Читать книгу Palu, der Panda - Lothar Streblow - Страница 9
Der Schneeleopard
ОглавлениеDie Winter am Ostabhang des Himalaja dauerten lang. Zwar schirmten die hohen Bergketten die eisigen Nordwinde vom Lebensraum der Pandas ab, und es wurde selten kälter als minus zwölf Grad, aber durch die hohe Luftfeuchtigkeit schneite es fast ununterbrochen. Und täglich wuchs die dichte Schneedecke.
Für Palu wurden die Ausflüge im tiefen Schnee immer mühsamer. Meist machte er es sich in der Baumhöhle bequem und ging nur einmal am Tag mit hinaus.
Inzwischen kannte er den Tagesrhythmus seiner Mutter. Sie stand morgens früh auf, noch im Dunkeln, suchte ihr Bambusfrühstück und kam erst nach Tagesanbruch zurück. Danach gab sie ihm seine Morgenmilch, spielte ein wenig mit ihm und schlief eine Weile, bis sie wieder Hunger bekam und Futter suchte. Nach ihrer Rückkehr bekam er wieder Milch, und sie hielten gemeinsam Mittagsschlaf. Am Nachmittag ging er dann meist mit ihr, ziemlich lange, spielte mit ihr, und sie futterte, oft bis nach Einbruch der Dunkelheit. Und nach dem Milchtrinken und Spielen und Dösen lief sie wieder hinaus zum Futtern. Und erst weit nach Mitternacht legte sie sich endlich zum Schlafen nieder.
Nur wenn sie zu lange fortblieb, wurde Palu ungeduldig. Er wartete nicht gern auf seine Milch. Und er wollte spielen, möglichst nicht allein. Und mitunter wurde es ihm in der einsamen Baumhöhle zu langweilig.
An diesem Morgen war die Bärin auch reichlich spät zurückgekommen, hatte fürsorglich seinen Hunger gestillt und war bald darauf eingeschlafen. Auch Palu hielt seinen mittäglichen Verdauungsschlaf, wurde aber schon bald wieder munter. Gelangweilt spielte er mit seinen Zehen und kratzte sich unter der Fußsohle.
Durch seine Unruhe fühlte die Bärin sich offenbar gestört. Noch schläfrig reckte sie ihre Glieder und gähnte. Endlich erhob sie sich von ihrem Lager, ließ Palu ausgiebig trinken und streckte ihren Kopf aus der Baumhöhle.
Im Moment schneite es nicht mehr. Und das reizte Palu. Als seine Mutter träge in die fahle Wintersonne hinausstapfte, folgte er unternehmungslustig ihren Spuren. Tolpatschig schlug er ein paar Purzelbäume im Schnee. Das machte ihm Spaß. Dann hastete er weißgepudert wie ein kleiner Eisbär eilig hinter ihr her.
Nur kam er in dem tiefen Schnee nicht so schnell vorwärts. Allmählich vergrößerte sich der Abstand zu seiner Mutter, obwohl sie zwischendurch ein paarmal ihre Markierungen auf die frische Schneedecke setzte. Und sie stapfte zielstrebig dem nahen Bambusdickicht zu.
Mit einem Mal spürte Palu, daß da noch etwas anderes war. Er witterte einen unbekannten Geruch. Etwas Fremdes lauerte in der Nähe. Beunruhigt blickte er sich um, konnte aber nicht gleich etwas erkennen. Die große, im Schnee kauernde Gestalt am Berghang verschwamm fast in der weißen Landschaft. Erst als sie sich bewegte, erkannte Palu eine Vielzahl gleitender dunkler Tupfen auf weißlichem Fell.
Dieses eigenartige Tier interessierte Palu. Er hatte ja noch keine bösen Erfahrungen gemacht. Auch der große, gehörnte Takin hatte sich ja als harmlos erwiesen. Und dieses seltsam gemusterte Tier dort wirkte fast so weiß wie ein mit Schnee behafteter Pandabär.
Gerade wollte Palu neugierig darauf zutappen, da hörte er hinter sich ein deutlich vernehmbares Schnaufen. Die Bärin hatte sich nach ihrem säumigen Kind umgeschaut und war zurückgerannt, um es zu holen. Und als sie merkte, daß Palu seine Richtung änderte, steigerte sie ihr Tempo. So gemächlich Pandas sich sonst bewegen, bei Gefahr erreichen sie beachtliche Geschwindigkeiten. Und Palus Mutter witterte Gefahr. Hinter sich eine stäubende Schneewolke, aufgewirbelt von ihren Tatzen, preschte die Bärin heran.
Jetzt erkannte sie den Grund von Palus Richtungswechsel. Was Palu in seiner Unerfahrenheit für einen fremden Panda gehalten hatte, war etwas äußerst Gefährliches: ein Schneeleopard, fast einundeinhalb Meter groß, mit breiten, kräftigen Pranken und einem scharfen Gebiß. Im Sommer lebten Schneeleoparden in höheren Bergregionen, kamen bei Futtermangel im Winter aber auch in tiefere Lagen. Und gegen Schneeleoparden waren kleine Pandakinder völlig wehrlos. Doch das wußte Palu noch nicht.
Die Bärin zögerte keinen Augenblick. Mit einem raschen Biß packte sie Palu am Nackenfell. Palu quiekte erschrocken, hielt aber ganz still. Und durch den tiefen Schnee schleppte sie Palu zur schützenden Baumhöhle, legte ihn ab und schubste ihn hinein.
Mit dumpfem Knurren wandte sie sich um. Sie wußte, daß der Schneeleopard ihr mit einigem Abstand folgte. Drohend stellte sie sich auf die Hinterbeine und hob ihre Pranken. Und ihr Gebrüll klang furchterregend.
Unschlüssig blieb der Schneeleopard stehen. Junge und kranke Pandas waren für ihn eine leichte Beute. Mit erwachsenen Pandas aber konnte er es nicht aufnehmen, zumal mit einem Muttertier, das seine Jungen kampfkräftig verteidigte. Unwillig knurrend drehte er ab und verschwand am Berghang zwischen den verschneiten Fichten.
Verstört hockte Palu in der Baumhöhle, äugte furchtsam an der aufrecht stehenden Bärin vorbei nach draußen. Und er begann zu begreifen, daß seine Mutter ihn vor einer großen Gefahr bewahrt hatte.