, Herr Wichmann?«
»Ja.«
»Dann haben Sie den frischeren Eindruck. Was halten Sie von dieser Menschenart, die sich hier ein Stelldichein gibt?«
»Die Leute sind nicht langweilig. Über Weiteres bin ich mir selbst noch nicht klar.«
»Unklarheit ist auch das wesentliche Kriterium dieser Intellektuellen. Es gibt nichts so Unklares wie einen Menschen, der den Boden erst einmal unter den Füßen völlig verloren hat und im geistigen Weltenraum ohne festen Beziehungspunkt herumtaumelt.«
»Ohne festen Beziehungspunkt? Ich habe das Gefühl, daß diese Menschen mit ihren Ansichten viel fester auf ein Reißbrett gespannt sind als ich.«
»Lassen Sie sich davon nicht irremachen. Das Milieu hier gleicht einem Fieberthermometer. Das Steigen der europäischen Krankheitstemperatur kann an solchen Erscheinungen gemessen, aber nicht davon beeinflußt werden.«
»Wieviel Grad schätzen Sie zur Zeit?«
»Achtunddreißig – aber das Fieber wird von jetzt an rasch in die Höhe gehen.«
»Davon sind Sie überzeugt?«
»Ich weiß es.«
»Dann gebrauchen Sie das Wort ›wissen‹ nicht nur im Sinne der Erfahrung und der exakten Wissenschaft?«
»Ich gebrauche es im Sinne der Wissenschaft. Sie werden sehen, daß ich recht behalte.«
Wichmann blies den Rauch aus und blickte nachdenklich auf das träge Wasser hinunter.
»Mir scheint, daß ich viel weniger entschieden zu Welt und Leben Stellung nehme als Sie, Herr Loeb.«
»Sie sind weniger hysterisch als die meisten Anwesenden hier. Wenn Sie sich aber mit mir vergleichen, so müssen Sie sich eingestehen, daß Sie noch nicht in eine entscheidende Situation gekommen sind. Vergessen Sie nicht, daß ich Jude bin!«
»Sie sind deutscher Beamter.«
»Auch das, nachdem man mich in Kenntnis meiner Volkszugehörigkeit dazu berufen hat.«
Loeb sprach alle seine Sätze stolz und abgehackt.
Wichmann hätte gern mehr darüber erfahren, was diesem Mann seine Festigkeit gab.
»Der Unterschied zwischen uns ist nicht nur darin begründet, daß Sie Jude sind«, forschte er nachdenklich. »Sie sind auch anders als Herr Nathan.«
»Glücklicherweise.«
»Herr Nathan ist auch mir unsympathisch, aber ich glaube, er leidet darunter, daß er sich als Jude verachtet glaubt. Das ist bei Ihnen nicht der Fall.«
»Herr Nathan hat weder eine Weltanschauung noch einen Charakter. Er ist nur die Karikatur eines Charakters. Sein Vater war ein Kleinkrämer in einer Kleinstadt, mächtig und zugleich verachtet. Dieses Milieu hat unseren Kollegen vollständig verkrümmt. Er ist ein hoffnungsloser Fall. Ich bin anders geworden als er, ja. Aber Sie sind ja auch anders als – sagen wir – als Herr Borowski. Die Front teilt die Völker mitten durch.«
Wichmann nickte. »Sogar mitten durch die Ministerien.« Loebs Gesichtsausdruck wurde ironisch. »Haben Sie die soziologischen Delikatessen in unseren Büros schon geschmeckt?«
»Ich bin noch naiv, Herr Loeb.«
»Das sind Sie. Aber Sie sind entwicklungsfähig. Der Charakter Ihrer Schrift ist mir in dieser Richtung nicht weniger aufschlußreich als Ihr Verhalten.«
»Sie deuten Schriften?«
»Es ist für mich ein Versuch, Menschen zu deuten. Was halten Sie von Grevenhagen?«
Wichmann versuchte, in dem Gesicht seines Gesprächspartners zu lesen, aber er fühlte, daß er selbst dabei rot wurde, und senkte, ärgerlich über die eigene Verlegenheit, den Blick. »Er ist mein Chef.«
»Er kommt aus der traditionellen feudalen Sphäre, Wichmann. Übriggebliebene Ehrbegriffe, Treuebegriffe, bei Grevenhagen persönlich schon von der materiellen Basis des Grundeigentums abgelöst, aber noch verfangen in dem entsprechenden Ideenkreis solcher Herren. Zwiespältig also, verschroben, leicht verwundbar. Boschhofer dagegen ist bayrische Landwirtschaft und Industrie auf agrikoler Grundlage. Traditionsbewußt und geschäftstüchtig, massiv. Aber ängstlich, wenn es an juristische und statistische Fragen geht, damit kennt er sich nicht aus und wird das, was man bei den Hunden einen Angstbeißer nennt. Kortis, Nischan, Lemme – Lemme kennen Sie noch nicht – allerhöchster Personalchef – diese drei sind Partei der Großindustrie diverser Schattierungen sowie ihrer Trabanten. Der Kampf der Gruppen untereinander ist sehr interessant und spezifisch deutsch, da wir allein noch am Feudalismus kranken.«
»Sie ziehen also Nischan oder Boschhofer Herrn Grevenhagen vor?«
»Sie verwechseln das Individuum und die Klasse, der es zugehört. Die Menschen gehen bei uns in ihren Charaktermasken zugrunde. Um Grevenhagen ist es schade. Ich ziehe für die Zukunft den Sozialismus vor. Lesen Sie bei Gelegenheit das ›Manifest der Kommunistischen Partei‹.«
Das Gespräch wurde durch Musa unterbrochen, der eine Frage an Loeb hatte. Wichmann benutzte die Gelegenheit, um langsam weiterzugehen.
Er fühlte sich unsicher wie ein Fisch, der in einem fremden Teich abgesetzt worden ist. Ohne sich in die lebhaften Diskussionen rings mehr einzumischen, hielt er sich an seine Zigarette und inspizierte das zweite Zimmer, das den Gästen ebenfalls zur Verfügung stand. Es war nur durch einen roten Vorhang in der Türöffnung von dem ersten getrennt und enthielt an Möbeln nichts als Schrank und Couch. Mit materieller Ausschmückung des Daseins schien sich Herr Musa grundsätzlich nicht zu belasten. Auf der Couch lag ein einziges zerlesenes Buch. Wichmann griff danach und blätterte; es war eine Mischung von Geschichtsphilosophie und Utopie. Er legte es beiseite und ging wieder zum Fenster. Auf der still gewordenen Uferstraße fuhr ein Privatwagen, ein Buick. Er hielt vor dem Haus Nr. 27; der Chauffeur öffnete die Autotür und wartete respektvoll. Eine Dame stieg aus – ohne Hut –, Wichmann erkannte den schwarzen glatten Pagenkopf. Sie wandte sich, als ob sie der zweiten Insassin beim Aussteigen behilflich sein wolle. Ein schwarzglänzender Turban erschien in der niedrigen Wagenöffnung. Als Wichmann die geschmeidigen Schultern gesehen hatte und die Finger, die sich leicht auf die Hand des Chauffeurs stützten, verließ er das Fenster und begab sich hinaus auf den Vorplatz der Wohnung. Durch die Glastür hörte er schon die Tritte auf der Treppe; ehe der Klingelknopf benutzt wurde, öffnete er und empfing.
»Ah, Herr. Dr. Wichmann! Wie aufmerksam!« Fräulein Ramlo lächelte lebhaft. »Haben Sie uns schon beobachtet? Das ist hübsch, daß Sie jetzt auch hier zu treffen sind. Ich habe Sie hier noch nie gesehen! Sie sind zum erstenmal hier? Ja?«
Wichmann nahm Marions schwarzen Seidenmantel in Empfang und beeilte sich, Fräulein Ramlo, wenn auch zu spät, seine gleiche Dienstbereitschaft anzudeuten.
Nachdem abgelegt war, steuerte Fräulein Ramlo auf die Zimmertür zu und öffnete.
Aus dem von Stimmen und Rauch erfüllten Raum klang sogleich Frau Cholms Ruf:
»Oh, Fräulein Ramlo! Endlich wieder einmal!«
Marion Grevenhagen hatte einen Augenblick gezögert. Sie sah Wichmann an, der neben ihr stand. Plötzlich öffnete sie die zierliche Wildledertasche, zog einen dünnen, gebogenen, in Seidenpapier gewickelten Gegenstand hervor und steckte ihn hastig dem jungen Mann zu.
»Ich danke Ihnen für Ihre Warnung – Nehmen Sie – niemand zeigen – als Sicherheit – das Konto wissen Sie –« Sie flüsterte; die Worte waren nur wie ein Hauch zwischen zitternden Lippen.
Fräulein Ramlo war inzwischen in das Zimmer eingetreten und wurde von Frau Cholm mit weiteren Ausrufen begrüßt; sie sah sich nicht um, wahrscheinlich nahm sie an, daß Marion Grevenhagen ihr schon gefolgt sei. Wichmann machte die Tür hinter ihr leise zu, ohne daß die im Zimmer befindlichen Gäste und Gastgeber es beachteten. Er war mit Marion allein.
»Herr Wichmann! Werden Sie mir helfen? – Es ist mein Diadem – Platin – mein Gatte soll nichts ahnen – Wir sind mit Schomburg in großen Schwierigkeiten –«
Der junge Mann fühlte, wie ihm heiß wurde. Die Kostbarkeit brannte in seiner Hand.
»Gnädige Frau – was an mir liegt, werde ich tun. Leider habe ich selbst kein Vermögen mehr zur Verfügung … 1500 Mark sind alles, was ich noch mein eigen nenne …«
Marion hatte den Kopf etwas gehoben. Wichmann sah die verzerrten Lippen der jungen Frau und den verzweifelten Ausdruck ihrer Augen. Er erinnerte sich an das grauenhafte Bild einer zwischen Schrank und Wand eingeklemmten und verhungerten Katze, das er einmal gesehen hatte.
»Marion …«
Sie griff in die Luft. Er legte den Arm um sie und fühlte ihren schmiegsamen Körper.
Er erinnerte sich, daß es ihre Schultern waren, die er zuerst an ihr empfunden hatte. Er hätte sie küssen können, sie hätte sich nicht gewehrt. Aber die Hilflosigkeit, mit der sie in seinem Arm lag, verwehrte es ihm. Wenn er ihre Lage ausnützte, war das eine Schändung.
»Verlassen Sie mich nicht, Herr Wichmann … Verkaufen Sie – oder versetzen Sie – aber nicht hier, nicht in dieser Stadt …«
Der Türgriff bewegte sich.
Marion hatte sich aufgerichtet. Als Fräulein Ramlo zurückkam, um sie zu suchen, trat sie ihr mit einem amüsierten Lächeln entgegen.
»Warum wollten Sie uns ausschließen?«
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Frau Grevenhagen – eine solche Ungezogenheit von mir – zuerst eintreten – nur die Freude über Frau Cholms Hiersein kann mich entschuldigen – ich laufe durch die Tür ohne Gedanken – irgend jemand macht sie vor Ihnen zu – nein, wie soll ich mich entschuldigen – bitte mir zu verzeihen.«
Die beiden Damen waren sofort von anderen Gästen umringt. Frau Grevenhagen schien in diesen Räumen nicht unbekannt zu sein, aber sich doch nur selten zu zeigen.
»Mein Gatte bedauert sehr, Herr Musa, er ist heute verhindert zu kommen. Fräulein Ramlo, bei der ich das Abendbrot genommen habe, war so freundlich, mich in ihrem Wagen mit hierher zu bringen.«
Herr Musa schien mit bourgeoisen Manieren vertraut zu sein. Er brachte den einen der eben frei gewordenen Stühle mit Armlehne herbei, bat Frau Grevenhagen, darin Platz zu nehmen, und bemühte sich für sie um Tee, Zitrone und Zucker.
Anuschka, die heißes Wasser nachgießen mußte, erhielt einen ungeduldig-bösen Blick, und Wichmann beobachtete, daß der jungen flachsblonden Frau die Tränen in die Augen traten.
Marion Grevenhagen war schon der Mittelpunkt der Gesellschaft. Sie saß in lässiger und doch beherrschter Haltung zwischen den Intellektuellen, Künstlern und Emigranten. Die schwarzseidene Russenbluse, die sich mit einer sehr zart und kunstvoll gestickten Borte um Hals und Handgelenke schloß, war reizvoll und unterstrich die Besonderheit ihres Wesens. Sie hatte eine Art, die Teetasse zu halten, die immer betrachtet werden konnte.
Musa ließ sich nicht von ihrer Seite abbringen. Wichmann aber hatte sich ein Stück zurückgezogen und blickte unverwandt auf das lebende Bild.
War es möglich, daß eine Frau ihre Seele so verbergen konnte? Oder war Marions Wirklichkeit in diesem Augenblick schon wieder eine ganz andere? Sie lächelte nur und hörte. Sie hörte die Komplimente Musas, sie hörte die Ansichten des Jünglings, die dieser mit wachsender Leidenschaft vor ihrem Schweigen entwickelte, sie hörte die Bemerkungen des Pagenkopfs und Katjas astrologische Voraussagen. Sie hörte zu und sagte nichts, aber alle schienen in ihren Augen das tiefere Ahnen um die Dinge zu suchen und meinten, aus diesem Rätsel eine Lösung ziehen zu können.
»Das einzige, was durch die Trivialitäten dieser elenden Welt gehen kann, ohne davon berührt zu werden, ist eine vollkommene … Frau«, sagte Musa. »Sie ist das mit dem Urgrund des Seins noch unmittelbar Verbundene, nur aus eigenem Wesen Seiende und Handelnde. Sie geht durch unsere Schranken hindurch als das nicht Faßbare; niemand verdient, in ihrer Nähe zu weilen, als der, der dieses ihr Wesen begriffen hat. Sie ist nicht an die Kette der Konvention zu legen und nicht im Stall der bürgerlichen Verhältnisse zu halten. Die Türen tun sich auf vor ihr, und ihre Freiheit gehört dem, der weiß, daß sie frei ist.«
Ach, Herr Musa, wollen nicht Sie die 20ooo oder 30ooo Mark beschaffen für ein Platindiadem? Vielleicht vermag Ihre Zunge auch vor einem bedenklichen Juwelier so pausenlos zu reden?
»Die Stellung des bürgerlichen Zeitalters richtet sich schon durch seine unwahre Einstellung zur Frau. Die ganze Verlogenheit kommt in der brutalen Herrschsucht mancher Männer …«
Wichmann konnte nicht weiter zuhören.
Er sah Marion in der neuen Umgebung. Wie eine erwachte und sich aufbäumende Schlange erschien ihr schöner Leib zwischen der Zier des roten Stuhles, der sie mit Rücken- und Armlehne umrahmte. Sie war eine seltsame Ergänzung zu dem schmalen und schwarzen Musa, und Wichmann vergaß allmählich alles um sich außer diesen beiden.
Marion hatte sich verwandelt. Eine Schranke um sie war wirklich gefallen. Sie schien nur noch aus ihrem eigenen Wesen zu leben. Ihr Lächeln war spöttisch und wissend geworden, zwischen ihren Lippen schimmerten weiße Zähne. Der Schleier ihrer dunklen Augen lüftete sich nicht, aber das Spiel, das dahinter gespielt wurde, war kühner.
»Die Frau ist Himmel und Hölle«, drang Herrn Musas Stimme wieder in Wichmanns Bewußtsein. »Kein Mann vermag ihre dämonische Verbissenheit in das Materielle, keiner die Gleichgültigkeit zu erreichen, mit der sie wieder über alles hinweggeht. Es hat keine Revolution gegeben, in der die Frau nicht die Hingebendste gewesen wäre, deren Gefühl das Verderbte tief an der Wurzel faßte und inbrünstig vertilgte. Eine große Frau vermag alles zu sein – Dirne, Bettlerin, Königin – nur eins ist ihr fremd – das Banale. Die Träger des Kommenden können sich nur verneigen vor Ihnen, Frau Marion, mit der die Leidenschaft in einer entgötterten Welt wieder erschienen ist. Wir wollen nicht ergreifen und besitzen, wir wollen nur darum wissen, daß Sie aus der gleichen Idee geboren sind wie wir.«
»Alphonse …«, sagte Fräulein Ramlo, »Sie schwärmen wieder einmal.«
Diese Worte waren das einzige, was Wichmann außer Musas Worten und Marions Augen in sich aufnahm.
Alphonse …
Frau Marion … Haben Sie Ihren Gatten Justus Grevenhagen und Ihren Diener Oskar Wichmann einmal so angelächelt, wie Sie jetzt dem Bohemien Musa entgegengelächelt haben, während Ihr Kinn sich hob?
Frau Grevenhagen hatte noch einen Schluck Tee genommen, sie hatte das dünne Porzellan der chinesischen Tasse wieder auf den niedrigen runden Tisch gestellt und war aufgestanden. Sie ging, von ihrem Trabanten geleitet, durch das Zimmer. Ihre Finger führten die Zigarette zum Mund. Sie kam nahe an Oskar Wichmann vorbei und suchte seinen Blick. Wichmann antwortete, mit einer Stichflamme des Hasses, ohne sich zu rühren. Er erkannte das Erschrecken in ihren Zügen.
Ausgespielt, Marion. Aus …
Sie machte eine ungeschickte Bewegung mit der Zigarette, Asche fiel zu Boden.
Asche brennt nicht mehr, Marion.
»Herr Wichmann, warum sehen Sie mich so feindselig an?«
»Nicht Sie, gnädige Frau – ich sah nur einem Traumbild nach, das mir entfloh. Kennen Sie den Teich in unserem Park, schilfumwuchert, mondbeschienen, wenn des Nachts die Nixen tanzen? Sie singen Alphonse …«
Marion war sehr blaß geworden. Musa schoß hoch. »Ihre Träume sind wunderbar, Herr Dr. Wichmann, und schwer zu verstehen.«
»Nur für die zu verstehen, die das Mysterium kennen, und das sind wenige, Herr Dr. Musa.«
Marion legte die Hand auf Musas Arm, als wolle sie ihn davor bewahren, mehr zu sagen. Die Zigarette entfiel ihr ganz.
»Herr Wichmann – ich habe Ihnen Macht gegeben in meiner Sache. Wollen Sie sie benutzen?«
»Sie können auf meine kavaliersmäßigen Ehrbegriffe jederzeit und in allem vertrauend spekulieren, gnädige Frau.«
»Herr Wichmann – ich bin natürlich bereit, Sie zu entlasten. Ich wußte nicht, daß Sie in dieser Weise eingestellt sind.«
»Ihre Wünsche sind mir Befehl, gnädige Frau. Belassen Sie sie oder ändern Sie sie ich werde gehorchen.«
Marions Mundwinkel zogen sich ein wenig herab, ihre zarten Nüstern atmeten einmal stärker wie die eines erregten Pferdes.
»Ich hatte Anlaß, mir andere Vorstellungen von Ihnen zu machen, Herr Dr. Wichmann.«
Der Assessor verbeugte sich. »Ich nehme Ihren Tadel entgegen, gnädige Frau, und bedaure tief, ihn verdient zu haben.« Marions Schultern zogen sich zusammen. Sie ließ Wichmann stehen und begab sich in Musas Begleitung in das Nebenzimmer zu dem zweiten Kreis der Gäste. Die Stimmen rings flirrten durcheinander.
Wichmann warf seine Zigarette zum Fenster hinaus. Seine Augen suchten nach Frau Anuschka. Er wollte sich verabschieden, aber er konnte die Hausfrau nicht entdecken, obwohl er glaubte, daß sie noch im Zimmer sein müsse. Plötzlich stand Anuschka neben ihm, als sei eine Zaubergestalt aus dem blutfarbenen Nesseltuch des Vorhangs hervorgewachsen. Sie setzte sich auf das Fensterbrett, im Grün ihres Kittels zu dem roten Vorhang.
»Bitte, sagen Sie – Herr Wichmann – was denken Sie? Müßte Frau Marion nicht meines Mannes Frau sein?«
Wichmann sah in das müde Gesicht mit dem unerfindlichen Ausdruck in den Augen.
»Warum kommen Sie auf solche Gedanken, Frau Anuschka?«
»Ich bin dumm und nicht sehr schön. Finden Sie zwei Frauen schlecht für einen Mann?«
»Ich finde, Frau Anuschka – aber warum? Glauben Sie denn, daß Frau Marion Ihren Gatten liebt?«
»Das habe ich noch nie gedacht. Aber er liebt sie.«
»Mag sein, Frau Anuschka, aber es gibt viele Männer, die Frau Marion lieben. Es ist unmöglich, daß alle diese Männer sie auch heiraten. Jedenfalls nicht gleichzeitig. Im Augenblick ist sie die Gattin des Ministerialdirigenten Grevenhagen.«
»Was Sie sagen, ist wahr? Ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Ach – Sie haben ihn noch nie gesehen? Er gibt Frau Marion nicht frei.«
»Wenn sie will …«
»Ich glaube nicht, daß Frau Marion auf so vieles verzichtet.«
Der Vorhang zwischen den beiden Zimmern war von Durchgehenden zur Seite geschoben worden. Wichmann sah die, von der er sprach. Marion rauchte. Allein die eine Bewegung, mit der sie jetzt die Zigarette zum Mund führte und abnahm, ließ Wichmann wissen, daß sie ihm für immer verloren war. Marion hatte das Lager gewechselt.
»Ich will gehen, Frau Anuschka.«
Er führte die knochige Hand der jungen Frau zum Kuß und lief schnell an der Gruppe der diskutierenden Teetrinker vorbei. Sein Hut und sein Mantel hatten sich unter einer Fülle gleichartiger Gegenstände verborgen. Als er danach suchte, löste sich ein Haken, und die Garderobe fiel zu Boden. Es war peinlich und lächerlich. Das Geräusch war im Zimmer gehört worden. Frau Anuschka kam heraus.
»Lassen Sie – Hammer ist nicht da.« Die junge Frau lief wieder fort und brachte eine Decke, die sie auf den Boden breitete. »Legen Sie die Sachen darauf!«
Der Assessor tat, wie ihm geheißen wurde. Marions Seidenmantel fiel ihm dabei in die Hand. Als er ihn vor einer Stunde zum erstenmal gefaßt hatte, war noch vieles anders gewesen.
Er nahm den Hut in die Hand, ließ seinen Mantel offen und wollte sich nochmals verabschieden.
»Ich begleite Sie ein Stück …«
Die junge Frau hängte sich an seinen Arm und stieg mit ihm die sich wendende Holztreppe hinunter. Unten im Flur war es dunkel, aber als die Haustür sich öffnete, gab sie den Blick zu Wasser und Laternen frei.
Wichmann schlenderte mit Anuschka am Ufer entlang. Die Möwen waren schlafen gegangen. Der Kanal schillerte. Hoch oben spielten die Wolken mit dem Mond.
»Wie denken Sie – sehr schlimm, was ich tue? Mit Ihnen gehen?«
»Ich freue mich, nicht allein zu sein.«
Wichmann fühlte Fieberschauer, die Haut seiner Hände zog sich zusammen. Ohne Gedanken folgte er seiner Begleiterin. Aus den Fenstern drangen Radiogeräusche, wenige Fußgänger kamen des Weges. Ein Taxi fuhr vorbei, der Stadt zu.
Wichmann wurde sich dabei bewußt, daß er mit Anuschka zum Hafen lief, dahin, wo der Schleppkahn vielleicht seine Stätte hatte. Warum nicht? Es war besser, alles hinter sich zurückzulassen.
»Frieren von zuwenig Liebe«, sagte Anuschka mild und nahm Wichmanns kalte Hand zwischen ihre Hände. »Menschen sind hart hier. Daheim sind wir froh gewesen und haben uns miteinander gefreut.«
»Wo ist deine Heimat, Anuschka?«
»Weit, weit fort. Wir wollen Kinder sein und denken, daß wir hinwandern. Siehst du, das Wasser kommt eine große Straße, und der Mond geht am Himmel. Wir wollen auch gehen, mit Wasser und Mond. Hast du den Himmel lieb und die Erde und mich?«
»Ich kann heute niemanden mehr lieb haben, Anuschka.«
»Du bist traurig, ich habe deine Augen gesehen. Der Haß ist in dich hineingesprungen. Er ist ein böser Käfer und frißt in deinen Knochen.«
Anuschka fröstelte. Wichmann schlang die schmale Gestalt in seinen Mantel hinein. So gingen sie zusammen, während der Nachtwind feucht über das Ufer zog. Blätter bewegten sich vor dem Sternenhimmel, das Radio war verklungen. Die Füße des Mannes und der mädchenhaften Frau fanden den gleichen Schritt.
Die Häuser am Ufer wurden kleiner und ärmlicher, und je mehr sich die Werke der Menschen duckten, desto tiefer reichte der Himmel zur Erde herab.
»Laß uns den Stern denken, zu dem wir gehen«, sagte Anuschka. »Sieh, den leuchtenden sollen wir haben, weil wir gute Kinder sind und einander lieben. Du mußt den Haß sterben lassen – Bruder. Sag mir deinen Namen.«
»Nenn mich Oskar.«
»Osa ist gut.«
»Und sag mir, Anuschka, wie man Haß sterben lassen kann. Menschen sterben wohl, aber der Haß springt über die Gräber und ist immer wieder lebendig.«
»Er kann nicht sterben, Osa, weil ihn niemand lieb haben will.«
Die Wandernden gingen weiter. Schwarze Brücken zogen sich über das stumpfe Wasser. Am fernen Himmel stand der Mond. Sein Licht war still, es rührte sich nicht und wärmte nicht. Die Stangen des Geländers endeten. Man konnte vom Weg ins Wasser sehen, ohne daß der schwarze Strich von dem Elemente abhielt. Die Bahn zwischen den Mauern, die das Wasser begrenzten, weitete sich. Schwarze Maste sahen in die Nacht, und alte breite Kähne schliefen. Die Wandernden setzten sich auf eine große Steinplatte und schauten in den Hafen. Auf dem Schleppkahn zu ihren Füßen brannte noch Licht in der Kajüte.
»Das Licht wartet auf uns, Osa«, sagte Anuschka. »Siehst du, wie es hell geblieben ist und ist nicht schlafen gegangen, weil es auf uns wartet. Wir sind gekommen zu ihm.«
»Anuschka, Kind, das ist der alte dicke, langsame Kahn, der heute an deinem Hause vorbeigefahren ist, als ich zu euch ging. Er fuhr mir fort und wußte, daß ich nicht mit ihm kommen würde. Aber nun in der Nacht hat er gewartet, und ich bin doch noch gekommen.«
»Laß uns auf den Kahn gehen, Osa.«
Anuschka sprang auf, und ehe der Mann sie haschen konnte, lief sie die schmale Steintreppe abwärts zu dem Schiff. Der Mann folgte ihr und sprang hinter ihr mit einem großen Sprung auf die Planken des Schiffs, daß es dröhnte. Der Hund schlug an. Kreischend erklang sein Gekläff und zerriß die Stille.
»Anuschka …!«
Das junge Weib schlüpfte an dem knurrenden Hund vorbei, und der Mann blieb stehen und sah ihr nach. Sie schlüpfte in eine helle Öffnung hinein und war verschwunden. Wichmann stand vor dem knurrenden Hunde.
Er wartete, bis der Schiffer kam, das Tier fortwies und ihm winkte. Hinter dem grob gekleideten Mann ging auch er in die Kajüte. Es war ein kleiner Raum. Die Frau, die die Wäsche aufgehängt hatte, saß hier; sie stopfte jetzt Strümpfe. In einer kleinen Hängematte schlief ein Kind. Wichmann gab dem Schiffer von seinen Zigaretten, und der nahm sie, legte die Pfeife fort und rauchte das geschenkte Kraut.
Anuschka saß auf der schmalen Bank bei der Frau. Sie summte ein Lied und fing leise an, fremde Worte zu singen. Niemand sprach ihr dazwischen, bis sie ihr schwermütig-trauriges Lied geendet hatte.
»So ein Besuch«, sagte der Schiffer dann. »Ich hab’ gedacht, es sind Diebe.«
»Die wären wohl leiser gekommen.«
»Ja. Laut genug sind Sie gekommen.« Der Mann musterte Wichmanns guten Anzug und schaute in sein Gesicht. Er wunderte sich wohl, daß der junge Mann nicht so betrunken war, wie er es vermutet hatte. Er tat zwei weitere Züge an der Zigarette. Was wollte ein gut angezogener Mann des Nachts auf einem Kahn?
Wichmann rauchte auch. Die Frau stopfte weiter. Sie sah bleich aus und krank. Anuschka sang ein neues Lied.
»Kennst du das?« fragte der Schiffer. »Bist du schon gefahren?«
»Ich fahre wieder.«
»Zu welchem gehörst du?«
»Ich suche einen.«
»Soso.«
Wichmann war zumute wie in einem Märchen, wenn Zauberstäbe die Menschen und das Land umwandeln. Was lag für eine unbegreifliche Kraft in diesem mageren Mädchen mit dem grünen Kittel und den hellen Augen. Sie war eine Frau, aber wenn der Mann an sie dachte, dachte er immer ›Mädchen‹. Er zweifelte nicht, daß sie mit dem großen Wanderer, auf dem sie jetzt saßen, fortfahren werde. Sie war eines Tages in die Stadt gekommen, und jetzt mußte sie wieder gehen.
»So«, sagte der Schiffer nach langer Zeit, als die Frau ein Paar Strümpfe fertig in den Korb legte und seufzte. »Was kannst du arbeiten, Mädchen?«
»Kochen und waschen, Schiffer. Stopfen und flicken.«
»So. Da braucht es aber auch Papiere und Kleider.«
»Das bring’ ich.«
»Was wir sind, wir fahren in der Frühe um fünf.«
»Ja.«
Die Frau sah Anuschka mißtrauisch an. »Warum willst du gehen? Wirst du ein Kind haben? Oder suchen sie dich?«
»Niemand sucht mich. Ich habe auch kein kleines Kind und werde auch nicht kleines Kind haben.« Anuschka war traurig. »Ich bin nicht von hier, und ich gehe wieder.«
»Du kannst uns helfen für das Essen. Wenn du mir die Papiere bringst.«
»Osa, geh – willst du mir die Papiere bringen und die Kleider? Es ist alles in der Kommode.«
»Kommst du nicht noch einmal mit mir, Anuschka?«
»Doch. Ich gehe noch einmal mit dir.«
Der Schiffer brachte die beiden zur Treppe.
»Du wirst wohl nicht wiederkommen«, sagte er.
»In einer Stunde, Schiffer, bin ich wieder da.«
Oskar und Anuschka wanderten ihren Weg am Ufer zurück. Der Mond sah ihnen in den Nacken, und Anuschkas Haare schimmerten durchsichtig. Sie lachte.
»Ich bin wieder froh, Osa.«
»Weißt du denn, was du tun willst, wenn ihr die Fahrt beendet habt und der Schiffer schickt dich wieder fort?«
»Ich weiß es nicht, Osa. Weißt du, wo du bist hergekommen auf diese Welt und wohin du wirst gehen fort aus ihr? Das ist größere Stunde, und du weißt es doch nicht. Alphonse hat mich gebraucht, er braucht mich nicht mehr. Osa, seine Augen haben es gesagt, und ich will wieder gehen. Du mußt an Alphonse denken, Osa, ihn nicht verlassen, er ist gut und liebt eine böse Frau.«
»Ach, Anuschka, ich liebe Alphonse nicht.«
»Aber ich will ihn durch dich lieben, Osa, das wirst du spüren. Ich will es versuchen.«
Anuschka ging zu einer Bank, die unter einem großen Kastanienbaum stand. Es war finster unter dem Dach der breiten Blätter, und Anuschkas Gestalt verschwamm ganz mit dem Schatten.
»Geh, Osa, ich bitte dich, und hole meine Sachen. Alphonse wird sie dir geben.«
Der Mann machte sich auf den Weg. Als er vor dem Hause Nr. 27 stand, wußte er noch nicht, ob er träumte oder wachte. Der Buick stand noch vor der großen Haustür. Der Chauffeur las eine Abendzeitung. Die Laternen vertrieben in ihrem kleinen Umkreis das Mondlicht und schienen auf Pflaster und Häuser.
Wichmann ging langsam die breiten Stufen der Holztreppe hinauf. Als er am Klingelzug gezogen hatte, kam ihm Katja entgegen.
»Oh, Herr Wichmann sind wiedergekommen. Wo haben Sie Anuschka gelassen?«
»Anuschka singt leise, Frau Katja, sie sieht die Sterne und weites Land und will eine große Reise tun.«
Frau Katjas Augen hatten sich erschreckt geweitet. »Bitte … was sagen Sie …«
»Nichts, wovor Sie sich zu fürchten brauchen, Frau Katja. Wollen Sie so freundlich sein und mir Herrn Musa herausrufen, damit ich mit ihm sprechen kann.«
»Ich werde es tun.«
Wichmann wartete auf dem Vorplatz. Er sah die Mäntel übereinanderliegen auf dem Tuch, das Anuschka noch ausgebreitet hatte.
Marions Mantel lag oben. Als die Zimmertür auf- und zuging, drangen Stimmen in den Korridor heraus. Die Luft war dick geworden von Zigarettenrauch. Eine weiße Hand, die aus dem zierlichen, kunstvoll gestickten Bündchen des schwarzen Ärmels kam, hielt die Teetasse. Katja schien zu sprechen. Die Hand zitterte ein wenig und fing sich wieder.
Herr Musa kam allein heraus.
»Sie wünschten mich unter vier Augen zu sprechen, Herr Wichmann?«
»Was ich zu sagen habe; ist ebenso einfach wie seltsam. Frau Anuschka will auf ein Schiff gehen und fortfahren. Sie bittet um ihre Kleider und ihre Papiere.«
Hinter den Brillengläsern mit den dunklen Rädern hoben sich die Augenlider.
»Sie fahren mit ihr, Herr Wichmann?«
»Nein, Herr Musa. Ich bleibe hier und bin nichts als Frau Anuschkas Bote. Sie geht – in Liebe zu Ihnen.«
Musas Hände zuckten nervös.
»Warum ist Anuschka nicht selbst zu mir gekommen?«
»Ich weiß es nicht, Herr Musa. Sie sitzt auf der Bank am Ufer, unter der Kastanie, und wartet. Sie glaubt, daß Sie frei sein wollen, und geht – aber wenn Sie sie noch lieben und brauchen, so holen Sie Anuschka zurück. Sie liebt Sie immer.«
Musa ging auf der gestrichenen Diele auf und ab. »Ihre Botschaft ist wirklich seltsam, Herr Wichmann. Wenn ich ein bürgerlicher Mann wäre …«
»Seien Sie in diesem Augenblick nichts als ein Mensch, Herr Musa, wie Anuschka auch. Weder bürgerlich noch …« – Wichmann sah mit schmerzlichem Spott auf die guten Bügelfalten und dachte an die amerikanischen Zigaretten –››noch proletarisch.«
Musa war stehengeblieben. Er stand vor dem Haufen der Mäntel, die auf dem Boden lagen, und vielleicht sah er Marions schwarzseidenen Mantel mit Bewußtsein. Kannte er ihn? Er wandte sich brüsk um. »Einen Augenblick bitte, Herr Wichmann. Meine Lebensauffassung erlaubt nicht, irgend jemanden in Fesseln zu legen – ich gebe Anuschka frei – sagen Sie ihr das – warten Sie nur kurze Zeit. Sie werden ihre Kleider und ihre Papiere bekommen.«
»Es ist viel, worauf Sie verzichten, Herr Musa.«
»Darüber bedarf ich nicht Ihrer Belehrung. Eben weil ich Anuschka kenne – weiß ich, daß ein Zugvogel im Käfig sterben müßte. Er ist schön und froh, wenn er frei in der Luft ist.«
Wichmann antwortete nichts mehr. Er sah dem Hausherrn zu, der eine Leiter aus dem Toilette- und Badezimmer herbeischleifte und sie aufstellte, um zu dem Hängeboden im hinteren Teil des Vorplatzes hinaufzusteigen. Mit einem alten, staubigen Koffer kam er zurück. Er machte ihn auf, betrachtete sein verschrundenes Inneres und ließ ihn offenstehen, um in das Zimmer zu entschwinden. Was würden die Gäste sagen? Vielleicht waren sie snobistisch genug, die eleganten Theoretiker, um ihr Vergnügen an der kleinen Sensation zu haben.
Musa kehrte aus dem Zimmer in Begleitung Katjas zurück. Er brachte drei Kleider, zwei Paar Strümpfe mit Löchern, ein Paar Schuhe und ein leichtes Mäntelchen, noch eine Decke dazu, in der vielleicht Wäsche steckte. Katja räumte die Sachen in den Koffer. Es war merkwürdig anzusehen, wie diese rundliche Frau in Tüll und Spitze Anuschkas ärmliche Sachen packte. Der Koffer wurde kaum voll. Wichmann stand bei Musa und studierte die Papiere. Anna …, geb. 19o6 …« Es folgte der Name einer Stadt, den Wichmann sich nicht zu merken vermochte. Er steckte die Papiere zu sich, und auf einmal sah er, wie völlig hilflos Musas Augen waren, wenn er die Brille abnahm.
Katja hatte den Koffer geschlossen.
Musa putzte seine Brille.
»Ich kann Ihnen das eigentlich nicht zumuten, Herr Wichmann.«
»Wollen Sie nicht selbst zu Anuschka gehen?«
Musa ließ einen Augenblick die Hände sinken, dann setzte er die Brille wieder auf. »Nein. Es soll alles sein, wie es Anuschkas Wunsch war. Sagen Sie ihr, daß ich sie geliebt – habe.«
»Perfektum, Herr Musa?«
»Perfektum.«
Wichmann nahm den alten Koffer, er war leicht.
»Adieu, Herr Musa, Sie erlauben, daß ich mich schon ganz verabschiede.«
Frau Katja kam mit, als Wichmann den Koffer hinuntertrug. Ihre kleinen Füße in den Schuhen mit feinen und hohen Hacken wirkten wie die einer Chinesin. Der Rist trat breit hervor, und die winzigen Zehen waren abgeknickt. Sie trippelte; die Muskeln ihrer geschwungenen Waden waren gespannt. Aber die Mienen des nicht mehr jungen Gesichtes bewegten sich weich und leicht wie die molligen Hände. Wichmann ging mit ihr an dem Buick vorbei durch den Laternenschein, und der Chauffeur hob den Blick über die Abendzeitung und schaute den beiden nach.
Der Mond war gestiegen und spiegelte sich in dem schmutzigen Wasser.
»Sehen Sie, Sterne, Wichmann, viele, viele, viele. Einer ist Anuschkas. Anuschka ist bessere Seele als wir alle, wissen Sie?«
»Ich habe es erfahren.«
»Warum wird Anuschka gehen?«
»Weil ihr Stern es will. Glauben Sie das?«
»Glauben – aber ich bin sehr betrübt.«
Die Kastanie streckte ihre breiten Zweige über das Ufer zum Wasser, und Wichmann entsetzte sich vor dem Gedanken, daß die Bank leer geworden sein könne.
Aber Anuschka hatte gewartet.
Als sie Katja erkannte, ließ sie sich umarmen, die beiden Frauen herzten und küßten sich, und Katja weinte.
Dann gingen alle drei zusammen am Ufer entlang zum Hafen.
»Wir haben Angst um dich, Anuschka.«
»Warum denn Angst haben, Katja? Ich kann arbeiten.«
Wichmann hängte Anuschka den dünnen Mantel über die Schultern, sie band ein Tuch um den Kopf und schritt mit großen Schritten aus. Katja hatte ihren Arm gefaßt und trippelte mit. Die Masten im Hafen sahen immer noch schwarz und leise schwankend in den Sternenhimmel, und die dicken Kähne schliefen in dem Mondwasser und träumten von der Fahrt. Das eine Licht brannte noch.
»Jetzt will ich allein gehen«, sagte Anuschka, »und ich danke euch für alle eure Liebe, Katja und Osa.«
Sie küßte Katja, und dann gab sie ihren Mund Osa. Der Mund Anuschkas war breit und schmallippig, er war nicht schön. Der junge Mann küßte ihn anders, als er je eine Frau geküßt hatte.
»Du mußt Alphonse nicht vergessen, ich werde ihn auch nicht vergessen, Osa.«
»Gott befohlen, Anuschka. Es kann niemand über seine Kraft.«
»Du bist gut zu mir gewesen, Osa. Hier, willst du etwas haben, um an mich zu denken?«
Der junge Mann nahm das kleine Bild und steckte es in die Brusttasche zu dem harten Platindiadem. »Ich vergesse dich nicht.«
Das Mädchen ließ sich den alten Koffer geben, und dann lief sie die Steintreppe hinunter und winkte, und Wichmann und Katja winkten ihr nach und hörten das Poltern ihrer Füße und das Kläffen des Hundes, als sie wieder auf das Schiff sprang. Die breite Gestalt des Schiffers zeigte sich, und Anuschka ging mit ihm in die Kajüte. Noch einmal kam sie heraus und nickte und winkte zum Abschied, dann hatte der dicke Kahn sie verschluckt.
Katja und Wichmann konnten nicht gleich gehen. Sie schauten noch auf das leise schaukelnde Wasser, das die Schiffsleiber streichelte, und auf den Mond, der im Himmel schwamm wie ein runder, wunderbarer Fisch.
Als sie sich endlich wandten, bot Wichmann Frau Korsakoff den Arm, und sie sprachen lange nichts, während sie am Ufer zu dem Hause zurückwanderten, aus dem Anuschka fortgegangen war. Auf der Bank unter dem Kastanienbaum trocknete Frau Korsakoff noch einmal ihre Tränen, und unter dem Schein der nächsten Laterne zog sie den Spiegel und tupfte das hellhäutige Gesicht.
»Frau Marion ist eine Zauberin, große, und unter dem Stern der Venus geboren, wissen Sie?«
»Ich glaube es Ihnen, gnädige Frau.«
Der Buick war verschwunden.
Oskar Wichmann küßte Frau Korsakoff die Hand, ehe sie an der Glastür nach dem Klingelzug griff.
Als Musas Stimme hörbar wurde, stand Wichmann schon wieder unten im Hausflur.