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Fünftes Kapitel

„Die Osterblumen blühen, der Nisam ist vorbei, es ist Zeit, dass ich gehe. Es drängt etwas in mir nach der Base Elisabeth hin. Ich muss sie sprechen. Wie lind gehen doch die Lüfte über die Berge.“ Maria huschelt sich zu Füßen des arbeitenden Joseph hin, als bitte sie ihn mit ihren Augen, doch ja einzuwilligen.

Joseph lässt den Hobel auf die Bank fallen. Er weiß nun, dass es wirklich so weit ist, dass nach menschlichem Ermessen das große Werden im Körper Marias beginnt. „So geh denn mit Gott!“, sagt er sanft und streichelt über ihre weizenblonden Haare hin. „Lassen dich deine Eltern ziehen?“

Sie nickt geschwind, springt auf und läuft von ihm weg, kehrt zurück, bebend und verlangend. „Willst du nicht meine Lippen trinken?“

Langsam, lange küsst Joseph den geschwellten Mund. Voll bräutlicher Innigkeit ist dieser Abschiedskuss. Und er holt eine Gabbia (Becher) aus seiner Truhe, füllt sie mit kostbarem Würzwein, den ihm ein Besteller anstatt Bezahlung verehrt, und trinkt ihr zu. Auch sie nippt an dem Becherrand und eilt dann erhitzt von ihm, in der Brust seliges Gedränge veratmend.

Auf der Straße sehen ihr die Freundinnen nach. „Wie beglückt sie ist, Josephs Braut!“, denkt manch eine. Und es ist wirklich so, dass auch ihr Körper die warme Empfindung inneren Glückes widerspiegelt, denn er ist in herrlicher Schöne aufgeblüht. Der königliche Schwung in den Hüften, die edle Gestalt, die Holdseligkeit ihres Antlitzes, der leicht verschleierte Glanz ihrer Augen, das Klingen ihrer silbernen Stimme verbinden sich zu einer harmonischen Einheit, die gottgewollt erscheint.

Zu Hause trifft sie Reisevorbereitungen. Ihr ist nicht bang um die Wanderung. Es gehen jetzt viele Galiläer nach Jerusalem, das Passahfest zu feiern. Wie leicht wird sie Gesellschaft bei einer Pilgergruppe finden, Beistand und Rat für dies und jenes. „Karem!“, jubelt es in ihrer Brust. Und „Karem!“, hallt es in den Lüften in all diesen Tagen.

Endlich ist es so weit. Maria rüstet sich mit festen Reiseschuhen und Wollkleidern aus und packt Tücher in ein Bündel, in das sie zum Schluss den Mundvorrat steckt. Joseph schnitzt ihr noch einen zierlichen Reisestock, denn die Wanderung geht übers Gebirge und ihr Fuß braucht einen Halt. So ausgerüstet grüßt sie in Nazareth zum letzten Mal die Morgensonne. Ihr Schein soll fortan ihr lieblicher Begleiter sein bei der Wanderung.

Am Ausgang beim großen Tor erwartet sie noch einmal Joseph und küsst ihr den glühenden Reisesegen auf die Lippen. Und wie sie jetzt von ihm geht, fühlt er erst, wie herzlich er sie liebt und dass das süße Geschehen in ihr auch seinen ganzen Menschen ändern wird.

Eine kleine Gruppe von Salempilgern hat sich auf der Straße nach Verabredung gesammelt. Ihr schließt sich Maria kurz bittend an. Sie fühlt in sich eine wundersame, gar nicht beängstigende Grenzenlosigkeit seliger Gefühle. Noch immer lebt der glückhafte Schreck in ihr, den sie damals empfunden, als Gottes Licht sie sichtbar begnadet hatte. Und sie muss immer nach fremdartigen Worten suchen, um sich das Glück ihrer Berufung auszumalen. Aus des himmlischen Geistes Umarmung, menschlichem Verstand unfassbar, ersteht die Blüte in ihr, aus der die Frucht werden soll, geheimnisvoll heranreifend, sich als Mensch entwickelnd im Drang nach göttlicher Vollkommenheit. Sohn Gottes wird er genannt werden, klang es in ihr. Das hieß doch wohl, dass mit ihm eine neue Zeit heranbrechen werde, das Alte stürzend, das Tote begrabend.

Mit solch hochgeschwellten Gedanken steigt sie von den Höhen Nazareths in die Ebene von Jezreel hinab, die fast ein einziges hochwogendes grünes Kornfeld ist. Zu ihrer Rechten liegt der Karmel im goldenen Licht. Schiebt er sich nicht wie ein Riegel zwischen sie und das Meer? Ach, hätte sie die blauen Wellen sehen können, die um des Berges Rumpf rauschen! Die Ebene dampft unter dem Morgenglanz, aber von Westen her weht ein linder Wind. Das Korn steht schon hoch, wiegt sich und glänzt in der Sonne. Maria streift lässig mit den Fingern ein paar Ähren, reißt auch spielend da und dort den Weizenlolch, ein wucherndes Unkraut, aus, das der Böse gesät, und lässt manch Käferchen über ihre Hand kitzeln. Auch Blumen, purpurne Anemonen und Narzissen, steckt sie sich ins Haar, und wenn ein Bächlein über den Weg rauscht und in einem Becken zum natürlichen Spiegel wird, besieht sie sich in harmloser Eitelkeit darin, ob ihr die Blüten wohl zu Gesicht stehen. Manchmal wendet sie den Blick nach rückwärts, aber Nazareth ist längst hinter einem Felsrücken verschwunden, nur ein paar Ölbäume grüßen fern von der Höhe herab. Und vor ihr steigen neue Berge auf und legen ihre halbschattigen Hänge wie eine Wand vor sich hin.

Um ihre beginnende Müdigkeit zu übertauchen, summt sie alte Kinderlieder aus dem Herzen ins Herz. Eines davon fliegt lauter zu den steinigen Höhen hinauf, und bald stimmen die Pilgerinnen mit ein: „Ich komme an dein Fensterlein und grüße deiner Augen Schein, o Mutter mein.“ Und Maria ist, als singe das werdende Leben in ihr ganz leise und geheimnisvoll mit. Ihre Augen werden feucht und leise lächelt ihr Mund.

Am Nachmittag erreichen sie einen kleinen Ort, wo sie am Rande nächtigen werden, in einer Steinmulde, beschützt vor Wind und Wetter.

Maria ist fast immer allein, die paar Mädchen im Zuge, die von Kana sind, haben wohl versucht, sich ihr anzuschließen, aber sie mussten die Hoffnung, dass Maria aus sich heraustrete, bald aufgeben. Es ist, als ob die durchscheinende Besonderheit ihres Wesens die Vertraulichkeit mit ihr behindern wolle.

Einmal, knapp vor der Ankunft in der Raststation, hält der ganze Pilgerzug plötzlich still. Ein Schwarm girrender Tauben, alle blendend weiß, fliegt plötzlich aus einem Weizenfeld auf und umschwirrt mit hastigen Flügelschlägen das Haupt Marias, sodass sie sich gegen die Zudringlichkeit wehren muss. Alles lacht und kichert, nur Maria selbst bleibt ernst. Bei der Rast nähern sich ihr die Tauben abermals, und eine von ihnen setzt sich zutraulich auf ihre Schulter.

„Das hat Liebe zu bedeuten”, neckt sie ein kanaisches Mädchen. „Man kann davon nicht genug haben.“

Maria sinnt in die sinkende Sonne. Liebe! Nur eine einzige durchglüht ihr Herz, unnennbare, unvorstellbare Mutterliebe.

Sie holt aus ihrem Bündel die rundlichen Brotfladen heraus und verzehrt sie mit der sauren Ziegenmilch, die sie aus dem Ort geholt hat. Dann legt sie sich in einem Winkel der Mulde zur Ruhe. Doch muss sie noch lange mit lahmgelegten Gedanken in die fahle Dämmerung starren, ehe sie der Schlaf umfängt. Etwas entfernt von ihr brennen die Dornbüschel, das Lagerfeuer der Pilger.

So geht es Tag für Tag über Gestein und Geröll, auf schlechtem Pfad südwärts, Jerusalem entgegen.

Einmal schließt sich ihr ein Grieche an, der den jüdischen Kult angenommen hat und nun seine erste Fahrt nach Jerusalem macht. Sie kommen auf allerhand zu reden, und da meint einmal der bärtige, düster blickende Mann: „Ich habe sagen hören, die Juden hätten einen Propheten Daniel gehabt, der geweissagt, es werde ihnen dereinst der Welt Heiland geboren werden.“

„Da sprichst du wahr“, sagt Maria und blickt starr in sich.

Eines beschäftigte den grübelnden Geist Marias besonders, und es gewann in diesen Tagen des innerlichen Werdens eine besondere Bedeutung. Der Erlösungsgedanke des jüdischen Volkes war auch Eigentum der nicht semitischen Völker in Palästina geworden. Aber er bezog sich auf eine irdische, materielle Erlösung. Das innere Erleben der Erlösung, die Wandlung des Herzens, das eigentliche Gnadenwunder hatte noch keinen Raum in ihren Gedanken. Wenn jemand Israel erlösen sollte, dann musste es nach jüdischer Anschauung vor allem äußerlich geschehen. Königsgleich musste der verheißene Messias kommen, die Tyrannei der Römer abzuschütteln und das auserwählte Volk zum Beherrscher der Welt zu machen.

Nun durchschauerte es sie bei dem Gedanken, dass vielleicht wirklich das Kind in ihrem Leibe mit dieser ungeheuren Sendung von Gott begnadet sei. Wie anders hätte sie auch die Verheißung des Engels verstehen sollen? Aber auch nur die Möglichkeit der Sendung erfüllte sie schon mit Stolz und Demut zugleich. Sie wollte sich dieser hohen Aufgabe, den Beglücker des Volkes und der Welt heranzuziehen, mit der ganzen Kraft ihrer mütterlichen Aufopferung hingeben.

Am siebenten Tag nach ihrem Weggang von Nazareth näherte sie sich Gibea und erfuhr nun hier, sie müsse jetzt nach rechts abbiegen, um nach Karem zu gelangen. So nahm sie denn Abschied von den Pilgern und stieg über den Hang von Sapha ins Tal hinab. Hier lagen die Gräber der Richter, wo sie einige kurze Gebete sprach. Dann erklomm sie die steinigen, sonndurchbrannten Hänge von Nephtoa, und nun hatte sie nur mehr eine Stunde über Einsenkungen und Höhenrücken nach Karem zu gehen.

Ihr Herz begann unruhig zu klopfen. Wie würde sie wohl die Base empfangen? Kam sie ihr nicht ungelegen? Und was trieb sie denn überhaupt zur Base hin? Doch nur das unbändige Verlangen, zu hören, dass Elisabeth wirklich mit einem Kinde ging. So hatte es doch der Engel verkündigt. Und war das eine wahr, dann musste doch alles andere auch wahr sein. Es konnte doch keine geteilte Wahrheit geben.

Da liegt nun mit einem Mal der kleine Ort, ein zusammengewürfelter Steinhaufen unter Steinen vor ihr. Die Abendsonne bestrahlt die ganze Dürftigkeit der Siedlung, ein linder Westhauch vom Meer bringt den geräderten Gliedern Marias Abkühlung, sie sieht den Rauch aus den Steinhöhlungen und Dachluken steigen, und ein paar Feigenbäume vor dem Ort täuschen etwas wie einen Garten vor. Aber sonst nur öde, steinharte Landschaft, kein galiläisches Kornfeld, keine blumengeschmückten Wiesen, nur da drüben am Hang ein leichtschimmerndes Grün von Reben, das dem Auge wohltut. Und nun legt sich der Abend dämmerschweigsam über die flachen Dächer.

Staubbedeckt, die Stirne voll Schweiß, schlapp in den Knien, mit klopfendem Herzen schreitet Maria in die erste Gasse von Karem.

Ein Stern geht auf

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