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Dr. Pol Henry und die »Phytoembryotherapie«

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Im Jahr 1959 stellte der belgische Arzt, Homöopath und Naturforscher Dr. Pol Henry (1918– 1988) erstmals seine Forschungsergebnisse mit embryonalem Pflanzengewebe in der Zeitschrift Archives Homéopathiques de Normandie vor. In den darauffolgenden Jahren erschienen etliche wissenschaftliche Artikel von Dr. Henry und anderen Forschern zu diesem Thema.

Die Idee, embryonales Gewebe zu therapeutischen Zwecken einzusetzen, war bereits 1931 unter dem Namen »Frischzellentherapie« von dem schillernden Genfer Arzt und Sanatoriumsdirektor Dr. Paul Niehans (1882–1971) eingeführt worden. In der Frischzellentherapie werden speziell verarbeitete Zellen aus Tierföten (meist Kälbern oder Lämmern) zu Präparaten verarbeitet, die kurmäßig injiziert werden, um eine allgemein belebende und verjüngende Wirkung auf den menschlichen Organismus zu erzielen. Heute ist diese Therapieform allerdings unbedeutend geworden.

Dr. Henry, der mit Dr. Niehans befreundet war, untersuchte nun die Wirkung pflanzlichen Embryonalgewebes auf den Menschen. Anders als bei der Niehans’schen Frischzellentherapie kamen Injektionen dabei nicht zur Anwendung. Die innerliche Verabreichung geschieht auch heute noch immer oral. Die erste vertiefte Knospenanwendung erfolgte mit der Moorbirkenknospe (Betula pubescens), bei der Dr. Henry eine anregende Wirkung auf die Kupffer’schen Sternzellen der Leber entdeckte und somit ein in der Heilpflanzenkunde bisher unbekanntes Anwendungsgebiet für diese Knospen erschloss.

Die Erfahrungen, die Dr. Henry mit Extrakten aus embryonalem Pflanzengewebe an seinen Patienten gewinnen konnte, übertrafen seine Erwartungen bei Weitem. Er vertiefte und optimierte seine Methode ständig. Die erste Veröffentlichung, in der er sie 1959 vorstellte, trug den Namen Phytembryothérapie. Thérapeutique par les extraits embryonnaires végétaux. Es blieb aber nicht lange bei der Bezeichnung »Phytembryothérapie«. 1964 erschien in der Reihe der von der FFSH (Fédération Française des Sociétés d’Homéopathie – Société Médicale de Biothérapie) herausgegebenen Cahier de biothérapie erstmalig der Begriff »Gemmothérapie«. Dieser Begriff geht auf Dr. Max Tétau (1927–2012) zurück, einen langjährigen Mitarbeiter und Freund Dr. Henrys, und ist bis heute die Bezeichnung dieser relativ jungen Heilmethode. Im Jahr 1982 veröffentlichte Dr. Henry im Eigenverlag das Buch Gemmothérapie thérapeutique par les extraits embryonnaires végétaux, das als sein Vermächtnis gilt.

Ein Meilenstein für die Gemmotherapie war das Jahr 1965, als die Arzneimittelherstellung von Gemmotherapeutika in die Pharmacopée française aufgenommen wurde und damit offizielle Anerkennung erhielt. 2011 wurde das Herstellungsverfahren schließlich ins europäische Arzneibuch aufgenommen, die Pharmacopoea Europaea, und den homöopathischen Arzneimitteln zugeordnet. Heute sind Gemmotherapeutika in allen europäischen Ländern, in den USA, Australien und Neuseeland erhältlich. Die größte Verbreitung hat die Therapie in Italien und den frankophonen Ländern. Im deutschsprachigen Europa gewinnt die Gemmotherapie immer mehr Anhänger, in der deutschsprachigen Schweiz ist sie heute recht gut bekannt.

Aber, so stellt sich die berechtigte Frage, ist die Anwendung von embryonalem Pflanzengewebe, vor allem der Knospen, innerhalb der Heilkunde wirklich etwas so Neues? Ganz sicher nicht! Die ländliche Bevölkerung nutzt bis zum heutigen Tag die stoffwechselanregenden und »verjüngenden« Kräfte frischer Pflanzentriebe von Kraut, Strauch und Baum zu Frühjahrskuren. Ein herausragender Vertreter der naturverbundenen Volksheilkunde, der Schweizer »Kräuterpfarrer« Johann Künzle (1857–1945), empfahl in seinem Buch Chrut und Uchrut das Sammeln von jungen Schossen (jungen Trieben) aller Dornenarten, um sie in wässriger Abkochung kurmäßig einzunehmen. Er schrieb dazu: »Dieser Tee reinigt und säubert den ganzen Leib. Hat schon ganz elend kranke Menschen wieder gesund und blühend gemacht.« Man darf sicher davon ausgehen, dass er mit seiner auf Naturbeobachtung basierenden Empfehlung nicht allein steht, sondern dass solche Mittel zu allen Zeiten von naturnah lebenden Menschen angewendet wurden.

Wir finden auch historische Zeugnisse von Knospenanwendungen zu Heilzwecken, die bis ins alte Ägypten reichen. Die in Essig eingelegten Kapern, Blütenknospen des Kapernstrauchs (Capparis spinosa), begleiten den Menschen nachweislich schon seit 7800 Jahren als Gewürz, Nahrungs- und Heilpflanze. Ebenfalls eine seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. in chinesischen und ayurvedischen Medizinaltexten erwähnte Blütenknospe ist die Gewürznelke (Syzygium aromaticum), die nebst aromatisierenden Eigenschaften heute als eines der besten Antioxidanzien gilt. Die frischen und getrockneten Pappelknospen werden ebenfalls seit mehreren tausend Jahren medizinisch verwendet. Berühmt ist die Pappelknospensalbe, die bereits seit der Antike gegen Hautschrunden und Hämorrhoiden eingesetzt wird. Auch der weiße und grüne Spargel, der wegen seiner entwässernden und stoffwechselanregenden Wirkung geschätzt wird, gehört dazu. Es handelt sich dabei ebenfalls um ein stark im Wachstum befindliches Pflanzenorgan, das eigentlich der Spross einer sich entwickelnden Staude ist. Früher wurde Spargel zur Gesunderhaltung vor allem in Klostergärten angebaut.

Die heilige Hildegard von Bingen war eine wichtige Vertreterin der frühmittelalterlichen Heilkunde. Sie hat uns über ihre zwei Bücher Physica und Causae et Curae einen unschätzbaren Einblick in die Medizin ihrer Zeit gewährt. Darin beschreibt sie unter anderem die Heileigenschaften von Bäumen und Sträuchern und gibt dabei auch detaillierte Informationen zur Anwendung von Birken-, Schwarze-Johannisbeeren-, Esskastanien-, Heckenrosen-, Eschen-, Pappel-, Apfelbaum- und Lindenknospen. Damit betrieb die Äbtissin vom Rupertsberg eine differenziertere Knospentherapie und hielt diese auch schriftlich fest.

Es ist Dr. Pol Henry, Dr. Max Tétau und ihrem Team zu verdanken, dass die Kraft der Knospen heute für die naturheilkundliche Therapie wieder zur Verfügung steht.

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