Читать книгу Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen - Ludwig Bechstein, Ludwig Bechstein - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеLudwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Mit sechzehn Holzschnitten nach Zeichnungen
von A. Ehrhardt
Vorwort
Et prodesse volunt et delectare poetae
Dem deutschen Volke übergebe ich dieses mit voller
Liebe geschriebene Buch als ein treues Vermächtnis,
dem deutschen Volke, und zumal seiner reiferen Jugend.
Möge des Buches Inhalt nützen und erfreuen,
anregen und beleben, für das Heimische Neigung
wecken und wach erhalten helfen!
Die Sage ist eine fromme Erhalterin und Nährerin
der Heimat- und Vaterlandsliebe, ein ureigenstes Gut
des Volkes; sie treu zu pflegen ist den zu solcher Pflege
Berufenen eine heilige Pflicht. Es kann zwar nicht
fehlen, daß auch die Sage, wie alles Gute und Schöne,
ihre Widersacher, Verspotter und Verächter hat, es
hat sich aber alle Verhöhnung und Nichtanerkennung
tiefgewurzelter Eigentümlichkeiten einer Nation stets
als haltlos und bestandlos erwiesen.
Eine reichhaltige Sammlung deutscher Sagen wird
hier dargeboten, wie noch keine gleiche vorhanden,
eine vollständige nicht. Ein vollständiges deutsches
Sagenbuch ist so wenig herzustellen als ein einiges
deutsches Reich; aber wer nicht das Unmögliche will,
kann bei gutem Wollen, bei Geschick und Ausdauer
viel Nützliches schaffen und Ersprießliches zu Tage
fördern. Ich mußte mich bei dem vorliegenden Buche,
je mehr die Sagenfülle quoll und zuströmte, um so
mehr beschränken. Im Hinblick auf die vorhandene
Anzahl deutscher Sagen und die Zahl der hier aufgenommenen
könnte ich sagen, daß ich nur einen Zweig
des deutschen Sagenbaumes abgeerntet, wenn nicht
jeder Vergleich hinkte.
Die erwähnte überreich zuquellende Sagenfülle nötigte
denn auch, so ungern es geschah, auf den großen
Sagenreichtum des österreichischen Kaiserstaates vorläufig
zu verzichten. Da ich aber bereits in früheren
Jahren schon zu einem österreichischen Sagenschatz,
dessen Erscheinen indes ungünstige Verhältnisse bald
einstellten, zahlreiches Material gesammelt habe, so
bleibt vorbehalten, mit einer Österreich umfassenden
Sammlung hervorzutreten, sobald der Erfolg der vorliegenden
dazu ermutigt.
Es sei vergönnt, über das Sagensammeln hier ein
Wort zu sagen; leider gibt sich an dieses gar manche
unberufene Hand, die jener Hand von Ährenlesern
gleicht, welche aus den Garben rauft, die zu Mandeln
gehäuft noch auf dem Acker stehen, und da erntet, wo
sie nicht gesäet hat. – Wir alle, die wir dieses Gebiet
anbauen, können nicht der Schriftquellen, nicht der
Bücher entraten, aber die Quellenangabe beschönigt
und rechtfertigt noch keineswegs den offenbaren
Nachdruck, der von vielen literarischen Langfingerern
behufs sogenannter Auswahlen und Mustersammlungen
ausgeübt wird, die sorglos und mühelos anderer
Fleiß und Talent und ihrer Verleger Kosten ausbeuten.
Der Sagensammler muß sich neben seinen
Schriftquellen doch auch durch Gebirg und Wald und
Flachland selbst in etwas bemüht, irgend einige Sagenblüten
gefunden, einige schöne Steine zum großen
deutschen Sagentempelbau selbst herbeigetragen
haben, irgend etwas von ihm Neugefundenes vorzeigen,
sonst ist er ein Tropf und nicht ebenbürtig, mitzuringen
auf dieser olympischen Arena. –
Auf mein eignes Leben warf schon frühzeitig der
Sage süßer wunderbarer Reiz seine Morgenstrahlen.
Als Jüngling wanderte ich in einem sagenreichen Gau
Thüringens umher und freute mich am Duft der schönen
Wunderblume Poesie. Ilm und Gera, die Fluren
von Arnstadt und Erfurt, der Drei Gleichen nachbarliche
Burgen und sagendurchklungene Haine boten in
Fülle ihren Stoff, doch lange nachher lernte ich der
Sagen Geheimnis, ihren ganzen Zauber, erst recht erkennen,
und lernte daran niemals aus. Ich sammelte
anfangs mehr ins Gemüt als in Bücher, versuchte nur
schüchtern, die Sage in poetisches Gewand zu kleiden,
und stand später davon ab, als ich durchfühlen
lernte, daß der Dichter ihr nur selten wohl tut, wenn er
bemüht ist, sie zu schmücken, obschon er dies letztere
zu tun vollberechtigt ist. In den Sagensammlungen
der Länder Thüringen und Franken, welche zwar Beifall,
aber bis jetzt noch nicht die längst vorbereiteten
Fortsetzungen fanden, betrat ich den von den Brüdern
Grimm vorgezeichneten Weg schlichter einfacher
Darstellung und Wiedergabe, sowohl des Chronikenstoffes
als jenes dem Volksmund selbst entnommenen.
Ich bin den Sagen viel und lange nachgegangen
und nachgezogen; im Thüringerwalde kenne ich so
ziemlich jeden Weg und Steg; ich überwanderte Harz
und Riesengebirge, Rhön und Spessart; ich stand auf
dem Aachener, auf dem Kölner Dom und auf dem
Straßburger Münster; des Neckars, des Lech, des
Rhein- und Mainstromes wie der Donau Wellen hab'
ich fließen sehen. Ich hörte den Bach der Reismühle
rauschen, der von Karl des Großen Geburt erzählt,
und umwandelte des Untersbergs und des Watzmann
sagenreiche Hochgipfel. Vielleicht sieht mancher diesem
Buche die Quelle eigner Wahrnehmung an, die
am Ende noch mehr wert ist als die Quelle trockner
Schriftüberlieferung. Letztere nun bei jeder Sage anzuführen,
erschien mir für meinen Zweck dieses Mal
nicht nötig; wer die Quellen für den wissenschaftlichen
Zweck braucht und sucht, findet sie bereits in
Grimms und vielen andern Sammlungen, und da, wo
ich Selbstgefundenes mitgeteilt, jedesmal durch ein
»mündlich« den Leser mit der Nase darauf zu stoßen,
daß er meinem Findeglück diese Sage verdanke, dürf-
te wohl allzu eitel erscheinen. –
Bei dem Umfange, der dieser Sammlung zugedacht
wurde, und der sich noch während des Drucks über
das anfangs gesetzte Ziel erweiterte, galt es zunächst,
sich klar zu werden über Anlage und Gliederung, und
nach reiflichem Überlegen, ob chronologisch nach
Mythe und Geschichte, ob nach Ländern oder Stromgebieten,
nach Gebirgszügen usw. die Sammlung anzulegen
sei – wurde sich für die Form einer idealen
Sagen-Wanderung entschieden, die keinen Schlagbaum
und keine politische Grenze kennt, keine Paßkarte
braucht, nötigenfalls gleich Eppela von Gailing
einen tüchtigen Sprung nicht scheut und von einem
Völkergebiet in das andere schreitet, das jedem dieser
Gebiete hauptsächlichst Eigene vor Augen bringt.
Enge Landesgrenzen beachtete ich, wie der Leser
sieht, auf dieser Wanderung keinesweges. Die Sage
ist patriotischer wie die Politik; sie gibt nichts her von
Deutschland, sie läßt von ihrem heimischen Gebiet
nicht rupfen und zupfen im Süden, Westen, Norden
und Osten; sie behauptet und verteidigt, was einmal
deutsch ist, und hält es eisern fest.
Die Wanderung beginnt am Ursprung des Rheins,
folgt des letzteren Strömung durch das Schweizerland,
streift in das Elsaß, berührt die Pfalz, die Wetterau,
das Moselland, Lothringen und Luxemburg;
steigt zum Niederrhein und Niederland hinab bis
Friesland, grüßt Helgoland und das alte Dithmarschen,
durchgeht Schleswig und Holstein, Mecklenburg
und Pommern, West- und Ostpreußen mit ihren
Ostsee- und Bernsteinküsten, und dann läßt sich der
Wanderer auf den Flügeln der Kobolde von der russischen
Grenze schnell hinweg in das Lüneburger Land
tragen.
Auf Westfalens roter Erde durchschreitet und
durchkreuzt er ein sagenreiches Gebiet, bis er abermals
den Schritt ostwärts lenkt, um die Marken zu
durchirren. Von da zieht es ihn wieder zurück nach
dem westfälisch-hessischen Boden, nach des Harzwalds
Bergen und Burgen, nach des Kyffhäusers Gipfel.
Dann aber lenkt sich der Schritt in das Thüringerland,
der Blick in Thüringens sagenreiche Frühzeit,
auf seine gefeiten Hochgipfel, seine von Sagenwundern
durchrauschten Wälder, seine Klostertrümmer
und Geisterschlösser. Das nachbarliche Vogtland erschließt
seine Welt voll mythischen Zaubers, und
Gera, Ilm und Saale führen zu dem thüringischen
Flachland, das an Sachsen angrenzt. Die sächsischen
Ebenen gewähren ihre Ausbeute, welche, sobald erstere
verlassen werden, das Erzgebirge wie das Riesengebirge
in noch reicherer Mannigfaltigkeit erschließen.
Bis in des deutschen Böhmens Herz, die uralte
Praga, erstreckt sich die Wanderung und wendet
dann, um, vom Fichtelgebirge niedersteigend, fränkischem
Boden zu nahen, dem Laufe der Werra durch
heimisches Gebiet bis wiederum auf hessisches zu
folgen, vom Hessenlande aus das Rhöngebirge zu besteigen
und von diesem herab Mainstrom und
Spessartwald ab und auf zu befahren. Von Bamberg
nach Nürnberg läßt sich schnell gelangen, im Fluge
ist Regensburg erreicht, zu dessen östlichem Stromgelände
der Böhmerwald sich niedersenkt. Durch des
Bayerlandes Gauen mitten hindurch geht es stracks
nach Schwaben und durch Schwaben noch einmal
westlich bis zur Pfalz und nach Baden, wo die letzte
Umkehr genommen wird, um durch Südschwaben und
Südbayern nach den Ufern des Lech und der Isar zu
gelangen, von da zum Hochland emporzusteigen und
vom südlichsten Endpunkt, wie beim Beginn auf Alpenhöhen,
in die steinernen Meereswogen Österreichs
hinüber zu grüßen: Auf Wiedersehen! –
Auf dieser Wanderung nahm ich gern gründliche
und gediegene Sagensammler zu freundlichen Geleitsmännern,
deren Namen ich nur zu nennen brauche,
um der Aufzählung von Büchertiteln überhoben zu
sein. Voran stehen mit vollem Recht die Brüder J.
und W. Grimm; es folgen K. Simrock und A. Stöber
für Rhein und Elsaß, J.W. Wolf für die Niederlande,
K. Müllenhoff für Schleswig-Holstein und Lauenburg,
J.W.A.v. Tettau und J.D.H. Temme für Ost-
und Westpreußen und Litauen, J.D.H. Temme und A.
Kuhn auch für die Marken. Wo ich selbst am besten
Bescheid wußte, bedurft' ich keiner Führer. Für
Baden sorgte treulichst B. Baader, für Schwaben G.
Schwab, und nach ihm E. Meyer, für Bayern A.
Schöppner, letzterer nur mit zu vielem Ballast von
Balladen und Romanzen, die an ihrem Ort wohl erfreuen
mögen, und auch in ausschließlich metrischen
Sammlungen, wie die allgemeindeutschen A. Rothnagels,
H. Günthers, A. Kaufmanns für Franken u.a. gut
beisammen stehen, aber in Sagensammlungen wie die
vorliegende nicht gehören. Daß neben den genannten
noch viele andere Werke benutzt werden mußten, Provinzsagensammlungen,
Chroniken, Topographien u.
dgl., versteht sich von selbst. Auch dem vogtländischen
altertumsforschenden Vereine zu Hohenleuben
verdanke ich schätzbare Beiträge.
Keinen einzigen Gewährsmann habe ich geradezu
abgeschrieben, weder die neuen, noch die alten, denn
das erachte ich für eine gar geringe Kunst. Kinderleicht
ist es, ein Buch zu füllen, wenn man wörtlich
abdrucken läßt, was andere bereits drucken ließen.
Nur wo ich Sagen in Dialekten in das Hochdeutsche
zu übertragen hatte, übertrug ich meistens treu, um
ihre Spitzen nicht abzustumpfen; außerdem habe ich
jede Sage zu meinem Eigentum gemacht und sie nach
meiner Eigentümlichkeit wieder neu erzählt; nur aus
eignen, früher von mir selbst veröffentlichten Sagensammlungen
nahm ich einzelne wörtlich wieder auf,
und auch diese nicht ohne Feile.
Ob ich den rechten Ton traf, wird sich zeigen. Einfachheit
im Ton der Erzählung ist beim Wiedergeben
der Sagen unerläßliche Bedingnis; keine novellistische,
romanhafte Verwässerung, keine blümelnde
Schreibweise steht der Behandlung der Sagen an, wo
diese Selbstzweck ist – wohl aber darf der Erzählungston
wechseln je nach dem Stoff, ja selbst nach der
Zeit, der dieser Stoff angehört; er darf streng, herb
und derb, romantisch, lustig, kernhaft, nicht minder
idyllisch, rührend und erschütternd sein. Der Sagenerzähler
muß wissen, welche Tonart er anzuschlagen
habe; eine nach vorgefaßter Meinung bestimmte von
ihm zu fordern, dazu ist keine Berechtigung vorhanden.
Über einen Leisten läßt sich nicht alles schlagen.
Die Sagen können so wenig eines Schriftstiles sein
wie Häuser und Kirchen eines Baustiles. Das Einerlei
ermüdet, und leicht wird ein frischer Geist des trockenen
Tones satt. Viele Sagen sind so durch und durch
voll Humor, daß ernste Erzählungsweise sie töten
hieße – darum ward zum öftern die heitere vorgezogen.
Metrisch bearbeitete Sagen in Prosa aufzulösen
trug ich die größte Scheu und habe es nur einigemal
getan; einmal beim alten Tannhäuserlied, dann bei
Nr. 81, Der wilde Jäger, nach Bürgers Gedicht, weil
dessen Ursprung ausschließlich in der bezeichneten
Gegend zu suchen ist, bei Nr. 174, Die Schlacht auf
dem Tausendteufelsdamme, nach einem Gedicht von
Th. Fontane, und endlich bei Nr. 966, Eines Vaterunsers
Wert, nach einem Gedicht von Th. Holscher (bei
Schöppner), weil mir beide letztere Stoffe ausnehmend
wohl gefielen, und namentlich auch die poetische
Behandlung.
Manche Sage, die ich allzudürftig auffand, konnte
ich erweitern, aus Kenntnis ihrer Örtlichkeit oder aus
andern schriftlichen und mündlichen Quellen, manche
andere mußte ich kürzen und auf das rechte Maß zurückführen.
Viele Sammlungen, ich will nur K. Geibels Rheinsagen
und Lübecks Volkssagen von H. Asmus nennen,
waren wenig zu benutzen, weil das meiste darin
zu eigenmächtig ausgeschmückt, fast novellistisch erweitert
ist. Vornehmlich galt es auch, die spät erst gemachte
Sage links liegen zu lassen, welche die Reisehandbücher,
besonders die den Rhein betreffenden, so
häufig bieten.
Außerdem fand ich noch mancherlei Beschränkung
geboten. Die zahlreichen Sagen von geraubten Hostien,
geschlachteten Christenkindern und dergleichen
durch Juden habe ich mit Absicht nicht aufgenommen.
Wenn sie auch nicht alten Haß nähren helfen, so
verletzen sie doch und widerstreiten so gleichsehr
dem christlichen wie dem ethischen Prinzip.
Dieses Sagenbuch soll im besten Sinne ein Volksbuch
sein und werden, daher ist die Fassung keine altdeutsch-
mythologisch-gelehrte, um so mehr ist dennoch
auf das hochwichtige mythologische Element in
den deutschen Volkssagen mit allem Fleiße Rücksicht
genommen worden, wie es noch im Bewußtsein des
Volkes lebendig ist. Was aber dem deutschen Volksbewußtsein
in der Gegenwart, ja selbst dem deutschen
Lande allzufern liegt, wie die Stammsagen von Ostund
Westgoten, Vandalen, Hunnen, Longobarden,
Herulern, Gepiden usw., das habe ich hier unberücksichtigt
gelassen.
Sparsam war ich mit Absicht in Aufnahme mythischer
Heldensage, die in alt- und mittelhochdeutschen
Gedichten gefeiert wird; auch sie ist noch immer nicht
klar in das Volksbewußtsein getreten, die Literatur
und die Schuldoktrin haben sie noch nicht mit dem
Leben der Gegenwart vermittelt, und besonders zeigt
letztere zu solcher Vermittelung noch keine rechte
Neigung. Ebenso sparsam war ich in Aufnahme der
Heiligensage (Legende) und endlich in der Gespenster-
und Hexensage, die sich allenden wiederholt.
Die letztere namentlich hat J.W. Wolf in seinen Niederländischen
Sagen mit wahrer Vorliebe behandelt.
Trefflich ist auch dessen Sammlung deutscher Mär-
chen und Sagen, Leipzig 1845, insonderheit für Niederdeutschland.
In gleicher Weise sammelte E. Meyer
für Schwaben auf das fleißigste und dankwerteste,
und es konnte seine Sammlung vorzugsweise für das
mythologische Gebiet in Schwaben der meinigen zur
Benutzung dienen.
Wenn bei einigen Stoffen das Gebiet der Sage fast
verlassen wurde, so geschah dies einesteils, um auch
die Übergänge anzudeuten, wo Märchen und Sage
sich begegnen und geschwisterlich umschlingen, so
bei Nr. 333, Die Spinnerin im Mond, bei Nr. 385,
Die Zwergensage, mit der auch im Kindermärchen
vorkommenden Namensauskundschaftung, und bei einigen
andern, wo die märchenhafte Färbung vorwaltet,
andernteils aus andern bestimmten Gründen. So
war bei Nr. 470, Das Mysterium, daran gelegen, doch
endlich einmal dies fernliegende dramatische Rätsel,
diese großartigste deutsche Opera seria alter Zeit,
über welche die Literatur der Schauspielkunst bis
heute noch nichts Rechtes beizubringen wußte und die
Mitteilungen der thüringischen Chroniken so äußerst
dürftig beschaffen sind, dem Auge etwas näher zu
rücken, um zu zeigen, wie dieses Mysterium denn eigentlich
beschaffen war, und damit neben der Sagenkunde
der Sittenkunde zu nützen, denn beide müßten
eigentlich stets Hand in Hand gehen. Ob diese, wie
ich fest glaube, auf thüringischem Boden, wohin die
fehlerhafte dialektische Schreibart deutet, geborene
Mysterie älter oder jünger wie die, mit deren Bruchstücken
Karl Ludwig Kannegießer seine Gedichte der
Troubadours, Tübingen 1852, eröffnet, ist hier nicht
der Ort zu untersuchen. Mone erwähnt ihrer in seinen
altdeutschen und mittelalterlichen Schauspielen nicht.
Dieses ernste Singspiel war voll dramatischen Lebens,
voll Pomp und Herrlichkeit, voll Leidenschaft,
voll erschütternder Wirkung, voll plastisch-mimischer
Bildergruppen und ganz gewiß wunderbar schön,
wenn auch ohne Virtuosentriller, ohne Ballett und
ohne Tamtam.
Wie im allgemeinen zu vermeiden ist, allzu Fremdländisches
in heimische Kreise zu ziehen, so ist auch
zu vermeiden, das Heimische zu verwirren und nicht
Zusammengehörendes zu verschmelzen. So hat in unsern
Zeiten die Poesie mit ihrer berechtigten Freiheit
den Tannhäuser mit dem Wartburgkrieg in Verbindung
gebracht, in Gedichten, in Dramen, in der Oper.
Die Sage wie auch die Chroniken kennen diese Verbindung
nicht, so wenig wie die Geschichte der Poesie
sie kennt. Der Wartburgkrieg und die Tannhäusersage
liegen geschichtlich ziemlich weit auseinander.
Die erwähnte berechtigte Freiheit der Poesie aber
darf sich die letztere dennoch von keinem nehmen
oder verkümmern lassen; ihr muß es freistehen und
wird es ewig freistehen, Sagenstoffe zu erfassen, zu
schmücken, zu verherrlichen, nur darf von dem, der
solches tut, gefordert werden, daß er dazu berufen sei.
Mir erscheint in dieser Beziehung die Sage wie ein
alter gleichzeitig kolorierter Holzschnitt auf Pergament
oder ein Miniaturbild. Der Unberufene, der solche
Bilder zu verschönern gedenkt, wird mit breitem
Pinsel des Bildes edle Züge und Farben verwaschen,
der Berufene wird mit feinem Pinsel dunklere Stellen
mit leichtem, dauerbarem Golde höhen. Da jede Sage
mehr Dichtung als Wahrheit ist, so haben die Dichter
eigentlich an sie mehr Anrecht als die Forscher und
die Wissenschaft, denn die Poesie gleicht dem Sternenhimmel
über der dunkeln Erde. –
In Berücksichtigung der vielen Sagen innewohnenden
Volkstümlichkeit wurde auch mit Vorliebe der
Spott- und Neckelust, der Lalenstreiche und veralteter,
nun wohl meist abgekommener volkstümlicher
Rechtsbräuche in Schimpf und Ernst gedacht – wie
die Nrn. 61, 190, 341, 646, 716, 739, 771, 773, 802,
810, 830, 835, 870, 871, 874, 947-951 dartun, und
wurde selbst manches der Sprache abhanden gekommene
echt deutsche Wort wieder in sein Recht eingesetzt,
auch überhaupt manche Hindeutung, mancher
Fingerzeig gegeben, der einem und dem andern vielleicht
nicht unwillkommen sein wird.
Ferner wurde mit gutem Grunde Rücksicht auf die
Verwandtschaft der Sagen untereinander durch einfa-
che Hinweisung genommen. Hierin bleibt der Sagenforschung
noch eine wichtige Aufgabe; die Verwandtschaft
der Sagen geht häufig bis zur Zwillingsschwesterschaft;
es sei nur an die Gangolfsbrunnen in Burgund
und in Franken erinnert, Sagen Nr. 139 und
768, an die Doppelehe in Preußen und in Thüringen,
Nr. 338 und 598, an die Kinderzüge, -tänze und -andachten
Nr. 588, 647, 879, wie an die Kinderhinwegführung
durch den Rattenpfeifer von Hameln, Nr.
294, und den Teufelsgeiger im Brauschtal, welche
letztere Sage August Stöber in seinen Sagen des Elsasses,
St. Gallen 1852, unter Nr. 160 mitteilt, so
auch an die drei Auflagen Nr. 280 und 754.
Es bedarf kaum noch der Erwähnung, daß die Sagenkunde
jetzt bereits so gut auf den Standpunkt einer
Wissenschaft gehoben ist als jede andere Hilfswissenschaft
der Geschichte, als Denkmal-, Wappen-, Siegelkunde
usw., und dabei ist sie eine ungleich lebendigere,
denn sie nimmt nicht nur vom toten Stein,
Schild und Wachs, sondern auch vom immerlebenden
Mund des Volks ihre Zeugnisse. Aber leider entzieht
die moderne Aufklärsucht mehr und mehr dem Volke
seine Wunderblumen, jätet seine Poesie aus mit
Stumpf und Stiel und reicht ihm dafür unter dem
Namen des Apfels vom Baume der Erkenntnis den aschevollen
Sodomsapfel sogenannter politischer Reife
und den beißenden Rettich der Verhöhnung alles Ge-
mütvollen, Edlen und Schönen, allen Glaubens und
aller Treue. Darüber ließe noch vieles sich anführen
und sagen, doch müßte ich nur das mannigfache Gute,
was über Sagenforschung und dahin Einschlagendes
in den Einleitungen der Grimmschen, der Wolfschen,
der Müllenhoffschen, der Tettau-Temmeschen, der E.
Meyerschen und andern Sammlungen gesagt ist, wiederholen.
Auch A. Schöppner entwickelt in der Einleitung
zu seinem Sagenbuch der bayrischen Lande
viel Wahres und Beherzigenswertes über diesen
Punkt.
Möge die neu erwachte Pflege der deutschen Sagenblumen
in strengwissenschaftlicher wie in schönwissenschaftlicher
Beziehung, in ihrer Echtheit und
ungeschmückten, ungeschminkten Einfachheit mehr
und mehr Freunde finden und Boden gewinnen! Sie
verdient es, und sie lohnt es durch geistigen Genuß.
Welchen Bilderreichtum bietet sie nicht dem Dichter,
dem zeichnenden wie dem plastischen Künstler dar,
welch eine reiche Stoffülle! Ja, die deutsche Sage
bleibt ein fort und fort frischquellender Goldborn für
Poesie und Kunst, und – was noch höher zu achten,
sie bleibt trotz allem Hohnlächeln der Neugescheiten,
allem Gegenbemühen, allem Abschleifen und Verflachen
und trotz der verkehrten Aufklärungssüchtelei
der seminaristischen Afterschulbildung wie der konsistorialen
und polizeilichen Vevormundung eine
frischlebendige, unverwüstliche, sittliche und sittigende
Volkskraft.
Meiningen, am 24. November 1852.
L u d w i g B e c h s t e i n .