Читать книгу Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich - Страница 8

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Ein Motor lief an und verursachte ein Geräusch in der Morgenstille der Kreuderstraße. Wichmann, schon in Hut und Handschuhen, warf noch einen Blick durch das Fenster. Ein dunkles Kabriolett entschwand eben in Parkrichtung.

Nun aber schnell. Es war acht Minuten vor halb neun Uhr. Er wollte nicht die Manieren der Lotte Hüsch annehmen.

Der Weg ließ sich angenehm gehen, wenn die Morgensonne um die erhobene Nase spielte. Der Assessor betrat am zweiten Tage seines Dienstes das helle Gebäude mit eiligen Schritten durch den Nebeneingang in der Ottostraße und begab sich in seine möblierte Zelle.

Hut und Aktentasche gehörten in den Schrank, die blaue Mappe in den Schreibtisch. Das Fenster konnte etwas weiter geöffnet werden. Auf dem »Eingangsplatz« des Aktenbocks hatten sich heute schon viele Mappen angefunden; die Amtsgehilfen begannen den Dienst eine halbe Stunde früher. Der Assessor blätterte die Eingänge flüchtig durch. Blaustift: »Herrn Wi z. K … G.« – »Herrn Wi z. K … G.« Der Ministerialrat gab seinem Mitarbeiter Verordnungen, Erlasse und Schriftstücke, die mit einem vorzubereitenden Gesetz zusammenhingen, »zur Kenntnis.« Wichmann las und machte sich Notizen, während er die blaue Mappe in der Mittelschublade seines Tisches wußte. Er war sich nicht schlüssig, ob er sich zur Berichterstattung über seine kriminalistischen Denkergebnisse bei dem Ministerialrat anmelden oder ob er dessen Anruf abwarten solle. Seine Unentschlossenheit führte dazu, daß er wartete.

Das Telefon rief.

»Wichmann.«

»Vorzimmer Ministerialdirektor Boschhofer. Der Ministerialdirektor bittet Sie, in einer Viertelstunde zu ihm zu kommen.«

»Jawohl. Danke.«

In einer Viertelstunde. Na schön.

Sollte er Grevenhagen oder wenigstens Fräulein du Prel davon unterrichten? Vielleicht suchte der Ministerialrat seinen Assessor und die blaue Mappe eben in den fünf Minuten, die dieser sich zur Vorstellung bei Boschhofer aufhalten würde.

Der Apparat von Fräulein du Prel war besetzt.

Wichmann blätterte in den Schriftstücken, die er vor sich hatte, ohne Aufmerksamkeit weiter. Der Anruf war um neun Uhr fünfundvierzig erfolgt. Drei Minuten vor zehn Uhr wollte der Assessor sich auf den Weg in den ersten Stock machen.

Der Apparat von Fräulein du Prel war noch immer oder schon wieder besetzt. Er würde der Sekretärin im Vorbeigehen Bescheid sagen. Den Schlüssel zur mittleren Schreibtischschublade steckte er zu sich.

Es war an der Zeit. Wichmann verließ sein Zimmer, ging den dunklen Korridor entlang und unterrichtete Fräulein du Prel, die schwarz gekleidet, zart und unnahbar wie am Vortag in ihrem hellen Zimmer saß. Der Zinnienstrauß am Fenster blühte noch frisch.

Wichmann ging die Vordertreppe zum ersten Stock hinunter.

Nr. 69, Front gegen den Königsplatz; braun gebeizte Türen mit den Namensschildchen. Vorzimmer … Wichmann machte eine sehr leichte Verbeugung, der mit entgegen kommendem Lächeln gedankt wurde. Laura Lundheimer war in dem Alter, in dem man die Jugend zu schätzen beginnt. Der herzförmige Ausschnitt ließ die Ansätze des Busens erkennen; um das gepuderte Gesicht mit den vollen Wangen waren industrieblonde Locken gruppiert, mit dem Wunsch zu gefallen, doch nicht so schick, wie die Hände von Fräulein Hüsch sie legen konnten.

»Bitte … der Ministerialdirektor ist frei.«

Wichmann trat ein.

Die indifferente und respektvolle Miene, die dem neu angestellten Assessor angesichts des ihm vorgesetzten Ministerialdirektors zukam, war ein Schild vor Wichmanns Empfindungen. Dieser amtlich angenommene Ausdruck aber, mit dem er eine Verwirrung seines Innern verbarg, steigerte diese Verwirrung nur, denn der Natur des jungen Mannes war Heuchelei noch fremd. Er fühlte sich befangen in den Fäden seiner eigenen Gedanken und Gefühle, die er der Phantasievorstellung »Boschhofer« gegenüber gehegt hatte, und vermochte es nicht mehr, dem Manne, vor dem er stand, frei in die Augen zu sehen.

»Nehmen Sie Platz.«

Da kein schlichter Stuhl in der Nähe war, rückte Wichmann den lederbezogenen Sessel, der neben dem Schreibtisch stand, zurecht und ließ sich nieder. Der Sessel war kurzbeinig. Der Assessor versank darin und schaute, aus unnatürlicher Tiefe, hinauf zu der unnatürlichen Höhe der Masse Boschhofer und den runden Brillengläsern.

»Sie sind zu uns einberufen worden. Ich würde gern von Ihnen hören, was Sie von Ihrer Arbeit hier erwarten.« Die Stimme klang volltönend zwischen vollen Lippen hervor. Der Sprecher hatte die Ellbogen auf die Lehnen seines Schreibtischstuhles gestützt, und seine Finger berührten sich vor dem gewölbten Leib. Wichmann schätzte auf annähernd zwei Zentner, dennoch wirkte der Koloß nicht unförmig, die Größe glich aus.

»Ich hoffe, eine neue Materie kennenzulernen und dabei einiges Nützliche zu leisten.« Wichmann war unzufrieden mit sich; er fand seine Antwort schülerhaft.

»Sie müssen selbständig sein und Ideen haben … Energie, Initiative entwickeln … Ministerialrat Nischan hat Wert auf Ihre Einberufung gelegt. Es ist mein Prinzip, die Jugend zu uns heranzuholen, endlich einmal frisches Blut in unseren alten Bau! Sind Ihnen schon Arbeiten übertragen worden?«

»Eine Zusammenstellung zu den kommenden Etatverhandlungen … habe ich Herrn Ministerialrat Grevenhagen vorgelegt.«

Der Ministerialdirektor schien den anderen Namen zu überhören. »Sie müssen sich nicht in Ihr Referat hineinwühlen wie ein Maulwurf, der für alles andere blind wird. Schauen Sie sich um, ein Beamter muß mit allem Bescheid wissen heute! Haben Sie sich schon für Wirtschaft und für Konjunktur interessiert?«

»Nebenbei – ja.«

Der Antwortende erinnerte sich daran, daß ihm eine ähnliche Frage aus anderem Mund am Tage zuvor gestellt worden war.

»Ich habe da … das können Sie sich einmal ansehen … vertraulich …« Aus einem Seitenzug des Schreibtischs kamen vier geheftete Blätter hervor.

»Hier … hm … – …« Boschhofers mächtige Pfoten blätterten und griffen nach einem Stift, »… da … schauen Sie sich das einmal an … oder … hm …« Die Masse des Leibes schob sich vor, und die Pranke malte eine rote Schlange. »Was sagen Sie dazu … warum mache ich hier ein Fragezeichen?«

Oskar Wichmann nahm die Blätter in die Hand.

Die Buchstaben hatten andere Typen, sie waren nicht mit der Adlermaschine geschrieben.

Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung … Rotes Fragezeichen.

»Um mich hereinzulegen, Herr Ministerialdirektor.«

Wichmann war zumute wie im Gebirge bei einem Sprung über einen Abgrund.

»Haho … um Sie hereinzulegen! Lieber Herr Assessor …« Boschhofer wurde beweglich und beugte sich weit über die Schreibtischplatte hinüber zu dem jungen Mann, der in dem kurzbeinigen Sessel saß und den kalten Schweiß in den Handflächen fühlte. »Hoha … Sie haben es hinter den Ohren. Das gefällt mir! Nur nicht verblüffen lassen! Ich sage manchmal etwas, nur um den andern zu prüfen, um zu sehen, ob er selbständig denken kann. Hereinzulegen, ausgezeichnet! Sie werden Ihren Weg machen, junger Mann! Denken Sie einmal daran, daß ich Ihnen das gesagt habe. Hereinzulegen! Hoha. Lesen Sie nur das ganze Blatt … und sagen Sie, was Sie dazu meinen.«

»Der Inhalt ist mir bekannt, Herr Ministerialdirektor.«

Boschhofer lehnte sich zurück, die Lehne knackte. »Ach so? Bekannt?! Um so besser. Nun?«

»Es ist das erstemal, daß ich auf die Voraussicht einer wirtschaftlichen Katastrophe gestoßen bin, Herr Ministerialdirektor.«

»Soso, das erstemal. Und?«

»Die Darlegungen scheinen ebenso verblüffend wie einleuchtend.«

»So. Meinen Sie. Wer kann denn ein Interesse an einer Katastrophe haben? Verstehen Sie mich? Ein Interesse?«

»Niemand, Herr Ministerialdirektor. Weder die amerikanischen Gläubiger, die ihr Geld hier investieren, noch wir selbst, die das Ledigwerden von Verpflichtungen durch Zahlungsunfähigkeit mit großem Elend büßen müßten.«

»Sehr zierlich ausgedrückt … aber Sie haben recht. Niemand hat ein Interesse daran außer einigen Narren. Es grenzt an Vaterlandsverrat, solche Dinge an die Wand zu malen … verstehen Sie? Wollen Sie mir Ihre Formulierungen einmal kurz schriftlich niederlegen? Für mich persönlich?«

Wichmann strich über die Armstütze des Sessels. Seine Augen hatten sich gesenkt. »Ich arbeite in dem Referat von Herrn Ministerialrat Grevenhagen, Herr Ministerialdirektor.«

»Grävenhagen …?«

Wichmann erschrak. Der Götze vor ihm hatte die Maske gewechselt.

»Ah so. Grävenhagen? Dann war das ein Irrtum … Und jetzt haben Sie Angst vor dem Grävenhagen, was?«

Wichmann ärgerte die respektlose Art, in der Boschhofer von Wichmanns Vorgesetztem sprach. »Angst? Ich habe keine Ursache, Herr Ministerialdirektor.«

»Der Grävenhagen hält seine jungen Leute sehr unselbständig. Bleiben Sie nicht im Zustand eines Schulkindes. Ich rate Ihnen das! Wovor fürchten Sie sich denn? Zehn Jahre Altersunterschied machen den Kohl nicht fett und den Verstand nicht immer schärfer. Sie müssen sich auf Ihr eigenes Urteil verlassen, Herr Assessor. In Ihrem Alter ist der Grävenhagen schon was weiß ich gewesen. Nun? Wie steht’s?«

»Ich habe anzunehmen, daß Sie, Herr Ministerialdirektor, mir einen dienstlichen Auftrag erteilen wollen?«

»Ich will gar nichts … Bewahren Sie Ihre Unschuld, mein Kind. Wie formulierten Sie das vorhin so hübsch? Einen Augenblick …«

Die Pranke drückte auf den Knopf, die Zwischentür öffnete sich, und Frau Lundheimers industrieblonde Locken erschienen.

»Bitte schreiben Sie …«

Die Dame nahm an dem runden Tisch Platz, der zwischen Ledersofa und Klubsesseln stand.

»Schreiben Sie: ›An einem wirtschaftlichen Zusammenbruch kann niemand interessiert sein, und er wird daher auch verhindert werden, selbst wenn sich einige Tendenzen dazu zeigen sollten. Die amerikanischen Gläubiger, deren Kapital hier investiert ist, haben an der Erhaltung des wirtschaftlichen Aufschwungs ein ebenso großes Interesse wie die deutsche Wirtschaft selbst, die das Ledigwerden von einigen Zahlungsverpflichtungen nicht mit einer Katastrophe erkaufen kann oder will. Jede andre Auffassung ist Desperadopolitik und amtlich aufs schärfste abzulehnen, wo sie auch hervortreten mag … Ja, schreiben Sie das vorläufig einmal. Mit einem Durchschlag.«

Frau Lundheimer zog sich zurück.

»Nun, mein Herr Assessor …«

Wichmann stand auf.

»Sie können mir etwas darüber erzählen, wo Sie eigentlich herkommen. Ihr Vater war bei den Christlichen Gewerkschaften?«

Das ›Nein, sondern … ‹ konnte Wichmann nicht aussprechen, denn das Telefon rief. Der Ministerialdirektor nahm den Hörer ans Ohr.

»Ach so … ist schon Viertel nach zehn Uhr? Ja, ich lasse bitten.«

Wichmann machte einen erneuten Versuch, sich zurückzuziehen, der aber von Boschhofer verhindert wurde. »Warum so eilig, mein junger Mann? Wohin zieht es Sie? Herr Grävenhagen wird gleich hier sein. Ich erinnere mich wieder, daß ich ihn bestellt habe. Es handelt sich um die Angelegenheit, über die wir eben sprachen. Vielleicht können Sie uns dabei weiter nützlich sein.«

Wichmann ergab sich und stellte sich zur Seite, abseits vom Schreibtisch und von der Tür.

Seine Unruhe war so stark, daß sie ihm fühlbar die Nerven zusammenzog, während seine Augen kleiner wurden, um das Innere nicht nach außen scheinen zu lassen.

Grevenhagen trat durch das Vorzimmer ein. Die Besonderheit seiner Erscheinung wirkte durch den Gegensatz zu Boschhofer auf Wichmanns eindrucksfähiges Empfinden noch stärker als das erstemal. Als die Schultern der schlanken Gestalt eine Verbeugung vor dem Ministerialdirektor angedeutet hatten und die blauen Augen Wichmann streiften, trieb es dem Assessor beim respektvollen Gruß das Blut in die Wangen. Er dachte daran, daß Boschhofers List ihm Gedanken entlockt hatte, die jetzt die Waffen einer vergifteten Argumentation gegen Grevenhagen werden konnten. Wer hatte ein Interesse an einem wirtschaftlichen Zusammenbruch? Niemand, nein, niemand. Aber das Interesse stand auch nicht zur Debatte, sondern um die Erkenntnis sollte es gehen. Das hatte er Boschhofer nicht ins Gesicht gesagt.

Wichmann fühlte, wie er glühte vor Scham über seine Halbheit und Unterlegenheit. Grevenhagen mußte ihn für einen Schleicher halten. Der Gedanke verwirrte ihn derart, daß der Ministerialrat über die äußeren Anzeichen von Wichmanns Verlegenheit zu stutzen schien. Dem Assessor entging das nicht, und das Bewußtsein, daß Grevenhagen jetzt bei ihm ein böses Gewissen, sei es, worum es wolle, vermuten werde, steigerte seine stumme Erregung.

Der Ministerialrat nahm Platz. Er zog aus einer Ecke einen einfachen Stuhl hervor, der Wichmann entgangen war, und saß nun, ein Bein über das andere geschlagen, nicht zu nahe bei Boschhofers Schreibtisch. Sein heller Anzug, den Wichmann mit abirrenden Gedanken auf englisches Tuch sagenhafter Qualität einschätzte, die genau dazu abgestimmten Seidensocken und die Halbschuhe waren mit dem grauen Haar das Bild zurückhaltender Eleganz. Die weißen Hände mit dem Siegelring hatten sich zusammen gelegt. Grevenhagen wartete mit einer gewissen reservierten Anmaßung. Wichmann fiel Boschhofers Bemerkung ein »Zehn Jahre Altersunterschied …« Grevenhagen war höchstens sechsunddreißig Jahre alt.

»Ich danke Ihnen, Herr Kollege, daß Sie gekommen sind …« Die Stimme des Mastochsenkönigs rollte. »Sie haben daran gedacht, mir Ihr Exposé noch einmal mitzubringen?«

»Herr Wichmann …« Grevenhagen sah seinen Assessor an.

Dem Assessor genügte die Namensnennung, um sich sofort auf den Weg zu machen.

»Halt … Herr Kollege Grävenhagen, weiß Herr Wichmann, wo Sie das Stück verschlossen haben?«

»Ich nehme an, daß er weiß, wo er es eingeschlossen hat. Ich habe mir erlaubt, es ihm zum Durchlesen zu geben.«

»Ach … haben Sie den Text auch anderen Herren zur Kenntnis gegeben? Ich hatte Sie doch um äußerste Diskretion in der Behandlung gebeten!«

Mehr hörte Wichmann nicht mehr. Er schloß die Zwischentür sehr sorgsam hinter sich, eilte an der bunt gekleideten Frau Lundheimer vorbei und sprang die weich belegten Treppen über zwei und drei Stufen hinauf bis zum oberen Stockwerk. Als er in seinem Zimmer anlangte, klopfte ihm das Herz. Er griff in die falsche Tasche und fand den Schlüssel nicht gleich. Äußerste Diskretion! Aber eine Abschrift anfertigen lassen und sie selbst Herrn Wichmann zeigen … Herr Ministerialdirektor Boschhofer, das ist etwas anderes, als was Ministerialrat Grevenhagen getan hat?!

Endlich faßte die Hand den Schreibtischschlüssel und schloß die Mittelschublade auf. Wichmann schüttelte eine unbegründete Angst ab, daß sich das Schriftstück nicht mehr an seinem Platz befinden könne. Hier … die wohlbekannte blaue Mappe, darin die vier Blätter, eins, zwei … drei … vier … auf dem zweiten das grüne Fragezeichen. Alles in Ordnung, Gott sei gelobt.

Wichmann lief zurück. Ein Mann mit der Haltung eines preußischen Gardegrenadiers begegnete ihm und verfolgte offenbar mißachtend und unwillig die würdelose Eile des Anfängers. War das Pöschko? So mußte Pöschko aussehen.

Vorbei.

Wichmann trat unangemeldet wieder in das Zimmer des Ministerialdirektors ein.

Grevenhagen und Boschhofer saßen sich schweigend gegenüber. Die Stimmung im Raum war nicht friedlicher geworden.

»Ah …« Der Ministerialdirektor streckte die Hand aus. »Danke.« Er öffnete die blaue Mappe und blätterte zur zweiten Seite. »Wollen Sie bitte noch etwas Platz nehmen, Herr Wichmann? Wenn Sie keine sehr dringende Abhaltung haben. Bitte … hier.«

Wichmann versank in dem ihm schon verhaßt gewordenen kurzbeinigen Sessel. Er hatte ihn so gerückt, daß er Grevenhagen nicht den Rücken zukehrte.

»Ja – das Fragezeichen, Herr Kollege Grävenhagen.« – Boschhofer konnte das geschlossene »e« nicht sprechen; er sagte immer »Grävenhagen«. – »Sie waren so freundlich, Herr Kollege, das Fragezeichen inzwischen aufzuklären? Ich bin um halb zwölf Uhr zum Herrn Staatssekretär bestellt.«

»Sie können dem Herrn Staatssekretär versichern, Herr Ministerialdirektor, daß der beanstandete Satz sachlich völlig einwandfrei ist.«

»Das mag ja sein. Aber ich bat Sie, das Fragezeichen aufzuklären! Der Herr Staatssekretär erwartet ohne Zweifel, daß wir seine Bedenken beheben.«

»Der Satz ist unbedenklich.«

Boschhofer schüttelte den Kopf und wiegte die mächtigen Schultern. »Es handelt sich um die Bedenken des Herrn Staatssekretärs. Wir müssen dazu Stellung nehmen.«

»Dann bitte ich darum, mir diese Bedenken sachlich zu erläutern.«

»Aber Herr Kollege, eben darum habe ich ja Sie hierher gebeten! Ich bin kein Fachmann, meine Aufgabe ist Organisation, Leitung! Ich muß mich in den Sachfragen auf Sie verlassen können. Sie haben dieses Exposé verfaßt. Auf Ihr Verlangen habe ich es dem Staatssekretär vorgelegt. Ohne Zweifel werden Sie – und niemand besser als Sie – auch erraten können, welche Bedenken dem Herrn bei diesem Satz hier aufgestiegen sein können!«

»Ich wiederhole: Der Satz ist unbedenklich. Das kann Ihnen jeder Student im zweiten Semester sagen, wenn er die Statistik verfolgt.«

»Herr Kollege – ich bitte, in meiner Gegenwart nicht Äußerungen zu tun, die auf eine Verächtlichmachung des Herrn Staatssekretärs hinauslaufen können! Ich weiß, daß Sie das nicht beabsichtigen. Aber jedenfalls, Sie erklären sich – zu meinem großen Bedauern – außerstande, die Bedenken des Herrn Staatssekretärs zu zerstreuen.«

»Ich nehme an, daß sich diese Bedenken nicht auf die von mir gemachte Tatsachenfeststellung in dem bezeichneten Satz beziehen.«

Wichmann hob etwas den Kopf. Er fühlte sich erleichtert. Offenbar war Grevenhagen in bezug auf das Fragezeichen schon auf den gleichen Gedanken gekommen wie er selbst.

»Nicht auf Ihren Satz? Worauf sonst? Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen!« In Boschhofers Stimme grollte der Donner.

Grevenhagen gab keine Antwort.

»Ich bedaure, daß wir so viel Zeit verloren haben. Ich müßte noch Herrn Ministerialrat Nischan bitten, zu der Sache Stellung zu nehmen, aber in einer Stunde ist das natürlich nicht mehr möglich. Ich sage Ihnen ehrlich, Herr Kollege Grävenhagen, daß ich enttäuscht bin. Ihr Verhalten ist mir unverständlich! Bei Ihren Fähigkeiten und der Begabung Ihrer Mitarbeiter kann es Ihnen doch nicht unmöglich sein, zu diesem Fragezeichen irgendeine sachliche Äußerung zu tun.«

»Wenn Sie mir den Vorwurf mangelnden Dienstinteresses machen wollen, Herr Ministerialdirektor, so bitte ich, das offen auszusprechen.«

Wichmann hatte die Augen gesenkt, als ob er damit seine Zuhörerschaft bei dem sich abspielenden Kampf ausschalten könne. Er empfand das Peinliche, das seine Gegenwart für den unmittelbaren Vorgesetzten haben mußte. Grevenhagens scharfer Ton mochte nicht zuletzt durch das Bewußtsein hervorgerufen sein, daß sein Untergebener den Tadel, den er erhalten sollte, auch vernahm und daß diese Bloßstellung durch Boschhofer beabsichtigt war. Der Mastochsenkönig blähte sich in dem Behagen, seinen Gegner zu reizen.

»Ich beabsichtige nicht, Herr Grävenhagen, ich beabsichtige nicht, Ihnen in dieser Sache Vorwürfe zu machen, durchaus nicht, aber ich bitte meinerseits endgültig um Ihren Vorschlag, wie die Angelegenheit zu bereinigen ist.«

Grevenhagen focht mit Beherrschung weiter.

»Der Herr Staatssekretär wird Ihnen mündlich die Art seiner Bedenken erläutern können.«

»Ihre Auffassung ist leider nicht ganz zutreffend, Herr Kollege! Nicht wir haben den Herrn Staatssekretär zu fragen, sondern er fragt uns! Und ich habe Sie darum bitten müssen, Aufklärung zu beschaffen!«

Grevenhagen gab zum zweiten Mal keine Antwort. In der Ruhe seiner Mienen, in einer leichten Ironie um seine Mundwinkel lag eine Auflehnung, die nicht weniger aufreizend war als Boschhofers Redensarten.

Die fleischige Hand blätterte in dem Exposé hin und her.

»Offen gesagt, mir ist Ihr Verhalten nicht ganz begreiflich! Besonders, da es eine an sich recht heikle Sache betrifft. Sie haben hier über Dinge geschrieben, Herr Grävenhagen, die Ihr Referat nicht unmittelbar angehen. Sie haben dabei Meinungen geäußert, die in Ihrer amtlichen Dienststellung zumindest … nun zumindest … sehr erstaunlich sind.«

Grevenhagen stand auf. »Herr Ministerialdirektor, ich bin nicht gewillt, versteckte Vorwürfe entgegenzunehmen in einer Form, die meine Beamtenehre angreift, ohne daß mir die Möglichkeit gegeben ist, entsprechend zu antworten. Ich bitte, diese Sache, falls sie so liegt, wie Sie sie jetzt darstellen, vor den Herrn Minister zu bringen unter Darlegung auch meines Standpunktes …«

»Herr Grävenhagen, ich verwehre Ihnen keineswegs, zum Herrn Minister zu gehen! Sie machen hier nichts als Schwierigkeiten!« Boschhofer hob die Mappe mit dem Exposé und hieb damit klatschend auf den Tisch. »Ich habe Sie zu einer sachlichen Stellungnahme aufgefordert. Sie haben sie verweigert! Es handelt sich hier nicht um Ehre, sondern einfach um die Aufklärung eines Sachverhaltes, die zu geben Sie sich außerstande erklären! Das bitte ich festzuhalten!«

Boschhofer schrie die letzten Worte. Die Äderchen seiner Gesichtshaut liefen mit bläulichem Rot an. Grevenhagen schien um einen Ton blasser zu werden.

»Herr Ministerialdirektor, ich bitte, diese Unterredung zu beenden und mich daraus zu entlassen.«

»Damit ist gar nichts erreicht, Herr Grävenhagen. Ich verlange nichts weiter, als daß Sie sich in den Dienst einfügen! Sie treiben eine stille Obstruktion!«

»Ich verbitte mir diesen Vorwurf, Herr Ministerialdirektor, und wenn Sie ihn aufrechterhalten, so verlange ich meine Rechtfertigung auf dem Beschwerdeweg.«

»Tun Sie, was Sie wollen! Sie werden ja sehen, wie weit Sie kommen!«

Grevenhagen verbeugte sich und ging.

Wichmann hatte sich erhoben. Er beobachtete Boschhofers Mienen, die nach Grevenhagens Abgang nur langsam zur Ruhe kamen. Der Gewaltige schien den Assessor gar nicht mehr im Zimmer zu wissen und erst nach peinlichen Sekunden neu zu entdecken. Wichmann bereute schon, sich nicht mit Grevenhagen entfernt zu haben. Er war noch sehr ungewandt.

»Ah … Herr Wichmann! Entschuldigen Sie, ich habe Sie fast vergessen. Eine kleine Auseinandersetzung … wird Ihrem Seelenleben nicht weiter schaden! Was wollten wir doch noch miteinander? Einen Augenblick.« Boschhofer atmete asthmatisch laut. »Da nehmen Sie die Mappe wieder mit diesem Exposé … Danke, mir genügt das Zweitstück.«

Wichmann hatte die Vorstellung, daß an seiner Seele Schweißtropfen herunterliefen. Konnte, wollte Grevenhagen nach dem, was vorgefallen war, seine Stellung in der Abteilung beibehalten? Welchen Strick würde ihm Boschhofer drehen, um ihn zu fangen und zum Sturz zu bringen? Was würde aus den Ernennungen und Beförderungen? Welchen Eindruck mußte Grevenhagen von dem ihm untergebenen Assessor mitgenommen haben?

Wichmann hörte in seinen Gedanken nur mit halbem Ohr ein Gespräch, das Boschhofer am Telefon führte. Allmählich wurde er aufmerksamer.

»Ja … ja … bitte, selbstverständlich. Ganz in unserm Sinne … ja – nein … ja. In vierzehn Tagen … jawohl … sofort in Auftrag … ja, natürlich. Danke … immer gleich … das war ein Fehlschuß … wir, Sie können sich darauf verlassen … jawohl … in vierzehn Tagen … einen Augenblick bitte …«

Der fleischige Finger drückte den Knopf, Frau Lundheimer erschien. »Herr Ministerialrat Grävenhagen möchte sofort noch einmal zu mir kommen!«

Wichmann schien es schon eine Ewigkeit zu sein, daß er an seinem Platz stand.

Der immer noch telefonierende Ministerialdirektor hielt die Hand über das schallempfangende Mundstück und rief nochmals nach der Sekretärin.

»Haben Sie Ministerialrat Grävenhagen erreicht?«

»Er ist nicht in seinem Zimmer.«

»Warum nicht?! Ich muß ihn sofort sprechen. Schauen Sie zu, wo Sie ihn finden … los!«

Frau Lundheimer entschwand mit gespitzten Lippen.

Das fernmündliche Gespräch setzte sich unterdessen fort.

»Vollständig unsere … Exzellenz … was ich immer gesagt habe … mit allen Mitteln betreiben …«

Wichmann stand da und wartete. Er fürchtete sich fast, als Grevenhagen zurückkehrte, denn er sah den unversöhnten Zug um die Mundwinkel.

Boschhofer nahm den Hörer vom Ohr. »… einen Augenblick, Herr Kollege Grävenhagen … bitte um Entschuldigung, daß ich Sie schon wieder in Anspruch nehme … bitte, nehmen Sie einstweilen Platz, Herr Kollege … gleich fertig – hier …« Das Telefongespräch wurde beendet. Boschhofer zwang sein Schmunzeln, in den fettgepolsterten Zügen zu verweilen; es erstarrte darauf. »Das Staatsministerium hat soeben angerufen, wegen dieser Sache, die wir kürzlich besprochen hatten … Bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Kollege.«

Boschhofers imponierende Gestalt verließ den Schreibtisch und kam herüber zu dem runden Tisch, um Grevenhagen in einen Klubsessel zu bitten und sich selbst in den gegenüberstehenden fallen zu lassen.

»Wegen dieser Sache … in punkto Verwaltungseinteilung. Unsere Vorlage soll möglichst schon in vierzehn Tagen erfolgen.«

»Bis dahin werde ich nicht abschließen können.«

Boschhofers Augen wetterleuchteten. »Ah, schauen Sie zu, Herr Kollege! Es wird sich machen lassen. Ich habe eben versprochen, daß wir diesen Termin einhalten.«

»Dann bitte ich, eine bessere Arbeitskraft damit zu betrauen als mich.«

Grevenhagen hatte einen Ton, den Mastachsenkönig herauszufordern!

Der von Wichmann befürchtete neue Ausbruch erfolgte jedoch nicht.

»Ich habe keine bessere Arbeitskraft als Sie, lieber Grävenhagen. Sie werden das schon irgendwie möglich machen.«

»Herr Ministerialdirektor, als Beamter stehe ich Ihnen notfalls vierundzwanzig Stunden am Tage zur Verfügung, aber mehr Stunden hat der Tag leider nicht.«

»Ich weiß, ich weiß! Sie sollen sich nicht totmachen, Herr Kollege. Aber Sie wissen ja, es liegt uns selbst viel an dieser Reform. Wenn das Staatsministerium jetzt interessiert ist. Mitzutun … Man muß das Eisen schmieden, solange es glüht … Sagen Sie mir nur, welche Arbeitskräfte Sie brauchen! Die ganze Abteilung steht zu Ihrer Verfügung!«

»Ein einziges gutes Pferd läuft schneller zum Ziel als ein ganzer Stall, Herr Ministerialdirektor. Wenn Sie anordnen, daß ich die Arbeit zu übernehmen habe, so werde ich tun, was möglich ist. Vielleicht ist Herr Nischan einverstanden, wenn Herr Assessor Casparius für einige Zeit zu mir abgeordnet wird.«

»Selbstverständlich, selbstverständlich! Diese Sache geht allem vor. Sie bekommen, wen Sie wollen! Danke, Herr Wichmann, nein, wir haben wohl nichts mehr zu besprechen.«

Der junge Mann zog sich zurück. Ihm wirbelte es in Kopf und Herz – »… der Grävenhagen … zehn Jahre machen den Kohl nicht fett und den Verstand nicht schärfer … Weigerung – Obstruktion – lieber Grävenhagen … habe keine bessere Arbeitskraft als Sie …«

Das alles konnte ein Mann mit Namen Josef Boschhofer innerhalb einer Stunde sagen, und die Masse seines Fleisches und seiner Knochen stand dabei ohne Verlegenheit eindrucksvoll und sicher vor dem Beschauer.

Wichmann achtete bei seinem Rückweg nicht mehr auf Stufenbelag und Zimmernummern. Gefühlsmäßig fand er in seine Klause zurück. Die Sonnenstrahlen über den Ulmenspitzen drehten sich schon nach Süden zu.

Er saß einen Augenblick vor der gelblichen Wand, ohne etwas zu tun. Seine Nerven zitterten noch wie Saiten, auf denen eben gespielt worden ist.

Grevenhagen hatte Mut, es mit diesem Manne aufzunehmen, und seine eigene Karriere schien er jedenfalls ganz ohne Rücksicht dabei aufs Spiel zu setzen. Doch wer wußte? Vielleicht wurde Grevenhagen »der« Mann des Staatsministeriums und rechnete mit einem Sieg? Zur Zeit galt er jedenfalls wieder als der unentbehrliche »Herr Kollege … die ganze Abteilung steht zu Ihrer Verfügung«. Das grüne Fragezeichen schien vergessen zu sein. Was würde Boschhofer dem Herrn Staatssekretär um elfeinhalb Uhr darüber erzählen? War der dicke Josef überhaupt zum Staatssekretär bestellt? Wichmann beschlich eine dunkle Ahnung, daß begrabene Fragezeichen nur scheintot waren; er fühlte die ungelöste Feindschaft wie elektrische Spannungen, die sich eines Tages doch noch entladen mußten.

Der Assessor arbeitete heute langsamer als am vergangenen Tage. Irgendein Hindernis war in das Getriebe seiner Gedanken geraten, die Räder liefen widerwillig, als ob Sand dazwischen knirschte. Die verfluchten Intrigen! Dabei sollte man sachlich arbeiten?! Ein Tollhaus … wie die Lotte Hüsch gesagt hatte. Vielleicht wurde er auch noch von dem Mann mit der Grenadierhaltung als Zeuge für den unsträflichen Dienstwandel dieses Mädchens bemüht … z. K.

Zum Kotzen, zum Kofferpacken – zur Kenntnis.

Zur Kenntnis. »… würde eine solche Zusammenlegung und Vereinfachung auf der anderen Seite auch wieder Schwierigkeiten und Komplikationen ergeben …«

Schwierigkeiten und Komplikationen …

Welcher Art denn? Dieses schriftliche Altweibergeschwätz!

Niete – Strich – fertig.

Wichmann kam allmählich wieder in Eifer.

Das Telefon schrillte. Es war sicherlich eine Base des unverschämten Weckers.

»Ja … sofort.«

Weg mit Schriftwechsel und Erlassen, die blaue, Mappe unter den Arm!

Als Oskar Wichmann, durch das Vorzimmer durchgeschleust, bei seinem Vorgesetzten eintrat, fand er Grevenhagen nicht an dem Schreibtischplatz. Der Ministerialrat ging auf und ab; er warf eine erst halb gerauchte Zigarette in den Aschenbecher und zündete die nächste an.

»Sie wollten mich sprechen, Herr Dr. Wichmann?«

»Um diese Blätter zurückzugeben, Herr Ministerialrat.«

»Mein Exposé – wie kommen Sie dazu? Herr Ministerialdirektor Boschhofer hat es Ihnen wieder ausgehändigt? Danke. Haben Sie etwas dazu zu bemerken?«

»Die Zahlenreihen bestätigen Ihre Auffassung.«

Grevenhagen nickte flüchtig und verschloß Mappe samt Inhalt in seinem Diplomat.

»Sie haben gehört, daß die Reform der Verwaltungseinteilung beschleunigt betrieben werden soll. Sie werden auch mitarbeiten müssen. Um zwölf Uhr finden Sie sich bitte mit Herrn Korts und Herrn Casparius bei mir ein. Und … daß ich nicht vergesse … Ministerialdirektor Boschhofer hatte offenbar einen guten Eindruck von Ihnen. Sie haben jederzeit unmittelbaren Zutritt zu ihm. Nur wenn eine Besprechung sich um Fragen meines Arbeitsgebietes dreht, bitte ich, mich von ihrem Inhalt nachträglich zu unterrichten.«

Oskar Wichmann fühlte wieder die Hitze in den Schläfen.

»Herr Ministerialrat. Ich bitte überhaupt und in jedem Falle berichten zu dürfen. Ich … ich …«

»Bitte?«

»Es war heute morgen von dem Exposé die Rede. Ministerialdirektor Boschhofer legte mir eine Abschrift vor.«

»Sie haben gesagt, daß Sie es kennen?«

»Ja.«

»So … darum. Sie haben doch strengste Verschwiegenheit bewahrt? Ich bat Sie, die Sache vertraulich zu behandeln.«

»Ich habe nichts und zu niemandem davon gesprochen.«

»Schon gut.«

»Herr Ministerialdirektor Boschhofer …«

»Ja?«

»… fragte mich, wer ein Interesse an einem wirtschaftlichen Zusammenbruch haben könne …«

»Interesse? Interesse ist gut. Was haben Sie geantwortet?«

»Daß niemand ein Interesse daran habe …«

»Sehr richtig.«

»Ministerialdirektor Boschhofer hat das notiert.«

Grevenhagens Lippen verzogen sich; wer wollte, konnte Spott darin lesen. »Und haben Sie sich zu dem grünen Fragezeichen geäußert?«

»Ich wurde lediglich nach einem roten gefragt.« Wichmann konnte seine plötzlich aufsteigende Lachlust nicht ganz unterdrücken. »Herr Ministerialdirektor Boschhofer schrieb in meiner Gegenwart in die Kopie – ein rotes Fragezeichen an dieselbe Stelle.«

»Nun – und?«

»Ich vermutete, daß er mich damit hereinlegen wollte.«

Grevenhagen machte eine rasche Wendung und sah Wichmann voll an. Zwischen seinen Fingern glühte die Zigarette.

»Ich verstehe nicht ganz, Herr Assessor …«

»Der bezweifelte Satz ist sachlich einwandfrei. Ich nahm an, daß mich Boschh …« der Assessor stockte unter Grevenhagens Blick »… daß mich Herr Ministerialdirektor Boschhofer lediglich prüfen wollte.«

»So. Ich danke. Wir sehen uns um zwölf Uhr wieder.«

Wichmann ging in höflicher Haltung rückwärts durch die Tür. Er war sich bewußt, nicht alles und das, was er gesagt hatte, nicht so gesagt zu haben, wie es der vollen Wahrheit entsprach. Woran lag das? Es war sein Wunsch gewesen, Grevenhagen zu unterrichten und sich zu entlasten. Das war ihm nicht gelungen.

Wichmann blieb noch eine halbe Stunde Zeit, Schriftstücke und Verordnungen durchzusehen. Der Deuwel mochte sich künftig mit dem grünen Fragezeichen schmücken oder es seiner Großmutter zum Geburtstag schenken. Wichmann war froh, daß er es nicht mehr zu sehen brauchte.

Als die drei Herren um halb eins aus der Besprechung bei dem Ministerialrat kamen, strahlte der stämmige Korts und stellte seine Ohren.

»Donnerwetter … Kinder, das gibt einen Betrieb … damit können wir Wellen schlagen! Ausgezeichnet … gefundenes Fressen für Grevenhagen … Wir treffen uns doch um ein Uhr in der ›Stillen Klause‹? Also dann bis nachher!«

Bei der Mittagsrunde fand sich Wichmann zur eigenen Überraschung als Zielpunkt der allgemeinen Wißbegier. Fräulein Hüsch hatte ihn gewürdigt, ihr unmittelbarer Tischherr zu werden. Er hatte das Vergnügen, die Krokodilledertasche aufzuheben, wenn sie vom Schoße, den ein Kostümrock eng umspannte, zu den Füßen mit den hochgestellten Fersen glitt. Er mahnte den Kellner, der die Zitronenlimonade nicht schnell genug brachte. Fräulein Hüsch versicherte ihn ihrer ausgesprochenen Huld:

»Wirklich nett von Ihnen, daß Sie gleich zu dem Baier gegangen sind und ihm erzählt haben, daß ich um neun Uhr im Dienst war … wirklich reizend von Ihnen. Der Trottel hat ordentlich Mut bekommen und ist gleich auf den Pöschko losgegangen! Es soll einen wunderbaren Krach gesetzt haben! Hätt’ ich dem Trottel gar nicht zugetraut. Aber von Ihnen war das wirklich reizend.«

Wichmann durfte tief in die weiblichen Augen blicken. »Ich freue mich natürlich Ihrer Zufriedenheit, gnädiges Fräulein.«

»Ham Sie schon gehört, daß Sie auf der Liste stehen?«

»Auf einer ›schwarzen‹?«

Zahlreiche Ausrufe und allgemeines Gelächter belehrten Wichmann, daß er einen unfreiwilligen Witz gemacht hatte. Boschhofer galt als »Zentrumsmann«, als »schwarz«.

»Wie ham Sie das bloß gemacht? Gestern eingetreten, heute Günstling von Boschhofer, morgen Regierungsrat … Sie müssen ganz dicke Beziehungen haben …«

»Von alledem ist mir nichts bekannt, Fräulein Hüsch, als daß ich gestern eingetreten … in mir selbst noch rätselhafte Dinge hineingetreten bin. Was soll das mit der Liste?«

»Zum Regierungsrat werden Sie ernannt!«

Der Kellner brachte die Zitronenlimonade und räumte die leer gegessenen Suppenteller ab.

»Die Wandelgänge beben schon. Wo Sie doch auch unmittelbar unter Boschhofer arbeiten werden! Was sagt denn Grevenhagen dazu?«

»Da bitte ich, Ihrem Gewährsmann aber ganz energisch über den Mund zu fahren, gnädiges Fräulein. Ich arbeite nach wie vor unter Ministerialrat Grevenhagen. Wer will denn etwas anderes wissen?«

»Nischan selber soll es gesagt haben.«

»Wie kommt er darauf?«

»Er war doch eben bei Boschhofer mit Grevenhagen zusammen – wegen Casparius.«

»Jedenfalls hat er dann irgend etwas falsch verstanden.«

»Aber auf der Liste stehen Sie!«

Wichmann zerteilte mit der Gabel das Hackbratenstück, das neben dem gemischten Gemüse lag.

»Ha no, Sie sind, scheint’s, ein echtes Wundertier, Herr Wichmann«, nahm Assessor Casparius das Wort.

»Es wäre mir wirklich leid, Herr Casparius, wenn ich Sie von der Aussicht auf eine Etatsstelle verdrängt hätte!«

»Das ischt wirklich lieb von Ihnen. Es freut mich immer, wenn ich so edle Empfindungen bei meinen Mitmenschen wahrnehmen kann. Das ischt das wahre irdische Glück und höchschte der Gefühle, net wahr, wenn mer von der Höhe des Regierungsrats sich noch liebreich zu dem Kollegen neigt, der das Nachsehen hat wie jener Gerber, dem das Fell auf ’m Neckar hinunterschwamm. Ich darf Sie dann einmal zu uns bitte, net wahr, Herr Wichmann, damit meine Frau einen wahrhaftigen neu ernannten Regierungsrat wenigstens sehe kann. Das ischt doch auch schon was. Und Sie gfallen mir auch so gut, wie Sie da sitze in Ihrer errötenden und frisch gebackenen Unschuld …«

»Sie werden mich doch nicht für so dumm halten, Herr Casparius, daß ich glaubte, ich stünde auf der Liste!«

»Ha no, warum denn net? Wo der allerhöchste Glanz Sie heute schon stundenlang angestrahlt hat. Der Nathan war ganz aufgeregt, daß Sie beim Boschhofer überhaupt nimmer ’rauskomme sind! Des muß ja wieder eine Mordsgeschicht da drin gewese sein! Sie haben noch so ein Leuchten um sich herum, daß es sterbliche Augen blenden kann … oder anders ausgedrückt: Da sitze Sie jetzt auf der Liste wie ein Baby auf dem Lotosblatt, und mir komme alle und beschtaune ehrfürchtig das Wunder der Natur, das in unserem Gewächshaus passiert ischt. Aber esse Sie nur Ihren Brate und Ihr Gmüs. Des ischt net gsund, nix esse und so schnell wachse. Esse Sie no!«

Unter der allgemeinen Heiterkeit führte Wichmann gehorsam die Gabel zum Mund.

»Sie sind gestern wie ein Erzengel im Krähennest erschienen?« Fräulein Hüsch lächelte.

»Der Erzengel war Grevenhagen. Aber sagen Sie, das ist auch schon bekannt? Geht man hier nackend in einem Glashaus spazieren?«

»Ja sicher … daran gewöhnt man sich, Herr Wichmann«, bestätigte der erfahrenere Korts.

Fräulein Hüsch aß gelbe Speise mit Schlagsahne. »Na … ich weiß nicht, Herr Korts.«

»Sie als Dame vielleicht nicht so rasch, Fräulein Hüsch.«

Das Mädchen lachte ohne Scheu.

Auf dem Rückweg wurde Wichmann ihr Begleiter, ohne sich darum bemüht zu haben, und er nahm auf Robert Korts keine Rücksicht mehr. Die Sonne schien warm. Die Mienen waren lebhaft nach dem Genusse des Mokkas, der das Menü gekrönt hatte.

»Sehen Sie zu, Herr Wichmann, daß Sie aus dem Beamtenstall bei uns wieder ’rauskommen. Den Regierungsrat müssen Sie natürlich noch haben, aber dann bloß weg aus dem Mief!«

»Sie wollen auch nicht bleiben, gnädiges Fräulein?«

»Gewiß nicht. Es ist ja furchtbar! Heute morgen wollt’ ich zu Grevenhagen wegen meiner Beförderung. Keine Zeit … nicht zu sprechen. Der Mann ist fabelhaft, aber maßlos eingebildet. Er selber hat Vermögen, natürlich. Aber was denkt er sich, wie ich mit dem lumpigen Geld auskommen soll?«

»Ist es so schwer?«

»Ich kann doch nicht leben wie die Schmock und die Sauberzweig? Sagen Sie … kommen Sie aus? Können Sie mir hundert Mark pumpen?«

»Darf ich Ihnen den Betrag morgen mitbringen?« Wichmann war ärgerlich über sich selbst, daß er die Summe nicht bei sich hatte.

»Morgen? Hat keinen Zweck. Ich muß heute nachmittag die Schneiderin bezahlen wegen der kleinen Änderung … mal sehen … der Baier, wenn er nicht gerade selbst Schulden hat … oder … Herr Korts?«

»Ja?«

»Hundert Mark bis morgen?«

Korts überreichte schweigend zwei Fünfzigmarkscheine.

Wichmann war daraufhin noch ärgerlicher über sich selbst, aber es stellte sich rasch heraus, daß er sich umsonst gegrämt hatte.

»Morgen bringen Sie mir dann Ihre Hundert, Herr Wichmann?«

»Ich werde es nicht vergessen.«

»Ein neues Zimmer hab’ ich auch noch nicht. Es ist ekelhaft auf meiner Bude … immer das Gerede, wenn ich nachts baden will … das Kind wacht auf! Ich kann doch baden, wann ich will … Ham Sie was Vernünftiges gefunden, Herr Wichmann? Wo wohnen Sie denn?«

»In der Nähe des Stadtparks.«

»Wo denn da?«

»Kreuderstraße.«

Ein »Oou … uui …« ließ sich aus den Lippen der beiden anderen Herren vernehmen.

»Sie … das is aber gefährlich!«

»Warum? Ich habe noch keine Attentate in der Nähe bemerkt.«

»Nee … aber wegen Grevenhagen. In welchem Teil der Straße wohnen Sie denn?«

»Gleich beim Park.«

»Sie … da nehmen Sie sich in acht. Da würd’ ich ja niemals hinziehen. Da kann der Grevenhagen Sie ja glatt kontrollieren!«

»Von mir aus. Wieso übrigens? Wohnt er etwa in der Nähe?«

»Natürlich, das wissen Sie noch nicht? Na, hören Sie …! Kreuderstraße 3, die Villa hinten im Garten.«

»Ach so.«

»Ham Sie ihn denn noch nicht dort gesehen?«

»Nein. Vielleicht sein Kabriolett …«

»Und seine Frau haben Sie noch nicht gesehen?«

»Nicht mit Bewußtsein. Ich habe überhaupt noch sehr wenig auffallende weibliche Wesen in unserer Straße bemerkt.«

»Das glaub’ ich. Hi … hä … nichts als Geheimrätinnen. Da würd’ ich ja niemals hinziehen, niemals. Aber Grevenhagen soll eine phantastische Frau haben … sehr interessant.«

»Für wen?«

»Wie meinen Sie das? Grevenhagen würde sich ja sofort schießen.«

»Ha no … des ischt ihm also wirklich zuzutraue. Nehme Sie sich nur in acht, Herr Wichmann, daß Sie im Zustand Ihrer Unschuld bleibe und sich net verliebe! Sonscht rutsche Sie eines Tages von dem Lotosblatt ins Wasser, und meine Frau begrüßt ihren Mann als ›Herr Regierungsrat‹…!«

»Was ich Ihrer verehrten Gattin herzlich gönnen würde!«

»Rede Sie net so unvorsichtig, Herr Kollege im Assessorenstand. Sind Sie überhaupt bedacht, vor allem im Umgang mit Frauen. Schauen Sie sich unseren Herrn Ministerialrat Grevenhagen an! Das ist ein patenter Mann, was die Arbeit anbetrifft, aber seine Frau ischt zu schön, und er schaut zu bleich. Das tut nicht gut. Meine Frau hingegen ischt ein Quirl, und ich bin ein ruhiges Wasser. Wenn die Annemaria zornig wird, hopst sie in den stillen Teich meines Gemüts und macht ein paar Wellen, und schon ischt sie müd und wieder z’frieden, eh ich zum überlaufen komm.«

»Ich kann mir das lebhaft vorstellen.«

»Aber der Grevenhagen, das ischt ein edles Pferd, früh und scharf dressiert, der läßt sich hetzen und wird leicht nervös. Was mir zum Beispiel nie passiere kann.«

»Wir werden Sie schon auf die Beine bringen!« drohte Korts. »Im ›Abendland‹ wird bekanntlich gearbeitet …«

»Allah il Allah und Mohammed ischt sein Prophet!«

»Mit Ihrer orientalischen Ruhe ist’s jetzt aus, Herr Casparius, wenn Sie zu uns in den Westflügel herüberkommen. Unser Chef sorgt auch bei Ihnen für Tempo!«

»’s isch ein Jammer. Ja.«

Die Treppe des großen Amtsgebäudes wurde erstiegen. Alle grinsten noch ein wenig, als man sich verabschiedete.

»Ich komme gleich zu Ihnen hinüber, Herr Regierungsrat Korts, damit wir anfangen können.«

»Ich auch, Herr Korts!«

»Ja schön … über meinen einen Klubsessel müssen sich die Herren dann eben einigen.«

Als Wichmann das Zimmer des Kollegen betrat, fiel ihm sofort der größere Raum und die gediegenere Ausstattung auf, die dieses Dienstzimmer von dem seinen unterschieden. Der Blick ging auch in den Hof, aber der Sammetbezug der Stühle und des einen Sessels, der kleine Teppich, der riesige Schreibtisch verrieten die ehrgeizige Lebenstüchtigkeit des Insassen. Korts hatte seinen Schreibtischsitz mit den Armstützen gedreht; er legte die Ellbogen auf die Lehnen und faltete die Hände vor dem Leib wie Boschhofer, nur daß er zur Zeit noch schlank genug war, um die Finger ineinander zu stecken. Seine kleine, stramme Figur, der kurze Hals mit dem stiermäßig starken Nacken, die große Stirn, die gebogene Nase versuchten Wichmann, Korts im stillen »den Korsen« zu nennen.

Für Casparius war der Klubsessel frei geblieben, und der »Orientale« versank mit unverhohlenem Behagen darin.

»Oh … der Ehre …«

Keiner horchte mehr mit Aufmerksamkeit auf die einleitenden Witze. Man war bald in der Arbeit, und Korts führte unbestritten die Diskussion. Alle empfanden wohltuend, daß sie an Intelligenz einander auf gleicher Ebene begegneten und kein schlechtes Pferd in dem Dreigespann war. Die gemeinsame Aufgabe wurde geteilt, um jedem die größtmögliche Selbständigkeit zu lassen. Wichmann bewarb sich um den schwierigsten und vielseitigsten Teil der gemeinsamen Arbeit und erhielt ihn von Korts schnell zugesagt. Später stellte sich heraus, daß der Korse sich hier überrumpelt fühlte, und Wichmann bot den Verzicht an, den der Regierungsrat aber mit rotem Kopf strikt ablehnte. »Nein, bitte, behalten Sie nur. Behalten Sie nur!«

Kein Mitglied des Trios hatte das Hinstreichen der Zeit bemerkt, als der Herbstabend schon dunkelte und Korts die Schreiblampe auf den runden Tisch hinüberbringen mußte.

Die Reinemachefrau öffnete zum zweiten Mal »aus Versehen« die Tür, da entschlossen die Herren sich endlich, für heute abzubrechen. Als sie beim gemeinsamen Weg zum Abendessen vom Königsplatz aus noch einmal die Front des Ministeriums hinaufblickten, waren die Fenster Grevenhagens schon dunkel; im Vorzimmer aber brannte noch immer die helle Hängekugel.

Wichmann lud in die kleine Weinstube ein, die den beiden Kollegen noch unbekannt war.

Der Kellner empfing den zum zweiten Mal Erscheinenden als künftigen Stammgast und war aufmerksam. Der Tisch, den Wichmann am ersten Abend innegehabt hatte, war auch heute frei und fand die Billigung von Korts und Casparius. Man legte ohne Eile ab und gruppierte sich auf Wandbank und geschnitzten Stühlen um die gescheuerte Platte. Die Unruhe der Straße und das freche Licht der Bogenlampen und flimmernden Reklamen waren durch dichte Fensterbehänge ganz ausgeschlossen. Ungestört leuchtete der Holzleuchter mit matten Birnen im Raum. Die braune Holzverkleidung der Wände, die dunkelbraunen Dielen, das helle Holz der Tischlampen und die getäfelte Decke gaben die unauffällige Farbstimmung, in der sich Menschen gern zur Erholung niederließen. Wie der Anblick eines Steines das Gefühl der Kälte hervorrufen kann, so gab die Umgebung des Holzes den Nerven die entgegengesetzte Schwingung sanfter Wärme. Das bedächtige Erzeugnis alter Wälder, das die Temperatur nur langsam wechselte und ihre Ausschreitungen dämpfte, lieh dem Raum und den Menschen von seiner Ruhe. Wichmanns Spannung löste sich.

Das wortlose Studium der Speisekarte bereitete Kräftigung vor. Der Kellner näherte sich nach geduldigem Warten und verstand stumme Fingerzeige. Seine Mienen verrieten, daß er die Wahl der Gäste billigte; ein Achselzucken oder hochgezogene Augenbrauen veranlaßten ihn zu zurückhaltender Empfehlung des guten Tropfens, der preiswert war. Wichmann bestellte die erste Flasche.

Man lehnte sich bequem an und beobachtete ohne Anstrengung oder Interesse die wenigen Gäste, die schon still für sich speisten. Die Suppe war gut; sie entsprach einer traditionsreichen Landschaft und schmeckte mehr nach Hausfrauenart als nach einem Erzeugnis aus riesigen Kesseln. Bei Spätzle und Rehrücken wachte der Urinstinkt des Hungers auf. Die Trübnis ermüdeter Augen verschwand, und die Gläser wurden zum erstenmal gehoben. Den anschließenden Verzehr von Brot und Käse konnte man, ohne Hast, lange Zeit hin fortsetzen. Korts bestellte die zweite Flasche.

Wichmann schwamm in den Gefühlen eines Schiffers mit gutem Wind und guter Fahrt. Die Nachricht, daß er auf der Liste der zu Ernennenden stehe, hatte sein Selbstgefühl in ein angenehmes Fluten gebracht, und obwohl er sich zum hundertsten Male die Haltlosigkeit des Gerüchts selbst vorhielt, war seine Phantasie doch schon mit der angenehmen Möglichkeit beschäftigt. In reizvollen Zügen ließ sich das Bild von der Überraschung und Bewunderung malen, die rasches Vorwärtskommen bei der Familie, bei den Freunden daheim und bei dem »Alten Herrn«, dem Corpsbruder des Vaters, auslösen mußte, der Wichmann die Berufung in das Ministerium verschafft hatte. Die Anschrift »Herr Regierungsrat Dr. Oskar Wichmann«, die der Füllhalter des niedlichen Tanzstundenfräuleins dann mit den gar nicht zu ihr passenden klobigen Buchstaben auf blaues Papier drückte, der Glückwunschbrief der älteren Schwester, die Freude der jüngeren, der Lieblingsschwester, die ein wenig neidischen Schulkameraden, das alles floß für Wichmanns Vorstellungen zu einer Harmonie zusammen, wie die Masern des Holzes, deren Schlingen und Wege er eben mit den Augen verfolgte. Vielleicht war für Casparius doch auch noch eine Stelle frei. Er jedenfalls mußte zunächst für sich selbst sorgen. Auch brauchte ihm Korts, der zum Oberregierungsrat vorgeschlagen war, nicht mehr als eine Stufe voranzugehen.

Wichmann fand nichts Arges dabei, in dieser Weise an seine beiden Tischnachbarn zu denken, während er die Zunge mit dem Geschmack des guten Tropfens netzte. Er mochte seine Kameraden gern; die drei waren durch die gemeinsame Arbeit schon zu einer Art »Stallgefährten« geworden, was nicht hinderte, daß sie auf der Rennbahn konkurrierten. Es umschloß sie als Band, für eine wichtige und befriedigende Aufgabe von einem sachlich anspruchsvollen Vorgesetzten ausgewählt zu sein, und sie hatten ihre Fähigkeiten gegenseitig schätzen gelernt; jetzt probten sie aus, ob sie auch abseits des Dienstbetriebes paßten.

Als Wichmann die dritte Flasche Wein in die Gläser schenkte, kam ihm in dem goldgelben Spiegel auf einmal eine sonderbare Schau. Er sah das Schicksal als einen borstenhaarigen Mann auf einem Schreibtischstuhl, wie es mit ungeschickten Fingern ein Rätselspiel zu lösen versuchte. Die Blättchen in den sinnlosen Formen, die zusammengelegt ein Bild ergeben sollten, paßten noch nicht ineinander, das eine hatte eine Ecke zuviel, das andere war zu rund. Das Schicksal mußte zusammenwerfen und von neuem anfangen. Was man beim Wein so dachte!

Korts war großzügig; er bestellte bei der vierten Flasche eine teure Marke. Casparius, der drei Kinder hatte, wurde von den Spendeverpflichtungen befreit.

»Drei, Herr Casparius? Sie haben sich aber beeilt.«

»Ha nei, Herr Regierungsrat in spe, des hab’ ich also gar net nötig ghabt, mich zu beeile. Ich hab’ allerdings gheiratet in einem Alter, in dem Sie erscht der Fräulein Hüsch eine Krokodilledertasche aufhebe und dabei noch rot werde! Infolge der Anstrengung des Bückens und der Senkung des Kopfes, die Ihnen einen näheren Ausblick auf seidenbestrumpfte Knie gestattet! Aber als ich in den Hafe gfahre war, der gegenwärtig infolge dreifacher Bemühung ein ziemlich wohlriechender geworde ischt, da hab’ ich ein paar Jährle in aller Geduld gwartet, und dann hat meine Frau das auf ein Hieb … oder Sitz, oder wie man passenderweise sagt, gemacht und hat mir Drillinge beschert.«

»Drei Mädchen?«

»Ha, natürlich. Woher wisse Sie denn des? Das kann nur mir passiere, Herr Assessor, oder dem Inspektor Baier könnt’s auch passiere, wenn er eine Frau hätt’ – aber vorsichtigerweis hat er noch keine.«

Die Herren tranken langsam weiter und aßen Käse. Korts hatte einen guten Zug.

»Wie heißen denn Sie mit dem Vornamen?« wollte Wichmann von ihm wissen.

»Wie kann ich wohl heißen? Das sollten Sie raten. Aber ich will Sie heute nicht mehr überanstrengen. Robert heiße ich, und wenn Sie nicht mich, sondern bei mir daheim gefragt hätten, so wüßten Sie es noch genauer: Robert der Teufel.«

»Darauf sind Sie stolz?«

»Selbstverständlich.«

»Fräulein Hüsch würde Sie dann Rob nennen, oder wenn sie zärtlich ist, Robby.«

»Meinen Sie?«

»Das weiß ich.«

Der Wein duftete sonnensüß.

»Wie ist die Lotte eigentlich?« fragte Wichmann. »Eine Blume ist sie nicht mehr … eine Frucht … oder schon ein wenig gegoren?«

Korts lachte betroffen und ohne aufzusehen.

Wichmann bot Zigaretten an. Die blauen Wölkchen schienen die Luft sichtbar zu machen und entfernten die Gegenstände und die fremden Gäste. Oskar Wichmann empfand ein steigendes Wohlgefühl nach den Erregungen des Tages. Sein Blut lief schneller, sein Selbstvertrauen wurde sicherer.

Casparius hatte eine Kunstfigur in die Luft geblasen.

Ein schönes Fragezeichen.

»Wichmann löst es«, sagte Korts.

Wichmann blies gegen den Dunst; er wandelte sich in andere Gestalten.

»Nix als Rätsel«, sagte Casparius.

Man ließ den Rauch nachdenklich seine Bahnen ziehen.

Korts wurde zutraulich. »Wichmann – im Vertrauen – im tiefen Vertrauen … Sie stehen auf dem Lotos … sitzen in der Liste … schscht … sagen Sie nichts, es ist wahr. Ihr Vater ist Christlicher Gewerkschaftsführer von Boschhofers Partei. Sie haben das Fragezeichen gelöst, und Sie werden jetzt Regierungsrat. Wichmann, ich bestelle auf Ihre Kosten eine Flasche! Seien Sie still, Wichmann, ich weiß alles.«

»Korts, Sie sollen Ihre Flasche haben, aber dann halten Sie auch den Mund, es ist ja alles gar nicht wahr.«

»Geben Sie mir die Flasche, Wichmann, und lassen Sie mir die Lotte Hüsch.«

»Geschenkt, Korts.«

»Sie sind ein Frauenjäger, Wichmann. Aber lassen Sie mir die Lotte Hüsch, Herr Regierungsrat in spe, und bleiben Sie bei Ihrem Fragezeichen!«

Wichmann wußte nicht recht, ob Korts besoffen war oder sich so stellte. Er lachte.

Eine staubige Flasche kam und wurde geöffnet. Korts schämte sich nicht, sie allein zu trinken. »Auf Ihr Wohl, Herr Regierungsrat. Wissen Sie, was ein Fragezeichen wird, wenn man es umdreht?«

»Was denn?«

»Ich weiß nicht mehr. Ober, machen Sie ein Fragezeichen und drehen Sie es um … ja? Was ist es dann?«

»Ein ›S‹, meine Herren.«

»Ein Staatssekretär! Wichmann, Sie haben eine große Zukunft!

Aber erst, wenn ich Minister … Warum bekomme ich denn kein Käsebrot mehr?«

»Essen Sie nur, Robby.«

»Der Josef Boschhofer und der Justus Grevenhagen sind nur Kalkberge! Wenn ich Minister bin, Wichmann, sollen Sie sehen … sollen Sie sehen … da mach’ ich Fragezeichen!«

›› … ha, des glaub’ ich also auch. Fragezeichen, daß einer Sau grausen könnt!«

»So ist es, Kaspar! Daß einer Sau graust … grausaust … Lassen Sie mich zufrieden. Ich werde jetzt Oberregierungsrat, oder die ganze Hütte fliegt in die Luft! Die Lotte spricht Englisch, Französisch und Italienisch, sie will einen Minister oder einen Diplomaten zum Ehemann haben. Ich werde vorläufig Oberregierungsrat …«

Korts trank sein letztes Glas aus.

»Ich stift’ auch eine, Herr Korts. Jetzt fängt’s an, sich zu lohne.«

»Jetzt langt’s auch ohne, Kasperl. Mit der Pritsche müßte man kommen und die Großmütterbeamten totschlagen! Kasperl, geben Sie acht, wenn ich mit der Pritsche komme! Seid Ihr alle da? Ja!«

Korts hatte seine Papierserviette zusammengedreht, so daß sie steif war, und klatschte damit auf den Tisch. »Der Baier: Lieber Herr Regierungsrat, so schnell geht das nicht, was denken Sie sich – klaps – die Schmock: Nein, Herr Regierungsrat, ich habe so viel andere eilige Arbeiten – klaps – die Lotte: Manieren wie ein Kongonigger – klaps – der Pöschko: Dann wenden Sie sich bitte an den Referenten – klaps – der Grevenhagen: Ihre Ernennung kann nicht vorweggenommen werden – klaps – der Boschhofer und der St … klaps, klaps – Kasperl, habe ich gut gearbeitet?«

»… ’s tut’s, Herr Oberregierungsrat, ’s tut’s.«

»Ich bin Robert der Teufel … haut sie, daß die Fetzen fliegen! … Kinder, Kinder, in einem Alter, in dem andere Leute die Welt erobert haben, sitzen wir herum wie das Stallvieh und lassen unsern Geist melken, damit andere die Sahne trinken! Es ist zum Auswachsen. Ich wachse aus, Kasperl, geben Sie acht auf meine Triebe! Sie werden sich alle noch die Augen reiben, wenn der Kalk von den Wänden fällt! Bei den IG-Farben hatte ich schon eine eigene Unterabteilung … und was bin ich heute bei unserem JG? Die Lotte hatte ganz recht, nur hinaus aus dem Mief, bevor man erstickt ist! Kasper, wenn ich einen Mercedes habe, lad’ ich Sie ein!«

»In zehn Jahren, Herr ›Ministerialrat‹…«

»Ho! Zehn Jahre! Kasper, in zehn Jahren bin ich Generaldirektor oder Oberbürgermeister oder Minister, und die Lotte würde sich die Finger schlecken, wenn sie mich dann noch kriegte … aufs Wohl!«

Wichmann schaute aufmerksam auf Korts, wie ein Junge, der mit den Händen in den Hosentaschen dasteht und das Platzen eines Knallfrosches bewundernd beobachtet. Der Wein hatte Wichmann beschwert und ruhig gemacht, und er aß langsam das folgende Käsebrot. »Sie waren bei den IG-Farben?« fragte er Korts erstaunt.

»Vier Jahre, 1923 bis 1927. Lemme und Boschhofer haben mich ins Ministerium geholt, um der Juristeninzucht etwas frisches Blut zuzuführen!«

Korts war für Wichmann ein neuartiges und seltsames Phänomen. Er selbst war immer ehrgeizig gewesen, aber vor der Prophezeiung der eigenen Karriere in der Manier Robert des Teufels hätte er sogar im Suff noch eine abergläubische Furcht gehabt.

Korts zählte Schweizer-Käse-Löcher.

»Wichmann, wenn ich nur wüßte, was Sie an sich haben! Sie haben etwas für Frauen und für Ministerialdirektoren! Sie sind so still und rätselhaft mit Ihren dunkelblauen Augen und so unschuldig und entwicklungsfähig! Die Lotte hat Sie heute angeschaut, daß einer eifersüchtig werden könnte, und Sie sind kalt geblieben! Wenn ich nur wüßte, was Sie mit dem Boschhofer gemacht haben, der ist auch verliebt in Sie! Wichmann, Sie sind ein stilles Wasser, und stille Wasser sind gefährlich.«

»Ich gebe Ihnen noch mal die Flasche, Korts, aber das ist die letzte. Sonst muß ich Kredit nehmen und kann der Hüsch morgen die hundert Mark nicht leihen.«

»Geben Sie mir die Flasche, Wichmann, ich will dann ruhig sein und niemandem mehr sagen, daß Ihr Vater Christlicher Gewerkschaftsführer und Mitglied der Zentrumspartei ist.«

»Wer hat denn diesen Mist aufgebracht?!«

»Ha no … ischt denn des net wahr?«

»Keine Rede davon. Mein Vater war Universitätsprofessor und hat nie einer Partei angehört.«

»Ha no, jetzt sage Sie … aber sage Sie’s net so laut, denn für die Lischte ist der Irrtum wahrscheinlich besser! Aber wir haben uns auch immer schon gewundert, daß sich der Grevenhagen ausgerechnet einen Zentrumsmann holt. Die gehöre doch eigentlich zu uns herüber, in den Orient zum Nischan. Mir habe das ganz säuberlich von Referat zu Referat getrennt, damit keine gegenseitige Infektion in Glaubensdingen stattfindet.«

»Welcher Partei gehört denn Grevenhagen an?«

»Gar keiner, des ischt vielleicht sein größter Fehler. Er repräsentiert – wie soll man das richtig ausdrücken? – ehemals kaiserlich-parteilospreußische Königstreue in republikanischen Formen durchtränkt mit sehr viel Dienstauffassung, umkränzt von Regimentskameraden, immer auf Draht in ›Ehrensachen‹ und selbstverständlich evangelisch. Es hat den Anschein, daß er mit Fanatismus an seine eigene Dienstauffassung glaubt, und jedenfalls wär’ ihm zuzutrauen, daß er den prophezeiten Zusammenbruch herbeiwünscht, damit unsere rosarot beleuchtete Republik gleich damit abgeht …«

»Daher der Scharfblick?«

»Sachlichkeit hat immer ihren Hintergrund, lieber Wichmann.«

»Aber wieso kommt dann unser Robby als Untergebener zu der von Ihnen so anschaulich geschilderten Grevenhagenschen klaren Unklarheit? Ist Rob von der ›rechten‹ Partei?«

»Der Herr Korts paßt überall hin. Er hat bei der IG den Farbwechsel gelernt. Aber vielleicht erzählt er uns was, heut abend?«

Korts schüttelte die Löwenmähne.

»Nee … nee … nichts wird erzählt. Ich muß jetzt still sein! Wichmann hat gesagt, ich muß still sein und meine Flasche trinken. Aufs Wohl!«

Die Sitzung in blaudunstiger Luft, vor gefüllten Gläsern zog sich in schweigendes Beisammensein hinein. Der Kellner räumte die Käseteller ab. Korts hatte die Hände auf den Tisch gelegt. Seine Handgelenke, die so breit waren wie der Arm selbst, kamen aus den Manschetten hervor und verstärkten den Eindruck des Stiermäßigen, den Wichmann beim ersten Anblick des Nackens, der einen breiten Kopf trug, schon unwiderstehlich gehabt hatte. Casparius saß auf der anderen Seite wie ein nachdenklicher, gutmütiger großer Affe.

Es wurde nur noch getrunken und kaum gesprochen. Über des Casparius ausdrucksfähiges Gesicht ging eine Fülle von Stimmungen und Gedanken. Korts starrte auf sein Glas; seine Wangen waren rot.

»Wichmann – kommen Sie mir bei der Hüsch nicht in die Quere … ich erschlage Sie sonst!«

»Möchten Sie?«

»Ja, das möchte ich.«

»Auf Ihr Wohl, Robert Korts!«

Die Gläser klangen ein letztes Mal.

Es war spät in der Nacht, als die Kollegen zahlten und gingen. Die Residenzstraße war schon still geworden. Der Schein der Bogenlampen fand Bummler und Dirnen. Seltener als am Abend blendeten Autos mit Scheinwerfern. Das Schaufenster mit dem Platindiadem war noch immer erleuchtet und erzählte der Nachtstunde von Bällen und Logen, von sagenhaften Fürsten, die Diamanten verkaufen mußten, und von Frauen, die sie zu tragen wünschten. Korts blieb stehen. Er sagte nichts, aber er dachte an Lotte Hüsch. Er sagte doch etwas.

»Gefällt Ihnen das Diadem, Wichmann?«

»In einem schönen Frauenhaar … ja, Robby.«

»Ich bin zu klein, Wichmann, zu klein, deshalb lieben mich die Frauen nicht. Wo haben Sie die zwanzig Zentimeter hergenommen, die mir fehlen?«

»Im Nähtisch an der Elle abgeschnitten, Robby.«

»Liebling?«

Wichmann sah wieder in das grob geschminkte Gesicht und wandte sich brüsk ab.

»Lassen wir das Diadem, Korts, bis Sie Generaldirektor sind.«

Die Herren schlenderten weiter. Es ergab sich ohne Verabredung, daß sie in den dunklen Park kamen. Der Herbstgeruch und die Kühle gaben dem Abschied ihre Stimmung. Die Köpfe wurden müder und klarer. Die beiden Kollegen geleiteten Wichmann, das »Wundertier des Abendlandes«, ein Stück des Heimwegs.

An der Ecke der Kreuderstraße blieb man stehen, um sich zu trennen.

»Jetzt schlafe Sie nur gut und träume Sie net zuviel vom Josef Boschhofer und vom Justus Grevenhagen und von der Lotte und von den Frauenhaaren mit dem Diadem und dem eifersüchtigen Robert, des stört nur die Verdauung. Und für morge stelle Sie Ihren Wecker eine halbe Stund früher, denn morge sind wir keine Minut sicher vor dem arbeitseifrigen Chef!«

Martha öffnete heute nicht mehr die Tür vor dem Klingeln; sie war schon zu Bett gegangen. Die ganze geheimrätliche Wohnung schlief in anklagender Ruhe, und nur der geduldige Heilige hielt noch immer die Zigarette, die ihm der Regierungsassessor des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen die heilgebliebenen Finger gesteckt hatte.

Oskar Wichmann stand noch einmal am Fenster, ehe er den Schlaf unter den Daunen suchte. Drüben, weit hinter dem Schatten des Ahornbaums, leuchteten die Fenster noch hell, und vor dem schmiedeeisernen Tor standen drei rassige Wagen.

An einem der kommenden Sonntage wollte Regierungsassessor Dr. Wichmann in der Kreuderstraße 3 seine Karte abgeben.

Es war schön zu träumen, ehe man schlief, wenn die leise Schaukel der Weinlaune und die Aussicht auf die Ernennung in den Schlummer wiegten.

Zwei Freunde

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