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Gibt’s keinen Genierer mehr?

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Selten war der Satz »Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält« so stimmig wie heute. Die derzeitige Selbstzerstörung der halbwegs funktionierenden Ordnungsstrukturen seit dem Zweiten Weltkrieg hat beängstigende Mutationen entstehen lassen. Bei uns zum Beispiel sind aus den imponierenden, selbstbewussten, solidarischen roten Klassenkämpfern egomane, zahnlose Beißer und staatsversorgte, millionenschwere Dubioslobbyisten erwachsen. Aus den einst saftigen Grünen ist ungenießbar Tiefgefrorenes entstanden, samt einer wehleidigen Grün-Mama, die nicht nur die eigenen Kinder killt, sondern sich auch noch schamlos vermarktet. Während gleichzeitig die türkise Hoffnungsfarbe von stinkenden, blau-braunen Rauchschwaden zugedeckt wird und die Neos den liberalen Seiltanz weiter üben, zertwittert und zertrumpt in globalem Ausmaß, was unsere Lokalgrößen schon geschafft haben.

Oder ist dies alles vielleicht nur so authentisch wie die interessante Kulturnachricht vom 25. 2. im ORF, dass das berühmte Lied Am Brunnen vor dem Tore ein Volkslied sei, vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Heiliger Schubert, schau oba. Gibt’s überhaupt kan Genierer mehr?

Wie wäre die Menschheitsgeschichte verlaufen, wenn die Scham und nicht die Schamlosigkeit des Menschen Schicksal bestimmt hätte? Jedenfalls auf eine kaum vorstellbare Weise, ist doch die Schamlosigkeit der historische Wegweiser menschlichen Strebens.

Scham ist weder gut noch böse. Das sind nur die gesellschaftlichen Wertbestimmungen, an denen sich dieses immanent soziale Gefühl orientiert. Was würde uns überkommen, was würden wir besitzen oder zeigen, was überwinden und ablegen, wenn vor und nach unseren Handlungen kein Schambewusstsein bestünde? Mit Scham lässt sich das von der Gesellschaft gewünschte »Normale« schamlos erzwingen.

Persönlich erinnere ich mich mit Unbehagen, wie meine Generation sowie die folgende angehalten wurden, sich für dies und das zu schämen, und zwar von Menschen, die im Laufe ihres Lebens ohne jegliches Schamgefühl Kriegstreibern und Diktatoren widerstandslos zur Verfügung gestanden waren. Ihrer beschämenden Schamlosigkeit verdanken wir es, dass das soziale Korrektiv eines »gesunden« Schamgefühls nach dem Zweiten Weltkrieg seine Glaubwürdigkeit verlor, bis es die Protestierenden von 1968 als kulturell irrelevant aufgehoben und analog dazu eingemottet haben. Seitdem beklagen viele, auch viele alt gewordene 68er, wir würden in schamlosen Zeiten leben.

Doch diesem Bedauern zum Trotz lebt die Scham wieder auf. Mit Scham lässt sich heute nicht nur gut genieren, sondern zuvorderst gute Geschäfte machen. Bestseller über Scham werden wie warme Semmeln verkauft, wobei man nach erfolgter Konsumierung viel eher über die Semmeln als über diese Bestseller spricht.

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