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Kapitel 10

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München-Giesing, 18. Oktober 2019, nachts

Ein leichter Nieselregen hat eingesetzt, und ich zittere. Nicht die Kälte und die Nässe lassen mich erschaudern. Ich habe das dünne Kleid gegen ein paar Leggings und einen Pulli getauscht, darüber trage ich den dicken Mantel. Den mit der Kapuze, den mein Meister für mich ausgesucht hat.

Doch heute wärmt mich das kuschelige Stück nicht. Die Kälte kommt von innen, von der Angst vor der Strafe, die mein Meister verhängen wird. Ich habe versagt. Der fremde Herr wollte mich nicht.

Es wundert mich nicht, dass er mich abgewiesen hat. Mein Meister wird nie müde, meine Unzulänglichkeiten aufzuzählen: zu groß, zu dünn, zu blass, zu empfindlich. Aber nicht nur das. Viel zu selten kann ich es ihm recht machen. Bin nicht das perfekte Spielzeug, das er verdient. Jeden Tag versuche ich, meinem Meister eine Freude zu bereiten. Ständig scheitere ich.

Doch dann brachte mein Meister mich zu IHM. ER sagte, dass ich meinem Meister einen großen Dienst erweisen würde, wenn ER mich ausleihen dürfte. ER wollte mich nicht für sich. Sondern für den Fremden mit der Maske. Dem würde ich gefallen.

Ich stimmte sofort zu. Endlich bekam ich die Chance, meinem Meister seine Güte zu vergelten.

ER befahl mir, mich von allen Männern fernzuhalten, während ich darauf wartete, dass der Fremde in den Salon käme. Unberührt und unschuldig solle ich aussehen. Dafür gab ER meinem Meister Geld, viel mehr, als ich je gesehen habe, und mein Meister schien zufrieden zu sein.

ER sagte mir auch, was ich dem Fremden über mich erzählen sollte, und ich machte es genau so. Dennoch wollte der mich nicht.

Aber der Unbekannte hat mich für die Anmaßung, mich ihm überhaupt anzubieten, nicht verspottet. Stattdessen hat er so getan, als sei er es, der unzulänglich sei. Dabei ist er so ein vornehmer Herr, viel zu gut für mich.

Nina, hat der Fremde mich genannt. Fast fiel mir mein Name nicht ein, als Lady Sonja mir empfahl, meinen Namen zu nennen, falls der Herr mich danach fragte. Bitch, sagt mein Meister zu mir, weil ich gar keinen eigenen Namen verdient habe. Doch als der Fremde Nina sagte, schien das nicht mehr zu stimmen. Weil es sich aus seinem Mund anhörte, als seien diese beiden langweiligen Silben eine bezaubernde Melodie.

Überhaupt hat er so wunderschöne Sachen gesagt. Dann der Kuss. Vanillakram. Mein Meister würde mich bestrafen, wenn ich mir einen Kuss wünschen würde – zu Recht. Ich habe mich nicht für derlei Dinge zu interessieren. Die Wünsche meines Meisters sind, was mich kümmern sollte. Ich bin dazu da, ihm zu gefallen, ihm zu dienen und von ihm benutzt zu werden. Aber jede Strafe, die mich für einen derartigen Wunsch ereilt hätte, wäre nichts im Vergleich zu der, die mich jetzt erwartet.

Denn ich habe keine Fotos. Fotos davon, wie der Fremde mich fesselt oder auspeitscht oder benutzt. ER wusste gar nicht, welche Wünsche der Unbekannte haben würde. Ich sollte gehorchen, egal was er von mir verlangen würde, die kleine Kamera in meiner Halskette aktivieren und Bilder machen. Aber einen Kuss kann ER nicht gemeint haben.

Doch das bringt mich auf eine Idee. Ich würde die Erinnerung an diese Begegnung gerne für mich behalten wie einen kleinen Schatz, an dem ich mich erfreuen kann, wenn mein Meister mich stundenlang in die winzige Strafkiste sperrt. Aber vielleicht wird ER mir ja gestatten, den fremden Herrn noch einmal anzusprechen, wenn ich ihm von dem Kuss erzähle. Denn der Unbekannte kann mich nicht völlig abstoßend finden, wenn er mich so küsst.

Wahrscheinlich weist er mich erneut ab. Doch möglicherweise küsst er mich zuvor ja noch mal. Sagt noch einmal so schöne Sachen. Danach könnte ich jede Strafe ertragen, die mein Meister sich ausdenkt, ganz bestimmt.

Ja, so mache ich es.

Der Regen wird stärker, und ich stehe vor der Adresse, die ER mir genannt hat. Hierhin soll ich kommen, wenn es mir gelungen ist, Kontakt zu dem Unbekannten aufzunehmen. Aber was ist das hier? Schmutzige große Scheiben, hinter denen die Dunkelheit lauert. Ein zerfetzter roter Teppich vor einer Eingangstür, die von zwei verdorrten Pflanzen in fleckigen Kübeln flankiert wird. Hier soll ER sein? Ich habe mich in der Adresse geirrt. Was jetzt? Mein Meister wird wissen, wo ER ist. Doch ich habe erneut bewiesen, wie unfähig ich bin. Nie und nimmer bekomme ich eine zweite Chance.

Ich lege meine zitternden Hände an die Tür und versuche, hineinzusehen, da ertönt ein Zischen. Ich zucke heftig zusammen, als über mir eine blaue Neonröhre in Form eines Papageis zum Leben erwacht. Stehe ich vor einer Zoohandlung?

Fast gleichzeitig gibt die Eingangstür nach und schwingt vor mir auf. Erschrocken schnappe ich nach Luft. Drinnen ist es stockdunkel. Nein, ganz weit hinten scheint ein Licht zu sein. Bin ich doch richtig?

Ängstlich verharre ich auf der Schwelle, als sich aus der Schwärze des Raumes eine scheußliche Gestalt herausschält. Groß und breit wie ein Schrank, massiger noch als mein Meister. Doch nicht deswegen entkommt mir ein entsetztes Keuchen. Sondern weil trotz der Dunkelheit unverkennbar ist, dass das Gesicht des Mannes furchtbar entstellt ist. Seine rechte Wange ist ein einziges runzeliges Narbengewebe, das rechte Ohr und die Haare auf dieser Seite fehlen komplett. Der Mann muss einen schrecklichen Unfall gehabt haben. Dennoch schaffe ich es nicht, Mitleid zu empfinden, zu abstoßend sieht er aus. Ich taumle einen Schritt zurück.

Der Mann schnaubt nur unwillig und winkt mich wortlos herein. Ich wage es nicht, mich zu widersetzen. Das ist genau so ein Mann, den ER in seinem Gefolge haben würde. Mit weichen Knien mache ich ein paar Schritte in den Raum hinein. Bleibe stehen und versuche, irgendwas zu erkennen.

Die Luft ist abgestanden und schal. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich stehe in einem riesigen leeren Raum, einer Halle nicht unähnlich. An einer Wand stapeln sich Möbelstücke, bedeckt von einer Plastikfolie. Das Licht scheint kilometerweit entfernt zu sein. Ich mache zwei zögernde Schritte in diese Richtung, als hinter mir die Eingangstür mit einem Knall zufällt. Ich fahre zusammen, mein Herz setzt einen Moment aus, bevor es wie verrückt in meiner Brust hämmert. Nur mühsam kann ich ein Zittern unterdrücken. Das ist alles so unheimlich hier.

Der furchterregende Mann ist jetzt hinter mir, ich höre seinen schweren Atem, rieche kalten Zigarettenrauch und Schweiß. Angetrieben von meinem schweigenden Verfolger, stolpere ich vorwärts.

Unsere Schritte hallen unheimlich durch den Raum, während wir immer weiter nach hinten gehen. Außer dem Schnaufen in meinem Rücken höre ich jetzt auch die zarten Klänge eines Klaviers, untermalt von dem Plätschern eines Wasserfalls. Je näher ich dem Licht komme, desto deutlicher riecht es nach Bratfett und Knoblauch. Mehrere ausladende Kübelpflanzen versperren mir den Weg, ich schlüpfe vorbei, und dann kann ich endlich sehen, worauf ich zugelaufen bin.

Vor mir steht ein großer, runder Tisch, stilvoll eingedeckt mit einer schweren, bodenlangen weißen Tischdecke, einem Kerzenleuchter und langstieligen Weingläsern. Ein Mann sitzt dort, vor sich einen Teller mit vor Öl triefenden Riesengarnelen. Ohne das reichlich vorhandene Silberbesteck zu beachten, grabscht der Mann sich eine mit den Fingern und schiebt sie sich in den Mund.

ER.

Ich schlucke.

»Nicht so schüchtern, troietta«, spottet ER mit vollem Mund. »Ist der Hurensohn endlich aufgetaucht, ja? Was hast du denn Schönes für mich?«

Doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich habe IHN zuvor schon gefürchtet, doch in dieser seltsamen Umgebung ist es noch schlimmer.

»Komm schon, steh da nicht so ungemütlich herum. Timo, nimm ihr den Mantel ab.«

Der grausige Mann reißt mir den Mantel förmlich von den Schultern, kaum dass ich die Knöpfe geöffnet habe. Ohne das dicke Kleidungsstück fühle ich mich noch schutzloser. Ich verschränke die Arme vor der Brust.

»Nun?«, fragt ER.

Ich öffne den Mund, doch es kommt einfach kein Ton heraus. Grobe Hände packen meine Schultern, schütteln mich kräftig.

»Aber, aber, Timo! Du erschreckst sie ja«, sagt ER sanft, um mich dann anzufahren: »Rede endlich, stronza

Stammelnd versuche ich zu erklären, was geschehen ist. ER verengt seine Augen zu kleinen Schlitzen. Sieht immer wütender aus.

»Bestimmt wird er das nächste Mal …«, quäke ich mit versagender Stimme.

»E basta!«, unterbricht ER mich harsch. »Vergiss es. Du hattest deine Chance. Ich warte nicht noch mal tagelang, bis D’Vergy geruht, den Salon erneut aufzusuchen. Dieser Schwächling wird so oder so bald nach meiner Pfeife tanzen.«

D’Vergy? Ist das der Name des Fremden? »Aber … er hat mich geküsst …«

»Oh, wie romantisch!«, höhnt ER. »Hast du dein kleines, dummes Herz an D’Vergy verloren, ja? Jetzt pass mal gut auf: Dieser codardo hat dich nicht etwa geküsst, weil er dich so süß findet. Sondern weil er ein Weichei ist, ein Schlappschwanz, der nicht mal genug Eier in der Hose hat, um dir zu sagen, dass du dich verpissen sollst.«

Schlimmer als jede Ohrfeige fühlen sich die Worte an. Doch dann sehe ich den Fremden wieder vor mir, wie er sich zu mir herunterbeugt, wie er mich mit seinen dunklen Augen intensiv ansieht. Da begreife ich etwas: ER irrt sich! D’Vergy ist nicht schwach, sondern so stark und souverän, dass er sich nichts vergibt, wenn er jemanden wie mich küsst. Aber das muss ER nicht wissen. Dass ich nichts sage, ist mein Dankeschön an den Fremden.

Ich spüre so etwas wie einen kleinen Triumph, doch den treiben mir die nächsten Worte, die ER sagt, gleich wieder aus.

»Tja, was mache ich denn jetzt mit dir, troietta? Da habe ich dich deinem Meister abgekauft, und du nützt mir gar nichts …«

Was? Mein Meister nimmt mich nicht zurück?

ER lacht verächtlich.

»Wusstest du gar nicht, eh? Timo, kannst du was mit ihr anfangen? Ich schenke sie dir.«

Der Mann hinter mir grunzt nur. Steht plötzlich so nah bei mir, dass ich seinen warmen, übel riechenden Atem spüren kann. Ich bin wie erstarrt, wehre mich auch dann nicht, als er mich mit einem dicht behaarten Arm an seinen massigen Körper presst, während er eine Hand in meine Leggings zwängt, unsanft meinen Hintern knetet. Dicke, schwitzige Finger auf meiner Haut. Igitt. Mein ganzer Körper verkrampft sich, ich bin unfähig, auch nur ein Wort gegen diese grobe Aktion zu sagen. Bin vollkommen erstarrt vor Schock und Angst.

»Langsam, langsam, Timo«, lacht ER. »Gib mir die Halskette mit der Kamera, die war teuer.«

Heftig schnaufend und schmatzend fummelt Timo an dem Verschluss herum, während ich immer noch wie versteinert ausharre und alles mit mir machen lasse. Mein Kopf weigert sich, zu realisieren, was hier geschieht. Gleich geschehen wird. Ich müsste hier weg. Ganz schnell hier weg. Doch ich stehe da wie eine Salzsäule. Schaffe es nicht mal, den kleinen Zeh zu bewegen.

Erneut lacht ER dreckig, als Timo es endlich geschafft hat, mir die Kette abzunehmen. Kurz erhasche ich einen Blick auf die klobige Gestalt Timos und das schrecklich entstellte Gesicht, als der IHM respektvoll die Kette reicht, dann ist der bullige Mann schon wieder hinter mir. Drängt mich an den Tisch.

»Nein … bitte …«, schaffe ich es, zu flüstern, doch da drückt Timo mich schon mit dem Oberkörper brutal auf den Tisch.

»… bitte …«, flehe ich.

Als ob es irgendwen interessieren würde, was ich möchte.

Grunzend macht Timo sich hinter mir an irgendwas zu schaffen. Er hält mich nicht einmal fest, doch immer noch bin ich wie gelähmt, kann unmöglich fliehen. ER grinst auf mich herunter.

Bestimmt ist es sowieso besser, wenn ich einfach stillhalte, versuche ich mir einzureden. Mir würde es ja doch nicht gelingen, ihnen zu entkommen. Und wenn Timo mir hinterherlaufen muss, wird alles nur noch viel schlimmer. Ich lasse es geschehen, dann wird es schnell vorbei sein. Am liebsten würde ich die Augen schließen und die Realität ausblenden, aber es geht nicht, solange ER mich mit diesem bohrenden Blick ansieht.

Du schaffst das, versuche ich mir einzureden, während mir die ersten Tränen unaufhaltsam über die Wangen rinnen. Nur ein bisschen durchhalten, dann kann ich abhauen, aus dieser Stadt verschwinden. Ja, genau, ich verschwinde einfach und vergesse, was hier und heute passiert. Ich finde einen neuen Meister, so einen wie D’Vergy, einen guten Mann. Bestimmt wird es nicht sehr lange dauern.

Die Musik schwillt an, wird lauter, zu dem Klavier gesellen sich Blasinstrumente.

ER nimmt sich derweil eine weitere Garnele. Beißt genüsslich hinein. Etwas Öl läuft ihm über das Kinn, hinterlässt eine glänzende Spur auf seiner schlecht rasierten Haut, während er schmatzend und mit leicht geöffnetem Mund zu kauen beginnt. Timos Hände scheinen überall zu sein, befingern mich, betatschen mich, widerlich und klebrig. Ich will das nicht. Aber was kann ich schon tun?

»Na los, fang an!«, feuert ER Timo schmatzend an, nimmt mit seinen fettigen Fingern ein Weinglas zur Hand und trinkt einen großen Schluck. Jetzt packt Timo mein Haar, reißt mir den Kopf nach hinten. Seltsame gurgelnde Laute kommen aus meinem Mund, ich bin gezwungen, IHM direkt ins Gesicht zu sehen. ER stellt lässig sein Glas beiseite und verzieht höhnisch den Mund, während Timo meinen Kopf urplötzlich wieder freigibt.

Meine Stirn knallt auf das blütenweiße, gestärkte Tischtuch. Lavendel, denke ich. Es riecht nach Lavendel. Wie kann es an einem Ort voller Qual und Demütigung so sauber riechen? Das ist unnatürlich, abstoßend, der Geruch ebenso wie die Tatsache, dass ich ihn überhaupt wahrnehme.

Ich ringe nach Luft, spüre, wie mir schwindelig wird, mein Blickfeld schrumpft und gnädige Schwärze umfängt mich.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich bäuchlings auf dem Tisch. Die Musik spielt immer noch, fröhliche Klänge, die überhaupt nicht zu den Schmerzen passen, die meinen Körper nun unkontrolliert zittern lassen.

Ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen, wünsche mir nichts mehr, als dass die Erde mich verschlingt, während ER mich mit dem gleichen, hämischen Blick mustert wie zuvor.

»Geil, eh?“, fragt er mich spöttisch, dann wendet er sich an den Mann, der immer noch hinter mir sein muss. Was zum Teufel ist in den letzten Minuten passiert? Was hat Timo mit mir gemacht? Ich will es eigentlich gar nicht wissen, doch SEINE nächsten Worte lassen leider keine Fragen offen:

»Timo, Timo, wann wirst du endlich daran denken, ein Kondom zu benutzen«, tadelt ER seinen Mitarbeiter. »Was für eine Sauerei! Hier, mach dich sauber.« ER wirft eine der schicken, weißen Stoffservietten in Timos Richtung.

Ich bin auch schmutzig. So schmutzig. Innen und außen. Ich will weg. Nach Hause. Wo ist zu Hause? Ich werde es nie erreichen. Ich bin zu schwach, um auch nur den Kopf zu heben.

Eine blutige, dreckige Serviette landet direkt vor meinen Augen auf dem Tisch.

»Timo«, nörgelt ER. »Also wirklich. Dein Benehmen lässt zu wünschen übrig. Schau nur, sie weint, weil du es ihr nicht ordentlich besorgt hast!«

Timo faucht verärgert, dann packt er mich am Nacken, reißt meinen Kopf hoch und schmettert mein Gesicht auf den Tisch. Ein unschönes Knacken, als die Nase bricht. Mir wird erneut schwarz vor Augen, ehe der Schmerz in meinem Gesicht mich wieder in die scheußliche Realität zurückholt. Ich schmecke Blut.

»Timo! Was bist du nur für ein ungezogener Junge. Blutflecken gehen so schlecht raus. Was mache ich nur mit dir? Aber du wirst es später wiedergutmachen, eh?«

»Si signore«, sagt Timo mit dünner Stimme, die ersten Worte, die ich von ihm höre.

»Ach, Timo, schau nicht so missmutig drein. Du weißt doch, dass ich niemand sonst bemühen kann«, sagt ER heuchlerisch. »Und du tust es doch gern, eh? Aber genug davon! Ich will, dass sie unser neues Schmuckstück kennenlernt. Avanati!«

Timo zerrt mich hoch, schleift mich noch weiter nach hinten. Ich hänge willenlos in seinen Armen, lasse mich einfach mitziehen. Jeder Schritt ist eine Qual, facht die Pein in meinem Inneren immer neu an. Dann stehen wir mit einem Mal vor einer protzigen Wasserwand. Das Plätschern gehört gar nicht zur Musik. Es kommt von diesem Wasserfall, sicher zwei oder drei Meter lang, der am Boden von einem breiten, dunklen Becken aufgefangen wird. Er ist schön. Aber was soll ich hier?

Das wird mir klar, als Timo meinen Nacken packt und mein Gesicht in Richtung Wasserbecken drückt. Panik erfasst mich, mein Körper scheint die letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Ich schlage um mich, doch Timos starken Armen habe ich nichts entgegenzusetzen. Ich schreie, dann tunkt er meinen Kopf auch schon in das eiskalte Nass. Wasser dringt in meine Lunge. Ich ersticke! Mein Herz wummert nur noch hilflos in der Brust. Fieberhaft rudere ich mit den Armen, doch ich merke, wie mich die Kraft verlässt.

Dann packt mich jemand an den Haaren, reißt mich zurück und lässt mich achtlos neben das Becken fallen. Ich japse, huste, würge, versuche krampfhaft Luft in meine schmerzende Lunge zu bekommen. Meine Brust droht zu zerreißen, bis es mir endlich gelingt, einen Atemzug zu tun.

Ich werfe den Kopf zur Seite, als ich sehe, dass Timo erneut nach mir greift. Ich will irgendetwas tun, aber ich bin zu schwach. Nicht einmal meine Arme kann ich zur Verteidigung heben. Erbarmungslos packt er mich schon wieder. Die schwache Gegenwehr scheint er nicht mal zu bemerken. Drückt mein Gesicht aufs Neue unter Wasser. Nein!

Noch unbarmherziger ist er, als er mich abermals herausholt. Timo schüttelt mich nur kurz, ich kotze einen Schwall Wasser auf die Fliesen vor dem Becken, dann wird mein Kopf schon wieder unter die Wasseroberfläche gepresst.

Ich wehre mich nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Es ist aus. Ich will sterben. Ich kann nicht mehr kämpfen.

Doch ein weiteres Mal werde ich aus dem Wasser gezogen, lande rücklings auf dem nassen Boden. ER ist nun auch da, zusammen mit Timo starrt er auf mich herunter, als sei ich ein seltenes Insekt unter einem Mikroskop.

Lasst mich doch! Was wollen sie denn noch? Tot oder lebendig. Macht das überhaupt einen Unterschied? Ich will nicht sterben. Und doch wünschte ich, es wäre endlich so weit. Ich halte diese Folter nicht mehr aus. Warum tun sie es nicht einfach?

Jäh fällt es mir ein. Gnade. Ich muss um Gnade betteln! Wie bei meinem Meister. Dann werden sie von mir ab-lassen. Nur, wie ging das? Ich muss etwas machen … Füße. Nein. Schuhe! Ich muss IHM die Schuhe sauber lecken. Der Meister liebt das. ER wird es auch wollen.

Verzweifelt versuche ich, mich aufzurichten, doch Arme und Beine wollen mir einfach nicht gehorchen. Quälend langsam rolle ich mich auf die Seite, höre, wie ER gehässig über meine Mühe lacht. Aber ER ist nicht weit weg, ich kann es schaffen. Schon geraten seine glänzenden Lederslipper in mein Blickfeld, aber dann bewegt er sich ein Stück von mir weg. Will es mir nicht zu leicht machen. Ich schiebe mich weiter über den nassen Boden.

»Sieh nur, Timo, du hast dein Spielzeug schon kaputt gemacht.«

Nicht rausbringen lassen. Gleich bin ich da. Was wollte ich mit den Schuhen? Küssen. Nein. Lecken!

»Aber etwas könntest du doch noch für mich tun, troietta

Ich halte inne. Was? Irgendwie schaffe ich es, meinen Kopf zu heben.

»Gnade!«, krächze ich.

»Du könntest D’Vergy eine Botschaft überbringen«, sagt ER ungerührt.

Ja, ja, ja! Was immer ER will. Ich kann auch noch etwas über den Fremden erzählen. Wenn sie mich dann nur in Ruhe lassen. Nur … was war es? »Ja«, wimmere ich, und dann schaffe ich es endlich, lecke über die Sohlen seiner Schuhe. »Danke, danke, danke.«

»Timo.« Ganz kalt klingt ER jetzt. Aber wie lautet denn die Botschaft? Ich muss doch wissen, welche Nachricht ich überbringen soll.

Doch da hat Timo mich schon wieder gepackt, zerrt mich zurück zu dem dunklen Wasserbecken. Aber …?

Mein Körper bockt herum, ahnt, worauf das hinausläuft, versucht ein letztes Mal zu verhindern, was nun passiert, doch gnadenlos wird mein Kopf wieder unter Wasser gepresst. Hilfe! Doch es ist sinnlos. Timo ist viel zu stark. Meine Beine zucken. Meine Arme rudern haltlos durch die Luft.

Vergeblich.

Alles wird schwarz.

Dunkel.

Still.

Totenstill.

Und kalt.

Eiskalt.

Oder?

Da ist ein Licht. Ein heller, warmer Stern. Jemand ruft.

Nina.

Glockenhelle Stimmen sind das. Ein ganzer Chor.

Komm, Nina!

Ich drehe mich ein letztes Mal um. Ich schwebe! Ganz hoch oben schwebe ich schon. Unter mir steht ein Mann, eine Hand auf seine Hüfte gestützt, eine Faust reckt er triumphierend in die Luft. Da ist noch ein Mann. Kniet vor dem Siegertyp, presst das verunstaltete Gesicht an seinen Schoß. Neben den beiden eine Frau, von der Hüfte ab nackt und blutverschmiert, ihr Kopf liegt in einem dunklen Becken, das blonde Haar treibt weit aufgefächert auf dem Wasser. Ein scheußliches Bild. Irgendetwas ist auch falsch an dem Bild, doch ich komme nicht darauf, was es ist. Eine Hand der Frau zuckt noch. Ich schüttle bedauernd den Kopf. Ich kann ihr nicht helfen. Will ihr nicht helfen. Ich kann nicht mehr. Ich wende mich ab.

Nina!, ruft der Chor und langsam gehe ich auf den hellen Stern zu.

Vico - Il Conte

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