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Kapitel 1

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München-Maxvorstadt, 08. Oktober 2019, nachmittags

»Schenken Sie mir doch einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit«, bitte ich Hauptkommissar Schneider, nachdem wir an meinem neuen Arbeitsplatz angekommen sind.

Während der Fahrt vom Bahnhof hierher hat Schneider keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er eigentlich etwas Besseres zu tun hätte, als den Chauffeur für seinen neuen Oberstaatsanwalt zu spielen. Mein Gepäck durfte ich selbst tragen und im Auto hat der Kommissar kaum die Zähne auseinanderbekommen. Nun gut. Auf solche Artigkeiten kann ich im beruflichen Umfeld ohne Weiteres verzichten, zumal vielen Menschen der Unterschied zwischen respektvoll und kriecherisch nicht so ganz klar ist.

Ich ahne ja, was Schneider denkt: Ich bin zu jung für diese Position, meine klassischen italienischen Gesichtszüge würden eher in ein Modemagazin als in einen bayrischen Gerichtssaal passen, und mein teurer Anzug sollte nach der langen Reise wenigstens den Anstand besitzen, ein wenig verknittert auszusehen. Zu allem Überfluss haben sie einem Münchner einen Oberstaatsanwalt vor die Nase gesetzt, der in Hamburg etliche Erfolge feiern durfte. Ein Fischkopf und ein Lackaffe also.

Alles in meinem Leben ist hart erkämpft, oder ich musste verdammt teuer dafür bezahlen. Aber das geht den Kommissar nichts an. Allerdings muss ich darauf bestehen, dass er seine Arbeit ordentlich erledigt. Was ich ihm nun mitzuteilen gedenke. Die Haudegen von der Kripo brauchen gar nicht erst auf den Gedanken zu kommen, dass sie sich bei mir irgendwas herausnehmen können.

Ich betrete mein neues Büro und frage mich im selben Moment, ob ich nicht nur einmal quer durch Deutschland gereist bin, sondern aus Versehen gleich noch eine Zeitreise in die Vierzigerjahre unternommen habe: Schwere, dunkle Eichenmöbel dominieren den Raum, die gerahmten Ölgemälde an den Wänden zeigen Berge, Wälder und Wild. Mit Mühe unterdrücke ich ein Schaudern. Davon bekommt man ja Albträume. Aber um die Einrichtung werde ich mich später kümmern.

»Wenn Sie mich bitte über den Stand der Ermittlung bezüglich des Todes von Dr. Walther informieren würden«, sage ich höflich zu Schneider, nachdem ich den ersten Schreck überwunden habe.

Der breitschultrige Mann plumpst unaufgefordert in den monströsen Besucherstuhl, der ärgerlicherweise vor meinem neuen Schreibtisch steht, und legt seinen linken Fuß mitsamt ausgelatschtem Cowboystiefel lässig auf den rechten Oberschenkel. Sein Blick schweift aus dem Fenster, so als hätte er mich nicht gehört.

Ich nehme auf einem knarzenden Ledersessel hinter dem Schreibtisch Platz. »Herr Schneider? Was können Sie mir über den Suizid meines Vorgängers sagen?«, frage ich unverändert freundlich.

»Nichts.«

Aha. Aber ich kann auch anders. Ich nehme einen schmalen Hefter aus meiner Aktentasche.

»Sie sollen ein guter Ermittler sein. Aber wenn das hier«, ich werfe die Mappe, die außer ein paar hässlichen Fotos gerade mal eine lächerliche Berichtseite enthält, so schwungvoll auf den Tisch, dass sie direkt auf der anderen Seite wieder zu Boden segelt, »ein Hinweis darauf ist, wie sorgfältig Sie arbeiten, frage ich mich schon, wie der leitende Oberstaatsanwalt zu dieser Einschätzung Ihrer Fähigkeiten gekommen ist.«

Keiner von uns macht Anstalten, den dünnen Ordner aufzuheben. Schneider starrt mich unter seinen buschigen Augenbrauen verdrossen an.

»Haben Sie irgendeine Erklärung für diese Schlamperei?«

»Herr D’Vergy, die Obduktion hat eindeutig ergeben …«, fängt der Kommissar an.

Ich unterbreche ihn sofort. »Der Bericht der Gerichtsmedizin ist bereits zehn Tage alt. Außerdem wird eine Obduktion nie belegen können, dass mein Vorgänger nicht dazu gezwungen wurde, sich die Pulsadern aufzuschneiden.« Wenn der Kommissar sich so benimmt, als müsse man ihm seinen Job erklären, bitte schön, dann tue ich das eben, und da sind mir die fast zwanzig Jahre Berufserfahrung, die er mir voraushat, scheißegal. Ich lehne mich zurück und lege die Fingerspitzen aneinander. »Sie haben keinen Abschiedsbrief. Keine Hinweise auf finanzielle oder berufliche Probleme. Niemanden, dem wenigstens eine depressive Verstimmung aufgefallen ist. Alles, was Sie haben, ist ein anonymer Anrufer, der pikante Details aus Dr. Walthers Privatleben zu kennen glaubt. Was Sie aber scheinbar nicht weiter untersucht haben.«

»Es reicht doch, dass sich die ganze Behörde das Maul über den früheren Oberstaatsanwalt zerreißt«, erklärt Schneider grantig. »Hätten wir auch noch seine Familie mit diesen Gerüchten behelligen sollen? Dr. Walther ist freiwillig aus dem Leben geschieden, um genau das zu verhindern. Denken Sie doch an die Angehörigen!«

Ah ja. Alles schön unter den Teppich kehren. So was habe ich ja gefressen. »Offenbar haben Sie ihre Zeit nicht mit gewissenhafter Arbeit vergeudet. Dann hätten Sie diese wenigstens nutzen können, um herauszufinden, dass es nicht zu meinen Angewohnheiten gehört, schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen«, entgegne ich eisig.

Schneiders Kiefermuskeln treten hervor, aber ich bin noch nicht fertig.

»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass der anonyme Anrufer Dr. Walther ganz gezielt verunglimpft hat, um ihn in den Tod zu treiben? Aber warum? Ging es um Dr. Walther persönlich oder um Dr. Walther in seiner Eigenschaft als Oberstaatsanwalt? Ich werde sicher nicht ruhen, bis ich eine Antwort auf diese Fragen bekommen habe, ganz gleich, ob an den anonymen Anschuldigungen etwas dran ist oder nicht.«

»Selbst wenn da etwas dran wäre, dann heißt das ja noch lange nicht, dass Dr. Walther sich strafbar gemacht hat«, entgegnet Schneider stur.

»Ist etwas dran?«, frage ich direkt. Ich beobachte, wie sich der Adamsapfel des Kommissars rasch auf- und abbewegt. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts. Aber er zögert mit einer Antwort. Zu lange. Das reicht mir.

Offensichtlich müsste er mir direkt ins Gesicht lügen, wenn er Nein sagt, und ich bin einigermaßen erleichtert, dass er das nicht tut.

»Im Moment sind Dr. Walthers außereheliche Aktivitäten wirklich nicht von Belang. Was mich interessiert, ist der anonyme Anrufer und dessen Motiv. Hat er Dr. Walthers Geheimnisse absichtlich ausgeplaudert, um ihn in den Tod zu treiben? Warum? Sehen Sie zu, dass Sie das herausfinden.«

Schneider nickt zögernd, und ich beschließe, mich mit dieser verhaltenen Zustimmung zufriedenzugeben.

»Apropos anonym … da war doch noch ein Fall, eine Mail ohne Absender, in der jemand Carlo Cortone beschuldigt, Jasemina Brandelhuber getötet zu haben. Haben Sie dazu neue Erkenntnisse?«

»Nein. Frau Brandelhuber gilt als vermisst, der Verfasser der Mail konnte nicht festgestellt werden.« Der Kommissar räuspert sich. Offenbar schmeckt es ihm gar nicht, dass ich zielsicher die beiden Fälle herausgepickt habe, bei denen die Ermittlungsarbeit zu wünschen übrig lässt. Nun, daran wird er sich wohl gewöhnen müssen.

»Bleiben Sie da dran. Ich werde ohnehin beantragen, dass der Prozess gegen Carlo Cortone vertagt wird.«

»Wieso?«, fragt Schneider verdattert. »Der Mord an Tosh Silvers kann doch unabhängig vom Fall Jasemina Brandelhuber verhandelt werden. Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass Cortone Silvers erschossen hat.«

Nachdem Schneider nicht mehr ganz so bockig ist, verzichte ich gnädig darauf, ihm den Unterschied zwischen Indizien und Beweisen zu erklären. »Womöglich plädiert Cortones Verteidiger auf Leichenschändung«, sage ich stattdessen.

»Wie bitte?« Schneider starrt mich entgeistert an. »Silvers lag auf den Knien, die Hände mit Kabelbinder auf dem Rücken gefesselt, als er mit einem gezielten Schuss hingerichtet wurde. Das ist doch eindeutig.«

»Silvers hat auf eine Zyankalikapsel gebissen, bevor das Projektil in seinen Schädel eingedrungen ist«, wende ich ein, unterbinde jedoch eine weitere Diskussion zu dem Thema mit einer knappen Handbewegung. »Wir werden sehen. Auf jeden Fall muss ich mich mit der umfangreichen Aktenlage vertraut machen, bevor der Fall verhandelt wird. Wenn Cortone der Mörder ist, werde ich ihn nicht mit Totschlag davonkommen lassen.«

Das scheint Schneider wenigstens zu gefallen.

»Sehen Sie bitte zu, dass Sie inzwischen die anonymen Hinweisgeber auftreiben«, fahre ich fort. »Und treten Sie in Gottes Namen den Leuten von der Vermisstenabteilung auf die Füße – solange wir nicht wissen, ob Jasemina Brandelhuber überhaupt einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, können wir Cortone in dieser Angelegenheit gar nichts, egal was in dieser Mail behauptet wird.«

Der Kommissar nickt, steht ohne ein weiteres Wort auf und bückt sich nach der Akte. Eigentlich bin ich es ja, der bestimmt, wann eine Besprechung zu Ende ist. Aber das wird Schneider schon noch lernen.

»Da Sie gerade gehen, können Sie gleich den Stuhl vor meinem Tisch mitnehmen. Ich benötige ihn nicht. Wenn ich möchte, dass meine Besucher sich setzen, werde ich ihnen einen Platz am Besprechungstisch anbieten.«

Der Kommissar hält mitten in der Bewegung inne, seine Hand schwebt einen Augenblick über der Akte. »Arrogantes …«, flucht er leise, den Rest des Satzes verschluckt er klugerweise.

Aber es gefällt mir, dass es mir gelungen ist, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. »Natürlich bin ich ein arrogantes Arschloch«, sage ich spöttisch, als er die Mappe endlich aufgehoben hat. »Ich habe hart daran gearbeitet. Sie werden es lieben, wenn sich die Tatverdächtigen vor Gericht damit auseinandersetzen müssen. Der Haken ist leider, dass Sie sich auch damit arrangieren müssen, wenn möglich, ohne beleidigend zu werden.«

Schneider starrt mich kurz perplex an, doch dann grinst er breit. »Ich werde in Zukunft auf Ihre Befindlichkeiten Rücksicht nehmen«, verspricht er, legt die Ermittlungsakte auf den Tisch und klemmt sich tatsächlich dieses Monstrum von Besucherstuhl unter den Arm. »Willkommen in München, Herr Graf!« Dann marschiert er hinaus.

Ich seufze. Was habe ich erwartet? Natürlich hat Schneider sich über mich informiert und natürlich hat er als Erstes meinen Spitznamen herausgefunden. Wobei es Schlimmeres gäbe, und aus dem Mund eines Münchners klingt das ja fast wie ein Kompliment. Es besteht also durchaus Hoffnung, dass der Kommissar und ich in Zukunft gut zusammenarbeiten werden. Außerdem mag ich es irgendwie, dass er am Schluss ein bisschen frech geworden ist. Vielleicht hat er ja doch den nötigen Biss, um ein guter Ermittler zu sein?

Ich klappe meinen Laptop auf.

»Willkommen zu Hause«, sage ich leise zu mir selbst und mache mich an die Arbeit.

Vico - Il Conte

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