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Kapitel 1

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Bist du jemals einen Gang entlang gelaufen in dem dich jeder anstarrte? Blicke fielen auf sie, während sie einen Schritt vor den anderen setzte. Blicke, die den ihren suchten, jedoch nicht fanden. Sie schaute stur gerade aus. Sie spürte jeden einzelnen dieser Blicke, wie sie sich in ihre Haut zu bohren versuchten, doch sie ließ sich nichts anmerken, fast als wäre es ihr egal. Manche Blicke waren erschrocken, oder ängstlich, andere fragend, wenn nicht sogar bewundernd. An der Tür angekommen klopfte sie und trat ein, sobald sie hineingebeten worden war. Die Direktorin zeigte auf einen der beiden Stühle, die vor ihrem großen antiken Schreibtisch standen. Sie folgte der Geste und setzte sich.

„Sage mir, was passiert ist.“, forderte sie die Direktorin mit besorgtem Blick auf.

Nach einigen Minuten der Stille sprach sie erneut:

„Ich habe dich gebeten, mir zu sagen, was passiert ist.“

Doch erneut kam keine Antwort. Sie saß nur da, regungslos, und starrte an die weiße Wand hinter der Direktorin, fast als würde sie ihr in die Augen sehen. Es klopfte an der Tür und zwei Polizisten traten ein.

„Frau Direktorin?“, fragte der eine.

„Ja.“, antwortete diese.

„Ist das das Mädchen, das sich zur Zeit des Todes an dem Tatort befand?“, fragte der andere, als er sie, auf dem Stuhl sitzend, erblickte.

„Ja.“, war erneut die Antwort der Direktorin.

„Haben Sie bereits versucht, ihre Eltern zu kontaktieren?“, erkundigte er sich daraufhin.

„Nein“, antwortete die Direktorin, als würde sie einem kleinem Kind das Lesen beibringen „denn sie hat keine Eltern mehr.“

Sie drehte sich zu dem Fenster hin, so dass sie ihren Blick über das Gelände schweifen lassen konnte, und fuhr dann fort:

„Sie lebte in einem Waisenhaus, bevor sie zu uns ins Internat kam.“

„Bei wem wohnt sie, wenn das Internat geschlossen hat? Es muss doch jemanden geben, der für sie zuständig ist?“, fragte der erste Polizist.

„Ja, wer bezahlt denn das Internat und ihren weiteren Lebensunterhalt? Soweit ich weiß ist das hier eine teure Schule und ich bezweifle, dass der Staat hierfür aufkommt.“, fügte der andere hinzu.

„Es gibt einen anonymen Spendengeber, der für alle Kosten aufkommt.“, begann die Direktorin, „Er zahlt ihr zudem eine Hütte in den Bergen, nicht weit von hier, in der sie leben kann, wenn die Schule und das Internat geschlossen haben.“

„Einen anonymen Spendengeber?“, fragte der zweite Polizist ungläubig.

„Ja, ein anonymer Spendengeber. Wir haben bereits versucht Kontakt zu ihm aufzunehmen, um uns für seine Großzügigkeit zu bedanken, doch er möchte anonym bleiben.“, antwortete die Direktorin und fügte dann ungeduldig hinzu:

„Da das Mädchen jedoch volljährig ist, denke ich nicht, dass diese Informationen für sie von großer Bedeutung sind, da wir in diesem Fall niemanden benachrichtigen müssen.“

„Nein, das nicht“, murmelte der erste Polizist „Wir dachten nur es wäre besser wenn eine Bezugsperson Bescheid wüsste, da wir sie, als einzige Zeugin, mit aufs Revier nehmen müssen.“

Die Polizisten, die sie bis jetzt weitestgehend ignoriert hatten, hofften anscheinend auf eine Reaktion von ihr, doch sie saß weiterhin regungslos auf dem Stuhl und hatte ihren Blick fest auf einen unbedeutenden Punkt auf der Wand hinter der Direktorin gerichtet.

„Als Zeugin oder Täterin?“, fragte diese eisig, während sie sich langsam wieder zu den Polizisten hindrehte.

„Wir möchten sie zunächst befragen.“, sagte der erste Polizist steif „Schließlich war sie die einzige, die hätte sehen können, was passiert ist.“

„Basierend auf den Aussagen anderer Schülerinnen, die gesehen haben, wie sie, kurz nach der zu Tode Gekommenen, die Mädchentoilette betrat. Kein anderer war, soweit wir es in Erfahrung gebracht haben, anwesend. Es wäre für unsere Ermittlungen von daher hilfreich zu wissen, was sie beobachtet hat“, fügte der zweite Polizist hinzu.

„Nun gut, ich werde Sie wohl kaum davon abhalten können, ihre Pflicht zu tun“, sagte die Direktorin, die auf einmal sehr müde wirkte.

Und so kam es, dass sie erneut, unter den Blicken aller, den Gang entlang lief; doch diesmal begleitet von zwei Polizisten und in Handschellen – nur als Vorsichtsmaßnahme, wie ihr erklärt wurde-.

Angekommen im Revier, zögerten die Polizisten nicht lange, sie ins Verhör zu nehmen. Stunden um Stunden stellten sie immer wieder die gleichen Fragen:

Ob sie das nun tote Mädchen kannte; ob sie irgendwelche Auseinandersetzungen oder Probleme mit ihr hatte; warum sie sich zu dem Zeitpunkt auf der Mädchentoilette befand; was sie gesehen hatte, was für die Ermittlungen relevant gewesen wäre.

Doch sie saß nur da und sagte nichts. Einer der Polizisten verlor nach einer Weile die Geduld.

„Mensch!“, schrie er „Ein Mädchen ist gestorben, auf deiner Schule, das du höchstwahrscheinlich kanntest, und es lässt dich komplett kalt? Willst du wissen, was ich glaube? Dass du sie ermordet hast! Wir haben von mehreren deiner Mitschülerinnen, unabhängig von einander, die Aussagen erhalten, dass du gesehen wurdest, wie du kurz nach dem Mädchen das Mädchenklo betreten hattest und kurz nachdem du es verlassen hast, wurde es von der nächsten Person, die es betrat, tot aufgefunden! Dein Schweigen bedeutet doch nur, dass du schuldig bist!“

Sie zeigte keine Reaktion und starrte weiterhin mit leerem Blick auf die Wand hinter dem Polizisten. Das machte diesen noch wütender und der andere Polizist musste einschreiten:

„Beruhige dich. Sie anzuschreien bringt uns leider auch nicht weiter. Ich glaube das Beste ist, sie heute Nacht hier zu behalten und sobald wir die Berichte der Gerichtsmedizin haben, können wir weitersehen.“

- Was die Polizisten jedoch nicht wussten war, dass sie der Tod des Mädchens keineswegs kalt ließ. Sie hatte nur früh in ihrem Leben gelernt zu schweigen und ihre Gefühle für sich zu behalten.

Die zwei Welten

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