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Zweites Kapitel

Aus dem Steinhüttenort Karem macht sich der Tempelpriester Zacharias auf, um sein gottesdienstliches Amt in Jerusalem zu verrichten. Tausende von Priestern und Leviten sind dazu bestimmt, in wechselnder Folge die Opfer einmal jährlich im heiligen Tempel der Zionstadt darzubringen. Das Los ist nun auf den alten, vom Leben wenig gesegneten Zacharias gefallen, der seine Spättage mit Gebet und daneben laufendem Handel zugebracht hat. Er war das, was man so fromm nennt. Das Gesetz des Moses und die Überlieferungen, die sich priesterlich von Mund zu Mund fortgepflanzt hatten, immer wieder beschnitten, vermehrt und anders ausgelegt, hatten sich in ihm zu unverletzbaren Gesetzen versteinert, an denen zu rühren er nimmer gewagt hätte. Dieses spekulative und durchaus nicht ungefährliche Amt der Auslegung wollte er zeit seines Lebens den Pharisäern überlassen wissen; jenen Freidenkern Judäas, die sich vermaßen, das mosaische Gesetz zu lockern, oder den Sadduzäern, jenen Allerweltsnaturen, die sich bereitwillig dem römischen Druck unterwarfen und den Landpflegern die Füße küssten, wenn es galt, für sich einen geschäftlichen Vorteil herauszuschlagen. Für diese Leute war das Gesetz ein weit dehnbares Netz, aus dem man schlüpfen konnte, wenn man es verstand, die Buchstaben zu verschieben und dem Wort einen freien Sinn zu geben. In den Synagogenschulen wurde von früh an ihre Natur zur leichten Beweglichkeit des Gedankens erzogen, und die tüchtigsten Jünglinge wurden zum Nachwuchs für den Sanhedrin, den obersten Gerichtshof der Juden, bestimmt. Dort konnten sie ihre Spitzfindigkeiten und Trugschlüsse zum Schaden des alten Gesetzes an den Mann bringen.

Zu dieser Gattung Priester gehörte nun Zacharias nicht. Er hatte sich ehrlich bemüht, nach dem alten Wüstengesetz des grimmen Propheten zu leben, und hatte es vermieden, auch nur ein Tüttelchen daran zu ändern, ja es auch nur wegzudenken. Opferungen, Gebete, Rituale waren ihm heilige Dinge geblieben.

Nur eines lastete schwer auf seinem und seines Weibes Herzen. Kinder waren ihnen versagt geblieben. Das aber empfand man in Israel als eine Strafe für irgendwelche geheim gebliebene, nicht gebüßte Sünde.

Eine unsichtbare Wolke der Schmach legte sich um das alte Paar, wenn es durch die engen Hüttengassen von Karem schritt und sich die Augen der anderen nach ihnen stielten. Es gab sogar viele, die an der Frömmigkeit des alten Zacharias zweifelten, da sie den Schoß seines Weibes Elisabeth für immer geschlossen sahen. Gottes Auge musste seine Sünden oder die seines Weibes geschaut haben, wenn auch das Menschenauge keinen Fehl an ihnen entdecken konnte.

Nun muss er wieder nach langer Zeit vor das Auge seines Gottes treten, um im Namen seines Volkes die vorgeschriebenen Opfer darzubringen. Die Regenzeit ist da. Die Wässerlein rieseln von den Hängen über den steinigen Weg und führen Geröll in die Täler, und über den breit gedehnten Kuppen, die seine Heimat von dem nahen Jerusalem trennen, hängt ein trostloser, verhüllter Himmel. Zacharias tastet sich nur mühsam den schlechten Weg vorwärts, gestützt auf seinen Stock, eingehüllt in den Ephod, den langen Überhang, der bei den Pharisäern als ein Zeichen besonderer Gottesfurcht galt, die beutelförmige, mit einem Zipfel geschlossene Mütze auf dem ergrauten Haupt. Er übersinnt manchmal den Ritus des Rauchopfers, das er bringen muss, die Reihenfolge der einzelnen Gebete beim Speise-, Trank- und Sündopfer und die Kraft ihres Inhalts. Man kannte ihn sehr wohl in Jerusalem, wo er einst mit einem Galater einen ansehnlichen Handel getrieben hatte, und es gab dort gute Freunde, die in jungen Jahren an seinem Gewinn mit größerer Liebe gehangen hatten als an seiner Person und die sich später verloren, als sein Geld dahingeschmolzen war.

Er brauchte zwei Stunden, bevor er das regenverschleierte Zion erreichte, nachdem er durch das Steinland über öde Hänge gewandert war. Auf dem Wege hatte er die bleichgrauen Rebenstöcke auf dem Boden der Hügel dahinkriechen sehen, manchmal erstarrten Schlangen gleichend, sonst kein Baum, nur spärliches Gras in den Hügelmulden. Endlich ein paar Zypressen und Ölbäume und grünende Gärten. Da lag sie nun vor ihm, die Stadt mit den reichbetürmten Mauern und der ragenden Burg Antonia, zu deren Füßen sich der herodianische Tempel erhob, sonst leuchtend in seiner Goldpracht und Marmorschöne, heute trübumsponnen, beinahe erdrückt von Wolkenschwere. Und ihm ist, als hätte Gott Sein Antlitz von ihm gewandt.

In eines Freundes Haus fand er die erste Unterkunft. Am nächsten Tag meldete er sich im Priesterhaus des Tempels, wo er untergebracht wurde. Er durfte nicht viel sprechen, denn sein Sinn sollte sich in der Opferkraft des nächsten Tages sammeln. Der gute Zacharias fühlte schon heute die Weihe, mit der ihn sein Amt sozusagen überwehte.

Am nächsten Tage frühmorgens legte Zacharias die priesterliche Kleidung an, setzte die Haube auf, und es ging ein Leuchten von seiner Gestalt aus, als er jetzt durch die zum Gebet versammelte Judenmenge schritt, die sich im Vorhof des Tempels in den Hallen angestaut hatte. Die Sonne hatte sich aus den Wolken gegraben, und die Marmorsäulen mit dem Zedernholzgetäfel glänzten über dem bunten Mosaikpflaster der Höfe. Zacharias steigt die Treppe zum Heiligtum hinauf und entschwindet hinter dem babylonischen Vorhang den Augen des Volkes.

Er steht vor dem Rauchopferaltar. Der goldglänzende Raum birgt drei Kunstwerke: den siebenarmigen Leuchter, den Tisch mit den zwölf Broten und das Rauchfass. Er ist durch einen mit kostbaren Stickereien durchwebten Vorhang vom „Allerheiligsten“ getrennt, zu dem nur der Hohepriester einmal im Jahr Zutritt hat. Denn in diesem leeren Raum, der für den Augensinn das große Nichts, für den innerlich schauenden Gläubigen aber das unsichtbare Alles enthält, thront nach jüdischem Kult die Majestät Jahves selbst.

Zacharias nimmt die Weihrauchkörner aus dem silbernen Behälter und streut sie auf das glühende Holz. Mit ausgebreiteten Händen und zum Himmel erhobenem Haupt ruft er seinen einzigen Gott an, Dessen Fülle die Welt begnadet. Und in das Wogen seines Gebets für sein Volk schüttet er beinahe schüchtern das Leid seines eigenen Herzens, wiewohl er weiß, dass sein Flehen um den Leibessegen seines Weibes umsonst ist. Die Gebetsglut seines Wortes verdichtet sich immer mehr und mehr, und je heißer die Sehnsucht aus seinem Herzen quillt, desto mehr wird sein Herz der Erde entrückt.

Seines Volkes Leid wirft er vor den Stuhl Jehovas hin, seine Hoffnung auf das Kommen des Messias, der das Judenvolk aus der Römerschmach erlösen sollte. Um eine Prophetensendung ringt sich sein Gebet in den unerhörten Himmelsglanz, um einen einzigen sichtbaren Strahl der Gnade, der das Volk aufatmen ließe wie das dürre Feld unter dem Regenschauer.

Ein Gefühl unsäglicher Traurigkeit senkt sich in die Brust Zacharias`, seine Hände fallen kraftlos herab und sein Auge schließt sich, als könne es den Anblick des abweisenden Gottes nicht ertragen. So verharrt er, abgeschlossen von der irdischen Welt, lange in todesmatter Dumpfheit.

Aber da – in das geschlossene Auge dringt plötzlich eine Lichtfülle. Er öffnet es wie im jähen Schreck.

Neben dem Altar und an der Seite des siebenarmigen Leuchters verdichtet sich der Schein der Lampen zu nie erahntem Glanz. Es ist, als bewege sich die Luft in zitterndem Flimmern, als dränge sich das Licht von Millionen Sternen um den Altar zusammen. Und wie ein weißglühender Schacht dehnt es sich vom Altar himmelwärts, durchbricht die Decke des Heiligtums und schiebt sich in den mit strahlendem Blau erfüllten Raum, sich im Unendlichen verlierend. Und inmitten dieses Lichtbalkens gleitet eine Gestalt, schimmernd in schneeweißer Schwanenpracht, aus der Endlosigkeit herab und schwingt sich mit lautlosem Flügelschlag neben den heiligen Leuchter hin, wo sie zur plötzlichen Reglosigkeit erstarrt.

Des Tobias Wanderengel konnte nicht schöner gewesen sein als der Erzbote zu seiner Rechten. Das Strahlen seines himmelblauen Auges durchdringt sein Templerherz wie ein wonniges, mildes Leuchten aus dem Gottesherzen selbst. Die Erinnerungsbilder aus der Thora steigen auf, die da von Engeln wissen, die den Menschen in den drangvollen Augenblicken des Lebens erschienen sind.

Engel! Zacharias spricht das Wort in unsagbarer Scheu vor sich hin. Ihre Macht soll den irdischen Sinnen spotten, die Erde soll ihnen ein Sandkorn sein, die Sonne für sie linsengroß, und das Wasser der Erde, so sagt die Überlieferung, reiche nicht aus, um eine ihrer Wimpern zu befeuchten, ja, vor dem Hauch ihres Mundes erzitterte der Glanz der Sterne. Aber man sagt auch, sie gebrauchten ihre Kräfte nur, um den Welten, über die sie herrschten, zu dienen. Sie seien überhaupt der Willensausdruck Gottes und Sein Werkzeug, und Sein Lächeln sei ihnen Ermutigung für ihr Werk, Sein Trauerblick unendliches Weh.

Da erklingt plötzlich der Raum, denn eine übermenschliche Stimme tönt und lässt die Luft mitschwingen. Wie silbertönender Harfenschlag quillt es von des Himmelsboten Lippen.

„Fürchte dich nicht, Zacharias. Dein Gebet ist erhört. Dein Weib Elisabeth wird dir einen Sohn gebären, dessen Name sollst du Johannes heißen. Und du wirst durch ihn Freude und Wonne haben, und viele andere werden frohlocken über seine Geburt, denn er wird groß sein vor dem Herrn. Wein und starke Getränke wird er nicht trinken, doch vom Mutterleib an wird er mit dem heiligen Geist erfüllet sein und wird der Kinder Israels viele zu Gott bekehren. Er wird vor ihm hergehen in Geist und Kraft des Elias, zu bekehren die Herzen der Väter zu den Kindern und die Ungläubigen zu der Klugheit der Gerechten, und so wird er zurichten dem Herrn ein wohlbereitet Volk.“

Der Templer vermag das Gehörte nicht zu fassen. Und wie um sich zu wehren gegen das Unerhörte, vor Augenblicken noch von ihm selbst Erflehte, stammelt er in das Gleißen der Erscheinung: „Woran soll ich das erkennen? Bin ich nicht alt und auch mein Weib schon betagt?“

Da rauschen die unirdischen Schwanenflügel wie im Unwillen zusammen, dass sich die Luft im heiligen Raum wie unter Windeswehen bewegt. Und eine richterlich strenge Härte spannt das Antlitz des Engels.

„Ich bin Gabriel, der vor Gott stehet, und bin gesandt, mit dir zu reden, auf dass ich dir solches verkünde. Sieh, du wirst verstummen bis auf den Tag, da dies geschehen wird, darum dass du meinen Worten nicht geglaubt hast, die zu ihrer Zeit erfüllt werden.“

Und der Glanz verschwindet allmählich und die Gestalt des göttlichen Erzboten zerfließt in magischblaues Licht, wird wesenlos und vergraut endlich in ein Nichts. Um Zacharias schimmern wieder die Lampen des Altars, und die Decke des Heiligtums dämmert in den matten Schein.

Zacharias will laut rufen – aber seine Lippen bleiben stumm. Auch in der Kehle formt sich kein Laut.

Draußen murrt und bangt das Volk. Was zögert Zacharias von Karem so lange? Die Gebetszeit ist beträchtlich überschritten, die Ablösung wartet in der Tempelhalle, die Leviten bringen neue Opfer bereit.

Das Volk schiebt sich in drängender Neugier nach der Treppe zu dem Tor hin, das weit offen steht. Das Tor ist das Sinnbild des offenen Himmels, und man sieht durch die Lichtung die innere Tempelabteilung, die das „Heiligtum“ und das „Allerheiligste“ enthält. Die goldenen Tempelwände strahlen im Morgenlicht, und die ebenfalls vergoldeten Reben mit den mannshohen Trauben über dem Tor flimmern, als schimmere das Gold aus dem Innern heraus.

Da erscheint der Priester Zacharias im inneren Hof, langsam schreitend, mit fahlem Gesicht, und sein weißer Byssus leuchtet hell im Morgenschein. Alles blickt voll Neugier nach der patriarchalischen Gestalt, die nun im Tempeltor auf der höchsten Stufe stehen bleibt und wie entgeistert in das schreiende Blau starrt.

Ein dienstfreier Levit schiebt sich nahe an Zacharias heran und stiert mit Neugiersaugen nach ihm. „Was säumtest du so lange? Dein Auge ist erdfern. Dein Sinn weit von hier. Zacharias, sprich ein Wort – was ist dir?“

Freunde drängen sich heran, Frauen aus dem zweiten Hof suchen heranzukommen, werden aber von den Tempeldienern zurückgedrängt.

Da hebt der Greis mit Tränen in den Augen den Finger an die Lippen und deutet ihnen an, dass er stumm sei.

Das Volk der Beter wird unruhig. Und ein Ungläubiger schreit über die Köpfe hinweg: „Rede! Rede!“

Zacharias antwortet, von Tränen überströmt, mit der Fingergebärde.

Einer will ihm eine Schreibtafel reichen, auf dass er sich verständlich machen könne. Er weist sie mit Erregung zurück. Aber dann füllt sich sein Auge mit einem unerhörten Glanz, und er schreitet, über die Köpfe hinwegblickend, mit feierlichen Schritten durch das Gewoge der dichtgeballten Betermenge.

„Wohin gehst du, Priester Zacharias?“, fragt der bucklige Levit. Des Zacharias knorrige Hand deutet in die Richtung von Karem.

Ein Stern geht auf

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