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Kapitel 6

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Seit fast zwei Monaten waren sie nun unterwegs. Jeden Tag liefen sie mehrere Kilometer, nur um am Abend ein Lager irgendwo im Nirgendwo aufzuschlagen und um dann am nächsten Tag wieder weiter zu laufen. Was auch immer sie sich erhofft hatte, als sie in das Portal gestiegen war, dies war es wohl nicht gewesen. Die Landschaft war die gleiche wie die, die sie zurückgelassen hatte, doch zumindest regnete es nicht. Grüne Wiesen und goldene Felder erstreckten sich im Tal vor ihnen bis zum Horizont. Auf die Frage, wohin sie eigentlich gingen, erhielt sie keine Antwort.

Der Mann, der sie führte, wurde ihr von Tag zu Tag unheimlicher. Trotz des Sonnenscheins und des wolkenlosen Himmels sah sie niemals sein Gesicht. Um ihn herum schien das Licht generell seine Wirkung zu verlieren, und eingehüllt in seinem schwarzen Mantel sah er aus wie ein Mönch, der einer geheimnisvollen dunklen Sekte angehörte. Seine Kräfte schienen nie zu schwinden. Sie war sich sicher, dass sie nachts nur Pausen einlegten, damit sie wieder zu Kräften kam und schlafen konnte. Ob er jemals schlief war ihr ein Rätsel, sie hatte ihn zumindest noch nie schlafen gesehen.

Ohne die Möglichkeit zu haben sich umzuziehen, oder großartig zu waschen, war sie nach der langen Zeit schon ganz schön am Miefen. Als sie an einem kleinen See vorbei liefen, traute sie sich jedoch nicht, sich vor dem mysteriösen Mann auszuziehen, um ein Bad zu nehmen. In der Welt aus der sie kam, war sie den meisten Kreaturen wohl überlegen, doch hier schien sie die Schwächste zu sein. Jeden Tag war es ihr, als würde er das Tempo erhöhen. Wollte er sie auf die Probe stellen oder sie trainieren? Sie achtete - zumindest nachdem sie als Kind den berühmten Satz ‚Mensa sana in corpore sano‘ – ‚Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper‘ gelesen hatte, schon immer darauf, dass sie fit blieb. Schließlich hatten die Römer zwar bei weitem nicht mit allem, aber mit vielem Recht, und das klang irgendwie logisch. Dennoch wurde sie hier so sehr an die Grenzen ihres Körpers getrieben, dass sie sich fragte, wie lange sie das noch durchhalten würde, bis sie letztendlich vor Erschöpfung zusammen brechen würde. Auf die Frage, was das Ganze eigentlich bewirken sollte, erhielt sie von ihrem Gefährten natürlich keine Antwort, also hörte sie auf Fragen zu stellen.

Am Anfang waren es gemütliche Spaziergänge durch die Berge, doch je weiter sie sich von ihnen entfernten, desto schneller wurde sein Gang. Mittlerweile waren sie bei einer Art Joggen angekommen, das ihr nicht mehr ermöglichte, die Landschaft anzusehen. Obwohl diese ihrer Welt auf den ersten Blick gleich sah, war sie trotzdem anders. Sie war klarer umrissen, irgendwie schöner, mit einem ewig anhaltenden leichten Glitzern und Funkeln. Das Gras schien grüner, der Himmel blauer, die schneebedeckten Gipfel der Berge weißer. Doch nun war alles, was sie sah, ihre Füße, wie sie sich stets vom Boden entfernten und sich ihm wieder näherten. Schritt für Schritt, Sekunde um Sekunde, Tag für Tag.

Am Anfang konnte sie sich gar nicht satt sehen an der Schönheit ihrer Umgebung, doch nun hing ihr sogar das abendliche Brot und Wasser, das er, wie auch immer, jedes Mal aus seinem Mantel hervorholte, zum Hals raus. Ebenfalls bedrückte sie mittlerweile die ewige Stille, die sie stets umgab. Nicht nur ihr Begleiter schwieg, sondern auch alles andere um sie herum. Ab und zu hörte man in den wenigen Bäumen zwar ein leichtes Rascheln , das durch den Wind verursacht wurde, aber es gab keine Geräusche von Tieren oder sonstigen Lebewesen. Sie hatte bis jetzt genauso wenig welche sehen, auch nicht spüren können. Sie war allein mit ihrem unheimlichen Begleiter. In ihrem Leben vor dem Portal war sie immer von Geräuschen umgeben gewesen. Im Waisenhaus, im Internat, in den Gast- und Pflegefamilien, überall waren stets Menschen oder Tiere oder beides, die Lärm machten. Nur auf der Hütte war es vergleichsweise ruhig. Was sie damals so sehr liebte, begann sie nun langsam nervös zu machen.

Gab es in dieser Welt keine anderen Lebewesen außer ihr und dem schwarzgekleideten Mann?

Sie war sich noch nicht einmal mehr sicher, ob er wirklich ein Mann war – männlich sicherlich, aber menschlich?

Die Dämmerung brach an und sie stoppten endlich, um ihr Lager aufzubauen. Wie an jedem Abend würde es wieder Brot und Wasser geben und morgen, bei Sonnenaufgang, würden sie sich erneut auf den Weg machen. Wohin dieser sie führen würde, ob sie es jemals zum Ziel schaffen würde und ob es überhaupt eines gab, wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Die zwei Welten

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