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Kapitel 2

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München-Laim, 09. Oktober 2019, vormittags

»Überraschung!«, ruft Liliane, als sie meine Wohnung betritt.

Rasch klicke ich die Mail an die Tierschutzorganisation Peta in den Hintergrund und rufe stattdessen einen harmlosen Kontoauszug auf. Doch ich hätte mich nicht beeilen müssen, wie so oft verschwindet Liliane zuerst mal in der Küche. Ich höre Geschirr klappern. Sicher hat sie wieder irgendein Obst angeschleppt, und wahrscheinlich wird meine Freundin nicht ruhen, bis ich mindestens die Hälfte davon gegessen habe. Denn das sind wir längst geworden: Freundinnen, auch wenn Liliane nun für mich arbeitet.

»… finden Sie anbei die Beweise, dass Bio Gieseke in seinen Läden Fleisch aus tierquälerischer Massentierhaltung anbietet …«, tippe ich nun doch noch schnell die Mail fertig und schicke sie rasch ab. Das sollte reichen, um die Kämpfer für Tierrechte auf die richtige Spur zu bringen – und das wird der Famiglia ein weiteres, lukratives Geschäft vermasseln. Außerdem konnte ich diesen Fatzke Gieseke noch nie leiden.

Doch gegen das Pochen hinter meiner Stirn hilft auch das Wissen nicht, dass ich der Famiglia erneut einen Schlag versetzen kann. Ich stütze meinen dröhnenden Kopf in die Hände. »Verdammt, Tosh!«, denke ich, was ich ungefähr einhundertmal jeden Tag tue, seit er tot ist, und umklammere mit einer Hand den Anhänger mit dem eingravierten keltischen Liebesknoten, den er mir hinterlassen hat. »Ich schaff das nicht!«

Aber ich muss es schaffen. Nur noch ein bisschen durchhalten. Wenn Carlo erst verurteilt und diese verdammte Famiglia endlich pleite ist, dann kann ich durchatmen. Dann werden wir alle in Sicherheit sein, Liliane, Hugo, Marco und ich. Auch wenn dieser bohrende Schmerz in meiner Brust wohl niemals weggehen wird. Ich hoffe allerdings darauf, dass ich dann wenigstens mal wieder eine Nacht durchschlafen kann – vielleicht sogar ohne Albträume. Ständig reißen sie mich aus dem Schlaf, fluten meinen Kopf mit Bildern von Tosh, kalt und tot auf diesem Metalltisch in der Gerichtsmedizin. Mein Tosh.

»Er ist da!«, verkündet Liliane, betritt das improvisierte Büro, das ich uns beiden in meinem ehemaligen Gästezimmer eingerichtet habe, und hält mir ein Glas hin. Zum Glück ahnt sie nicht, was ich gerade gedacht habe. Ich kann im Augenblick nicht noch einen ihrer lieb gemeinten Vorträge ertragen.

»Wer?«, frage ich argwöhnisch und beäuge das Getränk, dessen blaugrüne Farbe mich an eine Giftschlange aus dem tropischen Regenwald erinnert.

»Das doch nicht, das ist ein Smoothie, trink das. Nein, ich meine …«

»Du hast aber nicht bei Bio Gieseke eingekauft, oder?«, hake ich misstrauisch nach.

»In dem überteuerten Schicki-Micki-Laden? Spinnst du? Dem werfe ich doch kein Geld in den Rachen. Natürlich war ich auf dem Viktualienmarkt. Aber hör doch mal zu. Er ist da!«

Jetzt ahne ich, wovon sie spricht. Es muss um den Bildband über Cockerspaniel gehen, den sie so sehnlich erwartet. Ich bin froh, dass Liliane sich über solche Kleinigkeiten wieder freuen kann. Seit Toshs Tod lächeln wir selten, brüten verbissen über dem Erbe, das er uns hinterlassen hat, und sind mit den Gedanken häufig doch ganz woanders.

»Zeig her!«, fordere ich sie auf und nehme vorsichtig einen Schluck von der Giftschlangen-Mixtur. Gar nicht so schlecht.

»Eins nach dem anderen«, sagt Liliane, und ihre Augen blitzen. »Jetzt lass dir erst mal den Namen auf der Zunge zergehen: Conte Victorio Moreno D’Vergy!«

»Ist das ein Hund?«, frage ich erstaunt, immer noch der Ansicht, dass es um das Buch geht.

»I wo … ein Mann! Mensch, Mädel!«

»Du bist verliebt?«, frage ich und würde mir im selben Moment am liebsten für meinen ungläubigen Ton in den Hintern treten. Wir sind ja kein Nonnenkloster hier, obwohl das für mich kaum einen Unterschied machen würde.

Liliane kichert. »Ich denke nicht, dass dieser Mann sich als junger Liebhaber einer schon etwas in die Jahre gekommenen Sekretärin eignet«, meint sie, und bevor ich widersprechen kann, verrät sie mir endlich, von wem sie spricht: »D’Vergy ist der neue Oberstaatsanwalt.«

Wie ein Zauberer zieht sie einen sorgfältig gefalteten Zeitungsausschnitt aus ihrer Handtasche und legt ihn vor mir auf den Tisch.

Ich starre das Foto an. Ein Mann, vielleicht Ende zwanzig, mit akkuratem Kurzhaarschnitt. Keines der dichten schwarzen Haare befindet sich am falschen Platz, unter den leicht gerunzelten Augenbrauen blicken dunkle Augen forschend in die Kamera. Er hat eine gerade Nase und ein energisches Kinn. Natürlich ist er glatt rasiert, und ich könnte wetten, dass der Rest seines Anzuges ebenso perfekt sitzt wie die Krawatte und der Hemdkragen, die man auf dem Foto sieht.

Schon der Name hat mir nicht gefallen. Der Mann tut es erst recht nicht. »Wer soll der Schönling sein, sein Sohn?«, frage ich. »So einen Fatzke verspeist Carlo Cortone doch zum Frühstück. Der setzt uns womöglich den ganzen Prozess in den Sand.«

»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigt Liliane mich und tippt auf den Artikel neben dem Bild. »Das Foto ist von 2016, da hat er in Hamburg einen aufsehenerregenden Prozess gewonnen: ›Der Staat gegen Sindermann‹, davon hast du bestimmt gehört …«

Lilianes Worte rauschen an mir vorbei, während ich mich zum x-ten Mal frage, warum zum Teufel Oberstaatsanwalt Dr. Walther sich unbedingt in seiner Badewanne die Pulsadern aufschneiden musste. Ich fürchte, dass es mit seiner Vorliebe zu tun hatte, einmal in der Woche einen Stricher aufzugabeln und einige Stunden mit ihm in einem Hotel zu verbringen. Dieses Wissen gehört, wie auch die Info über Gieseke, zu dem Erbe, das Tosh Silvers mir hinterlassen hat. Die Famiglia schreckt wahrlich nicht vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Doch vor allem verfügen sie über einen riesigen Schatz an Informationen, was es ihnen ermöglicht, ihre Gegner wahlweise zu erpressen oder zu bestechen.

Ein ganzes Potpourri solcher Informationen befindet sich nun auch in einer Hutschachtel unter meinem Bett. Was allerdings nicht bedeutet, dass Carlo Cortone, der Boss der Münchner Famiglia, nicht ebenfalls über dieses Wissen verfügt. Ich frage mich nur, warum er es nicht längst eingesetzt hat, nachdem er schon seit Monaten wegen des Mordes an Tosh Silvers in Untersuchungshaft sitzt. Das macht doch keinen Sinn, oder? Warum hat Carlo so lange damit gewartet, Dr. Walther unter Druck zu setzen? Was zum Teufel ist da vorgefallen, von dem ich nichts weiß?

»… Sylvie hat mir verraten, dass sogar Hauptkommissar Schneider von D’Vergy beeindruckt war, und das ist ja mal ganz was Neues, dass dieser Schneider sich von irgendwem beeindrucken lässt …«, schnattert Liliane derweil ungerührt weiter.

Sylvie ist Angestellte in der Staatsanwaltschaft München II und Teil eines Lesezirkels über romantische Literatur, dem auch Liliane angehört. Ich hoffe nur, meine Freundin hat Sylvie im Gegenzug lediglich verraten, dass ich als Testamentsvollstreckerin von Tosh Silvers und als Betreuerin seiner alkoholkranken Mutter tätig bin. Dass ich nebenbei versuche, Carlo Cortone zu Fall zu bringen, und am besten die ganze Famiglia gleich mit, geht niemanden was an.

»Na und?«, maule ich. »Von diesem Piefke lässt Cortone sich doch nicht die Butter vom Brot nehmen. Dr. Walther hatte jahrelange Erfahrung mit solchen Typen, der hätte sich von Carlo nie und nimmer vorführen lassen.«

»Das stimmt doch nicht«, wendet Liliane sanft ein. »Dr. Walther ist tot, und ich würde nicht darauf wetten, dass Carlo damit nichts zu tun hat.«

Da hat sie auch wieder recht. Die Kopfschmerzen werden schlimmer. Ich nehme noch einen großen Schluck von dem Smoothie, aber selbst diese geballte Ladung an Vitaminen kann nichts gegen meinen dröhnenden Schädel ausrichten.

Denn wenn ich nicht verdammt gut aufpasse, dann bin ich die Nächste, die Carlo ins Visier nimmt. Sollte die Famiglia jemals Wind von dem Inhalt meiner Hutschachtel bekommen, wird mein Leben keinen Pfifferling mehr wert sein. Da könnten mir auch Marco und Hugo nicht mehr helfen, Toshs ehemalige Leibwächter, die mir seit seinem Tod nicht mehr von der Seite weichen.

Doch damit will ich Liliane nicht belasten. Die Papiere, die Tosh mir hinterlassen hat, bleiben mein Geheimnis.

»Wir brauchen mehr Informationen über diesen Adonis«, sage ich zu Liliane. »Ich will nicht riskieren, dass der womöglich anfängt, die Ermittlungen neu aufzurollen.« Carlo Cortone soll endlich für Toshs Tod bezahlen!

»Na ja, Sylvie wird …«, sagt Liliane, doch ich winke ab.

»Klatsch reicht nicht. Glaubst du, Carlo hockt derweil gemütlich in seiner Zelle und guckt sich alle Folgen Game of Thrones an? Wenn er wirklich dafür gesorgt hat, dass Dr. Walther sich umbringt, dann wird er diesen Schnösel erst recht nicht in Ruhe lassen. Nein, Marco soll sich mal umhören.«

Marco ist nicht nur mein Bodyguard, er sieht auch so aus: Groß, dunkles, kurzes Haar, breite Brust und Oberarme, die dicker sind als meine Schenkel. Trotzdem ist er der Einzige von uns, der es schafft, in der Lieblingskneipe der Bullen von der Mordkommission ein Bier zu trinken, ohne dass er irgendjemandem auffällt. Keinen Plan, wie er das macht.

Liliane nickt zustimmend. »Gute Idee. Sylvie soll trotzdem die Augen offen halten.«

Ich nicke. Warum nicht? Wenn alle Stricke reißen, kann ich mich immer noch an diesen feinen Pinkel heranmachen. Wie man so einen Snob knackt, weiß ich. Ein Wissen, das ausgerechnet Carlo Cortone vor ein paar Jahren um einige Aspekte erweitert hat.

Aber das gehört ebenfalls zu den Dingen, die besser nie jemand erfahren wird. Und daran denken will ich schon gleich gar nicht.

Vico - Il Conte

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