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Kapitel 6

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München-Waldfriedhof, 16. Oktober 2019, abends

»Blöder, arroganter, snobistischer, geleckter Lackaffe! Unhöfliches, dämliches, machtgeiles Arschloch!«

Mir ist es egal, ob mich die Leute, die mir entgegenkommen, schockiert ansehen. Die mussten sich ja auch nicht gerade mit diesem dämlichen D’Vergy herumschlagen.

»Zum Waldfriedhof!«, herrsche ich Hugo an, als er mir schweigend die Tür zu seinem potthässlichen Geländewagen aufhält.

Es versetzt mir einen Stich, wenn ich daran denke, wie grandios ich mich mit Hugo kabbeln konnte, als Tosh noch lebte. Doch jetzt wird immer deutlicher, dass ich nicht die Einzige bin, die sich niemals von Toshs Tod erholen wird. Hugo lächelt nie, verfolgt jede meiner Bewegungen mit blutunterlaufenen Augen und macht Marco zur Sau, falls er glaubt, dieser habe die Aufgabe, auf mich aufzupassen, nicht hundertfünfzigprozentig erfüllt.

Marco ist viel zu gutmütig, um ernsthaft böse auf Hugo zu sein, auch er sieht, wie sehr sein Freund leidet. Wegen der unendlichen Ruhe, die Marco ausstrahlt, bin ich eigentlich lieber mit ihm unterwegs, wenn ich schon keinen Schritt mehr allein machen darf. Aber Hugo ist prädestiniert dafür, sich ohne Termin irgendwo Zutritt zu verschaffen. Ha, dieser schlaksige Assistent wäre am liebsten unter seinen Tisch gekrochen, als Hugo ihn einmal kurz angeschnauzt hat. Göttlich!

Vielleicht hätte ich Hugo mit reinnehmen sollen. Aber ich bin ja gar nicht hin, um mich mit diesem arroganten Sack von Oberstaatsanwalt anzulegen, ich wollte nur wissen, wie der tickt. Was der Blödmann tatsächlich erraten hat.

Obwohl ich zähneknirschend zugeben muss, dass der Schnösel den Job wohl nicht nur bekommen hat, weil sie auf die Schnelle keinen anderen aufgetrieben haben, sondern weil er eventuell doch was drauf hat. Denn ich kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass D’Vergy mich ausgehorcht hat und nicht umgekehrt.

Trotzdem. Ich bin keine seiner Untergebenen, mit mir kann er nicht umspringen, wie er will. Außerdem kenne ich mich mit manipulativen Mistkerlen aus. Nach Tosh und Carlo macht mir doch dieser überhebliche Fatzke keine Angst.

Hat er es wirklich gewagt, sich über meine Kleidung lustig zu machen? Idiot! Tosh wäre so etwas im Leben nicht eingefallen. Der hätte mir die Sachen einfach vom Leib gerissen, wenn sie ihm nicht gepasst hätten.

Scheiße! In welche Richtung gehen meine Gedanken denn jetzt?

»Du fährst, als sei ich ein rohes Ei. Eigentlich wollte ich vor Einbruch der Dunkelheit am Grab sein!«, blaffe ich Hugo an.

»Der Mittlere Ring ist einer der Unfallschwerpunkte Münchens«, erklärt der ungerührt.

»Das hat dich früher nicht gestört«, motze ich und denke an unsere erste gemeinsame Fahrt.

»Entspannen Sie sich, Chefin«, sagt Hugo geduldig.

Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Denn nicht Hugo ist es, der meine Laune in den Keller befördert hat. »Entschuldige«, sage ich und reibe mir die pochenden Schläfen.

»Schon okay, Chefin«, behauptet er. »Sie sollten wirklich zusehen, dass Sie nachts auch mal schlafen und nicht immer nur vor diesem Computer hocken und auf die Zahlen starren. Das kann doch nicht gesund sein.«

Als ob es irgendwas bringen würde, sich ins Bett zu legen. Da bekomme ich doch nur stundenlang kein Auge zu. Aber Hugo meint es nur gut, das weiß ich ja, deswegen schlucke ich meine scharfe Erwiderung, dass ihn das überhaupt nichts angeht, rasch herunter und nicke brav.

Endlich erreichen wir den Waldfriedhof, und im Stechschritt marschiere ich zu Toshs Grab. Es ist nicht weit. Der Inhalt meiner Hutschachtel erwies sich auch in dem Moment als nützlich, als ich einen der begehrtesten Plätze auf diesem wunderschönen Friedhof ergattern wollte. Trotzdem fühle ich mich nach dem kurzen Marsch besser. Ich atme tief durch.

»Hallo, Tosh! Hallo, Georg!«, denke ich, als ich vor dem Grab ankomme, dessen Gestaltung leider immer noch nicht abgeschlossen ist. Anstelle eines Grabsteins zieren nach wie vor die schlichten Holzkreuze des Bestatters die letzte Ruhestätte von Tosh und seinem besten Freund.

Als ich mich entschloss, Toshs Wunsch zu folgen und sein Erbe zu verwalten, ahnte ich nicht, dass ich mich rasch einer äußerst kuriosen Situation gegenübersehen würde: Georg starb nur zwei Tage vor Tosh, und er hatte Tosh als seinen Alleinerben eingesetzt. Sodass ich plötzlich für zwei Tote verantwortlich war. Eigentlich ging ich davon aus, dass Georgs Eltern das nicht einfach so hinnehmen würden. Doch sein Vater teilte mir unmissverständlich mit, dass Georg schon vor Jahren für sie gestorben sei. Bastard!

Ich nahm also auch diese Aufgabe an. Weil mir alles recht war, was mich zwang, aus dem Meer der Verzweiflung aufzutauchen, das mich zu verschlingen drohte. Arbeit war gut. Ich brauchte sie. Sie hielt mich aufrecht.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Tosh und Georg auch zu Lebzeiten einer gemeinsamen Ruhestätte zugestimmt hätten. Im Gegensatz zu Carlo, der hoffentlich im Dreieck gesprungen ist, als er davon gehört hat. Davon gehört hat er mit Sicherheit, schließlich sind mehr als genug zwielichtige Gestalten auf Toshs Beerdigung aufgetaucht.

Der Wind frischt auf und es wird langsam kühl. Alles wegen Hugo!

Wo steckt Hugo eigentlich? Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er sich diskret außer Hörweite zurückgezogen hat, mich aber unverwandt beobachtet. Ein wenig Privatsphäre für mich. Nicht, dass das unbedingt notwendig wäre, schließlich rede ich nicht laut mit Tosh. Er ist ja tot, das wäre Unfug und würde nur die nette alte Dame verschrecken, die immer die Begonien auf dem Nachbargrab so hingebungsvoll pflegt. Theoretisch könnte ich überall mit Tosh sprechen. Aber ich weiß, wenn er noch etwas dazu sagen könnte, würde er darauf bestehen, dass ich zu ihm komme, wenn ich was loswerden will, und nicht in einem Jogginganzug auf dem Sofa herumlümmle. Herrischer, arroganter, pseudo-italienischer Mistkerl! Also fahre ich her, wenn ich Sorgen habe, und danach fühle ich mich manchmal ein bisschen besser. Blödsinn, ich weiß, aber ich kann auch nicht damit aufhören.

»Ich muss dir was erzählen«, sage ich stumm zu Tosh. »Der neue Oberstaatsanwalt ist so ein blasierter Affe, das kannst du dir gar nicht vorstellen. So ein selbstherrlicher Vornehmtuer. Aber für uns ist das richtig gut, schätze ich. Bald wird Carlo für alles bezahlen, was er uns angetan hat. Dr. Walther hat mich ja ständig hingehalten, aber dieser arrogante Wichser kann es sicher kaum erwarten, die Lorbeeren einzuheimsen, weil er Carlo Cortone unschädlich gemacht hat. Der wird schon dafür sorgen, dass der Prozess so bald wie möglich beginnt.«

Oder? Es gibt doch genug Indizien, sogar Zeugen. Okay, niemand hat gesehen, wie Carlo auf Tosh geschossen hat. Was daran liegen könnte, dass Carlo nicht auf Tosh geschossen hat. Aber das ändert ja trotzdem nichts daran, dass er an Toshs Tod schuld ist. Nur dass dieser dämliche Lackel von Oberstaatsanwalt das womöglich irgendwie anders sehen würde, wenn er wüsste, was wirklich passiert ist. Aber ich werde schon dafür sorgen, dass dieser überhebliche Armleuchter niemals dahinterkommt.

»Dein Tod war nicht umsonst!«, verspreche ich Tosh, und dann mache ich damit weiter, diesen albernen Geck von der Staatsanwaltschaft mit so ziemlich jeder Beleidigung zu bedenken, die mir einfällt. Bis ich plötzlich glaube, Tosh vor mir zu sehen, mit diesem kleinen spöttischen Zucken um die Mundwinkel, so als vermutete er einen ganz anderen Grund hinter dieser Tirade als den, dass ich D’Vergy nicht riechen kann.

»Blödsinn!«, schimpfe ich stumm. »Ich will einfach sichergehen, dass Carlo nicht ungeschoren davonkommt. Wir waren viel zu lange die Marionetten in seinem kranken Spiel, das will ich nicht mehr sein.«

»Du warst das nie!«

Was? Was?! Antwortet Tosh mir? »Tosh? Tosh!«

»Frau Jennings. Chefin!«

Hugo. Es ist nur Hugo. Oder?

»Es ist kalt, wir sollten gehen.« Fürsorglich legt Hugo mir seine Lederjacke über die Schultern. »Alles in Ordnung, Chefin?«

Ich nicke nur. Nichts ist in Ordnung, und Hugo weiß das nur zu gut. Denn selbst wenn ich dafür sorgen kann, dass Carlo den Rest seines Lebens hinter Gittern versauert, würde mir das Tosh nicht zurückbringen. Und solange das nicht passiert, wird es sich immer anfühlen, als sei ein Teil von mir gestorben, gestorben und begraben. So wie Tosh.

Vico - Il Conte

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