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Kapitel 4

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Sie wusste, dass er kommen würde, obwohl sie ihn nicht kannte, noch nie gesehen hatte, oder seinen Namen wusste. Er war das Teil in dem Puzzle, das all die Jahre gefehlt hatte, um es zu vollenden. Also fuhr sie zu der kleinen Holzhütte in den Bergen, in der sie schon so häufig ihre Schulferien verbracht hatte. Es war ein wolkenbedeckter grauer Tag gewesen; ihre Stimmung war nicht viel besser. Deshalb setzte sie sich in die kleine Küche, dachte nach und wartete.

Schon als sie klein gewesen war hatte sie bemerkt, dass sie anders als die anderen Kinder war. Dinge, die anderen verdeckt blieben, waren ihr zugänglich. Es schien, als würde sie intuitiv verstehen, was Menschen um sie herum fühlten, was sie bewegte, motivierte. So war es ihr auch möglich vorherzusagen, was sie als nächstes tun würden. Als sie in die Schule kam, wurde der Unterschied zu den anderen Kindern für sie noch stärker bemerkbar. Viele der Waisenkinder, die mit ihr wohnten, taten sich schwer, Dinge zu lernen. Sie hatte damit keine Probleme. Selbst schwierige komplexe Dinge erschlossen sich ihr, als hätte sie sie schon immer gewusst. Um nicht aufzufallen, passte sie sich jedoch so gut wie möglich den anderen Kindern an. Es kostete sie viel Kraft jemanden zu spielen, der sie nicht war. Und sie schien dies nicht gut genug getan zu haben, denn einer wurde auf sie aufmerksam: Der anonyme Spendengeber. Sie wusste, dass er Antworten zu ihren Fragen haben würde. Wobei ihr noch immer nicht klar war, warum gerade sie die Ehre erhalten hatte, von ihm unterstützt zu werden. Sicherlich waren noch mehr Leute da draußen, die genauso waren wie sie.

Nicht nur ergaben sich Zusammenhänge für sie schneller, sondern sie konnte auch Dinge wahrnehmen, die für andere nicht vorhanden zu sein schienen. Gewisse Kräfte, die einen Einfluss auf das Leben in dieser Welt haben – sowohl gute als auch böse. Je älter sie wurde, desto mehr nahm sie wahr. Zunächst war es nur das Gefühl, dass noch etwas anderes Lebendiges in der Nähe war, dann sah sie eine Art hellen Schatten und erst vor kurzem fing sie an, Umrisse zu erkennen, wobei diese aber noch zu unscharf waren, um genaue Formen zu erkennen. Niemals zuvor hatte sie so viel negative Energie gespürt, wie an dem Tag, an dem das Mädchen gestorben war. Aus einem Grund, der ihr verschlossen blieb, hatte diese Lebensart es auf das Mädchen abgesehen. Sie folgte ihm, um es zu beschützen. Doch wenn man nicht weiß, vor was genau man es eigentlich beschützen möchte, und auch nicht weiß, wie man das eigentlich genau anstellen soll, dann gestaltet sich das ein wenig schwierig. So kam es, dass das Mädchen, trotz ihrer Bemühungen gestorben war, und was auch immer der böse Schatten gewesen war, fast unbeschadet davon gekommen ist.

Es wurde langsam dunkel um sie herum, und als die Nacht kam, entlud sich das Gewitter, das sich den Tag über in den Wolken angestaut hatte. Blitze zuckten durch die Luft und erhellten die pechschwarze Nacht für wenige Sekunden. Doch sie saß noch immer ruhig auf ihrem Stuhl und dachte nach. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, was sie zu tun hatte, dann hätte sie das Mädchen retten können. Die Regentropfen begleiteten ihre finsteren Gedanken mit der passenden Melodie. Wütend peitschten sie gegen das Fenster. Der Donner, der die Hütte zum Zittern brachte, drückte ihre Wut auf sie selbst aus.

Nach außen hin blieb sie jedoch regungslos; ihre leeren Augen auf die gegenüber liegende Tür gerichtet. Dass sie letztendlich als Tatverdächtige dastand überraschte sie nicht. Menschen sahen nicht das, was sie sah. Sie verstanden nicht das, was sie verstand, und wenn es nach ihr ginge, dann hatte sie die mehr oder weniger zwei Tage Haft auch verdient. Schließlich hatte sie Teilschuld an dem Tod des Mädchens, auch wenn in einer etwas anderen Form, als die, die man wohl normalerweise kennt. Der Regen wurde stärker und trommelte immer fester gegen die Scheibe. Langsam fuhr die Kälte in ihren Körper, doch sie unterdrückte das Zittern. Egal ob sie versucht hätte, den zwei Polizisten zu erklären, dass es in der Welt Dinge gab, von denen sie nichts wussten, oder nicht, wäre sie dennoch entlassen worden. Warum sie es dennoch getan hatte, wusste sie nicht so wirklich. Vermutlich wollte sie wenigstens einmal in ihrem Leben von jemandem verstanden werden. Ob sie den jüngeren der beiden Polizisten wohl jemals wieder sehen würde? Die Kälte kroch allmählich in ihre Brust und umschloss ihr Herz. Wohl kaum.

Ein Donner folgte auf den nächsten. Das Gewitter schien direkt über der Hütte zu sein. Doch sie saß nach wie vor regungslos da. Erneut zuckte ein Blitz durch die Nacht, der das kleine Zimmer erhellte. Ein Schatten fiel hinter ihr auf die Wand.

Er war da.

Sein Gesicht war von der Kapuze seines schwarzen Mantels verdeckt. Er war groß. So groß, dass er seinen Kopf einziehen musste, um durch die Tür gehen zu können.

Ihre Hoffnung, dass sie sofort Antworten auf ihre Fragen bekommen würde, war vergebens. Er sprach nicht und wie sie herausfinden würde, sprach er nie, zumindest nicht mit Worten. Sie spürte, dass er wollte, dass sie ihm folgte. Also stand sie auf und ging nach ihm aus der Hütte. Der Wind hatte sich etwas gelegt, das Gewitter, jedoch, war noch immer in vollem Gange. Sie zog ihre Kapuze über ihren Kopf und versuchte sich etwas in ihren Mantel einzukuscheln, damit es wärmer wurde, doch der Regen, der allmählich durch alle Schichten Stoff, die sie am Körper trug, zog, machte es ihr nicht gerade leicht. Sie stapften durch die nasse Wiese in Richtung des kleinen Kiesweges, der an der Hütte vorbeiführte, doch kurz bevor sie dort ankamen, drehte er nach links ab. Es war schwierig, ihm in der Dunkelheit zu folgen. Nur die gelegentlichen Blitze halfen ihr dabei, ihn ab und zu zu erblicken. Sie musste sich mehr und mehr darauf verlassen, ihn zu ‚erspüren‘. Er hatte ein etwas eigenartiges Gefühl an sich. Menschen waren normalerweise recht klar strukturiert. Es war leicht, sie zu erfassen, doch er war, als sei er keine feste Materie, sondern eher wie ein Gewirr aus Nebel, das manchmal fester und manchmal zerrissener wirkte. Obwohl sie sich sicher war, dass sie so etwas noch nie zuvor gespürt hatte, kam es ihr dennoch bekannt vor. Aber woher?

Es kam ihr vor, als seien sie seit Stunden unterwegs. Schon lange hatte sie aufgegeben zu versuchen festzustellen, wo sie sich genau befanden, oder wohin der Weg führen sollte. Sie kannte die Gegend um die Hütte herum eigentlich recht gut, hatte sie doch viele Stunden, Tage, Monate dort verbracht. Dennoch war es ihr mittlerweile nicht mehr möglich herauszufinden in welche Richtung sie eigentlich gegangen waren. Die Dunkelheit der Nacht tat ihr Übriges, um es ihr noch schwerer zu machen. Mittlerweile war sie zudem komplett durchweicht und konnte nicht anders, als heftig zu zittern. Es ging trotzdem noch weiter. Über Stock und Stein. Bergauf, bergab.

Der Mann vor ihr schien nicht an Kräften zu verlieren. Sie hingegen war komplett erschöpft. Gerade, als sie sich zum hundertsten Mal die Frage stellen wollte, warum um alles in der Welt sie das hier eigentlich mitmachte, blieb er plötzlich stehen. Sie waren an einem kleinen Eingang zu einer Höhle angekommen. Sie versuchte mehr zu erkennen, sah aber mit ihren Augen nicht viel.

Ihr fiel nur ein seltsames Schimmern auf, das sich über den gesamten Eingangsbereich legte, wie als sei ein flüssiges gläsernes Tor davor gespannt. Ein befremdliches Flüstern schien von dem Tor auszugehen. Ein Rauschen, das bei genauerem Hinhören, wie viele entfernte Stimmen klang. Sie verspürte eine komische Energie. Kühl, kraftvoll, aber dennoch sanft. Immer und immer mehr wurde sie in ihren Bann gezogen und als der schwarzgekleidete Mann ihr zu verstehen gab, dass sie dort hinein steigen sollte, war sie mehr als bereit, dies zu tun.

Zunächst streckte sie ihre Hand hinein, denn sie wollte wissen, wie es sich anfühlte. Ihre Hand bemerkte keinen Unterschied zu der Luft um sie herum, doch das Schimmern verdichtete sich nun um die Form ihrer Hand herum. Fasziniert von dem magischen Schauspiel, das sich ihr bot, tat sie vorsichtig einen Schritt hinein und als sie ganz drinnen stand, verstand sie auf einmal, was dieser Eingang war:

Ein Portal.

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