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2.2 Das hydrographische Dach Mitteleuropas
ОглавлениеDas festländische Relief der Erde wird – abgesehen von Teilgebieten – maßgeblich von der Arbeit der Flüsse geprägt (Rohdenburg 1989). Übertragen auf das fluviale Relief Mitteleuropas ist es also sinnvoll, der Entwicklung des Flussnetzes besondere Beachtung zu widmen, will man die Reliefgenese verstehen. Das hydrographische Dach Mitteleuropas ist das Fichtelgebirge, wo mit einer Distanz von nur wenigen Kilometern bedeutende Tributäre der prägenden mitteleuropäischen Flusssysteme ihren Ursprung nehmen: Der (Weiße) Main entwässert nach Westen zum Rhein und somit zur Nordsee, die Saale nach Norden zur Elbe und schließlich ebenfalls zur Nordsee, die Eger nach Osten zur Moldau und schließlich über die Elbe wiederum zur Nordsee. Das Naabsystem hingegen nimmt im Fichtelgebirge als Fichtelnaab seinen Ursprung und entwässert Richtung Süden bis Südosten über den Regen zur Donau und somit ins Schwarze Meer. Durch das Fichtelgebirge verläuft also die europäische Hauptwasserscheide, und es ist durch eine zentrifugale Entwässerung gekennzeichnet. Die Geomorphologie sieht darin Hinweise auf ein altes Hebungsgebiet und die Erstanlage von Großformen des fluvialen Reliefs.
Diese Gedanken wurden erstmals von Walther Penck (1924), Geologe und Sohn von Albrecht Penck, für das Fichtelgebirge und seine Abdachung zur Leipziger Bucht verfolgt. In Auseinandersetzung mit der damals vorherrschenden „Zyklentheorie“ von Davis (1912) versuchte W. Penck herzuleiten, dass der Stockwerkbau der paläozoischen Mittelgebirge, das heißt die mehrfache Abfolge von Flächen und Stufen in verschiedenen Höhenlagen, nicht das mehrfache Durchlaufen des Zyklus Hebung – Jugendstadium – Reifestadium – Greisensadium (mit „Endrumpffläche“) erfordere (wozu die seit dem Ende der Jurazeit bis zum Oligozän verfügbare Zeit nicht ausreichend wäre), sondern dass verschieden hoch gelegene „Piedmontflächen“ sich gleichzeitig entwickeln und die höhere Fläche durch die tiefere unter Ausbildung einer „Piedmontstufe“ mit Inselbergen aufgezehrt wird. Davis nahm an, dass einer anfänglichen und einmaligen starken Hebung lange tektonische Ruhe bis zum Beginn des nächsten Zyklus folgt, was aufgrund der didaktischen Vereinfachung eingängig erschien und damit den weiteren Verlauf des Zyklus relativ leicht nachvollziehbar machte. Im Gegensatz zu Davis ging Penck von einer Hebung „mit ständig wachsender Phase und Amplitude“ aus. Das heißt, die Hebung eines Gewölbes beginnt mit geringer Intensität und geringem Durchmesser, beide steigern sich aber mit der Zeit, bis die Hebungsintensität wieder abebbt. Dadurch bedingt, so Penck nach seiner umfangreichen Ableitung der Hangentwicklung unter Einsatz der Differentialrechnung, ergibt sich gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Gewölbes, dass ein Schwellenwert des Flussgefälles überschritten wird, der zum Einschneiden in den bis dahin noch existierenden „Primärrumpf“ führt. Damit setzt die „aufsteigende“ Entwicklung (engl. waxing) ein, die sich in konvexen Hangprofilen und Reliefzunahme äußert. Die aufsteigende Entwicklung wandert auf das Hebungszentrum zu, während in distaleren Teilen der Piedmontfläche die „absteigende Entwicklung“ (engl. waning) einsetzt, die sich durch konkave Hänge und Reliefminderung auszeichnet und schließlich zur Ausbildung eines „Endrumpfes“ führt (vergleichbar der Endrumpffläche nach Davis). Jede Piedmontfläche besitzt also einen Primärrupf und einen Endrumpf, und auf- und absteigende Entwicklung laufen an verschiedenen Stellen gleichzeitig ab. Dieses Modell, welches ebenso wie die Zyklentheorie noch keine Klimagenetische Geomorphologie kennt und somit den steuernden Einfluss von Klimawandel nicht berücksichtigt, versucht letztlich zu belegen, dass eine „Stetigkeit der Ursache“ (Hebung) zu einer „Unstetigkeit der Abtragung“ führt.
Das Buch von Walter Penck (1924) löste heftige Debatten vor allem in der deutschsprachigen Geomorphologie aus. Eine vollständige Rezeption hat aber nicht stattgefunden, vor allem weil die Annahme einer sich ständig beschleunigenden Hebung nicht oder nur schwer (Penck 1928) nachvollzogen werden konnte. Darum machte Spreitzer (1932), eigentlich Verfechter der Piedmonttreppentheorie, an diesem Punkt auch einen Kompromiss. In jüngerer Zeit haben Désiré-Marchand & Klein (1987) die Piedmonttreppe im Fichtelgebirge zu bestätigen versucht, allerdings berücksichtigt die Arbeit zu wenig neuere methodische Fortschritte.
Die Kontroverse zwischen Anhängern der Zyklentheorie und jenen der Piedmonttreppentheorie geriet mit der klimagenetisch-geomorphologischen Interpretation von Rumpftreppen in mitteleuropäischen Mittelgebirgen (Büdel 1935) in den Hintergrund. Allerdings konnte sich die Klimagenetische Geomorphologie erst nach dem Zweiten Weltkrieg behaupten. Nach diesem Ansatz sind die Rumpfflächen in unseren Mittelgebirgen Reliktformen aus Zeiten mit einem (rand-)tropischen Klima mit tiefgründiger chemischer Verwitterung, welches während der Kreidezeit und bis zum Ende des Tertiärs in Mitteleuropa geherrscht habe. Dem wurde jedoch von paläontologischer Seite früh widersprochen (May 1965). Nach aktuellem paläoklimatischem Kenntnisstand werden außer für die Kreidezeit lediglich während des Paleozän-Eozänen Thermalen Maximums (PETM) und unter Umständen während des Untermiozäns tropische oder tropoide Klimaverhältnisse in Mitteleuropa angenommen. Ansonsten soll während des Tertiärs eher mediterranes bzw. submediterranes (Oberes Pliozän) Klima geherrscht haben. Die Annahme mehrfacher Phasen mit tropischem Klima im Tertiär zur klimageomorphologischen Erklärung mehrerer Rumpfflächen wird dadurch zweifelhaft.
Interessant ist die Feststellung, dass eine alte Kontroverse zwischen der Zyklentheorie und der Piedmonttreppentheorie auch bei den bedeutendsten deutschsprachigen Vertretern der Klimagenetischen Geomorphologie unterschwellig weiterlebt. Nach der Theorie der „Doppelten Einebnungsfläche“ Büdels (1977/1981) findet aktive Rumpfflächenbildung nur nahe der absoluten Erosionsbasis (Meeresspiegel) bzw. in intramontanen Senken statt, während höher herausgehobene Rumpfflächen allenfalls der „traditionellen Weiterbildung“ unterliegen (wobei heute bekannte globale Meeresspiegelschwankungen von mindestens 250 Metern seit der Oberkreide noch zu berücksichtigen wären). Diese Ansicht kommt der von Davis nahe. Louis geht nach Studien in Tanganyika (heute Tanzania) davon aus, dass aktive Rumpfflächenbildung in Höhenlagen bis 2000 Meter ü. M. ablaufen kann, womit er in die Tradition von W. Penck gestellt werden kann (Louis & Fischer 1979).
Abb. 2.3 Geologische Übersicht von Deutschland (aus Glaser et al. 2007)
Die jüngere Literatur (zusammengefasst z.B. bei Hüser & Kleber 2003) eröffnet eine Möglichkeit zur Lösung des Problems dahingehend, indem sie auf eine ursprünglich einheitliche kretazisch bis eozän gebildete Rumpffläche in den mitteleuropäischen paläozoischen Gebirgsrümpfen, die durch posthume tektonische Schollenbewegungen heute in verschiedenen Höhenlagen anzutreffen ist, verweist. Die zur Bestätigung dieser Ansicht erforderliche Datierung von Flächen ist aber sehr problematisch und gelingt selten mit hinreichender Aussagekraft: Reste einer tiefgründigen kaolinitreichen Verwitterungsdecke (Saprolith) in verschiedener Höhenlage sind nicht beweiskräftig, denn diese Verwitterung ist nicht an eine Rumpffläche gebunden und kann sich primär in verschiedener Höhenlage bilden (Felix-Henningsen 1990). Selbst wenn der günstige Fall vorliegt, dass eine Fläche von einem Lavastrom oder einer vulkanischen Decke überlagert wird und diese Überlagerung mittels der K-/Ar- bzw. der Ar/Ar-Methode sehr genau datiert werden kann, steht damit noch nicht fest, wann die Flächenbildung begonnen und wann sie aufgehört hat (vgl. Primär- und Endrumpf; s.o.). Hier helfen nur neue Methoden weiter. W. Penck versuchte, aus den Formen auf die Hebungsgeschichte zu schließen, was aber problematisch blieb. Moderne Methoden der „Thermochronometrie“ hingegen können für die Geomorphologie nutzbar gemacht werden, indem umgekehrt vorgegangen wird: Bestimmte Mineralkomponenten des Gesteins liefern Informationen über ihre thermische Geschichte, das heißt ihren Temperatur-Zeit-Pfad auf ihrem Weg aus größerer Krustentiefe an die Erdoberfläche. Damit werden unter Annahme eines konstanten geothermischen Gradienten (in der kontinentalen Kruste Mitteleuropas normalerweise ca. 30 K/km) die Denudationsgeschichte und in humiden Gebieten indirekt die Hebungsgeschichte erschlossen. Unterschiedliche Denudationsgeschichten für verschiedene Schollen müssen nun seitens der Geomorphologie mit unterschiedlichen Großformen bzw. der Anordnung von Großformen wie Flächenresten verglichen werden. Dieser neuartige Ansatz, der von der deutschen Geomorphologie im Gegensatz zur Geologie noch kaum wahrgenommen wurde, wird weiter unten erläutert.
Es ist an dieser Stelle nötig, die Geologie von Mitteleuropa zu betrachten. Dem Leser wird empfohlen, zum einen eine Geologische Übersichtskarte (Abb. 2.3) und zum anderen die „Stratigraphische Handtabelle von Deutschland“ (STDH 2012 final) bereitzuhalten. Letztere fußt auf der „Stratigraphischen Tabelle von Deutschland“, deren laufende Aktualisierungen auf der Internetseite der Stratigraphischen Kommission Deutschland verfolgt werden können. Einen ersten Überblick über die Geologie von Deutschland vermittelt die Geologische Übersichtskarte aus Glaser et al. (2007).
Der komplizierte tektonische Bau Mitteleuropas und der angrenzenden Räume erfordert maßstababhängig Generalisierung und Vereinfachung. Nachfolgende Abbildungen 2.4 und 2.5 eignen sich, um dennoch einen Eindruck von dem flickenteppichartigen Bau des Untergrundes Europas zu geben.
Abb. 2.4 Geotektonische Gliederung Europas (aus Glaser et al. 2007).
Abb. 2.5 Der Untergrund des variszischen Europas – tektonische Strukturen (aus Frisch & Meschede 2009).
Abb. 2.6 Variszische Strukturen in Mitteleuropa (aus Glaser et al. 2007).
Man beachte zum Beispiel, dass quer durch Mitteleuropa die „rheische Sutur“ (Abb. 2.5), eine variszische Kontinent-Kontinent-Kollision, verläuft, oder wie deutlich die Tornquist-Linie als Teil der Tornquist-Teisseyre-Zone heraussticht, von der an der Oberfläche nichts zu sehen ist – trotz zu erwartenden isostatischen Aufstieges dieses Troges mit bis über 50 Kilometer Krustenmächtigkeit.
Die klassische Gliederung des variszischen Gebirges in Mitteleuropa nach Kossmath (1927, zit. n. Rothe 2009) umfasst von Nordwesten nach Südosten die vorvariszische Saumtiefe, das Rhenoherzynikum einschließlich Rheinischem Schiefergebirge und Harz, das Saxothuringikum einschließlich der nördlichen Phyllitzone an seinem Nordwestrand und der mitteldeutschen Kristallinschwelle (mit nur relativ kleinflächigen Kristallinausbissen im Odenwald, dem Spessart und der Ruhlaer Serie) und das Moldanubikum mit paläozoischen metamorphen und plutonischen Gesteinen in Schwarzwald und Vogesen sowie in der Böhmischen Masse. Probleme bereitete die Abgrenzung und Zuordnung des metamorphen Tepla-Barrandiums in Mittel- und Ostböhmen. Die Münchberger Masse, ein Fremdkörper im Saxothuringikum, und die „Zone Erbendorf-Vohenstrauß“ (ZEV) im Moldanubikum werden heute als Deckenreste des Tepla-Barrandium angesehen (Exkurs 1). Dafür sprechen besonders die Lagerungsverhältnisse mit inversem Metamorphosegrad an der Münchberger Gneismasse: Der am höchsten metamorphe Eklogit des Weißensteins bei Stammbach liegt über geringer metamorphen Gneisen, was nur durch Krustenstapelung infolge Deckenüberschiebung erklärbar ist (Peterek & Rohrmüller 2010). Demnach hätte die Decke des Tepla-Barrandiums das Fichtelgebirge im Saxothuringikum ebenso überfahren wie den Oberpfälzer Wald im Moldanubikum. Die hier dargestellte Gliederung liegt der Abbildung 2.6 (Glaser et al. 2007) zugrunde.
Eine neuere, vor allem in Bezug auf das Tepla-Barrandium verschiedene Interpretation wird nach speziellen Studien in den Vogesen durch Edel et al. (2013) gegeben. Danach wurde das Tepla-Barrandium am Fränkischen Lineament weit nach Nordwesten verschoben und setzt sich heute im Untergrund der Süddeutschen Scholle nach Südwesten bis in die nördlichen Vogesen als Tepla-Barrandian-Kraichgau-Zone fort. Man darf gespannt sein, ob weitere Untersuchungen diese Ansicht bestätigen können.
Unabhängig davon bleibt die Feststellung, dass die mitteleuropäische Kruste sehr stark gestört und inhomogen, zudem im Vergleich zum Baltischen Schild auch ausgedünnt ist. Über Inhomogenitäten des oberen Erdmantels unter Mitteleuropa lassen sich vor allem anhand der Untersuchung vulkanischer Förderprodukte Vermutungen anstellen (Ulrych et al. 2013, 2016), das Wissen darüber ist aber noch nicht gesichert.
Für die Erklärung der Oberflächenformen stellt sich aber aus dem Gesagten die entscheidende Frage: Wie reagiert alte, unterkühlte, tektonisch stark beanspruchte und dadurch inhomogene Kruste auf neue Beanspruchung durch Intraplattentektonik?
In Bezug auf die Geomorphologie der außeralpinen mitteleuropäischen Mittelgebirge wird diese Fragestellung nun konkretisiert, um den beobachtbaren und schon seit Ende des 19. Jahrhunderts beschriebenen Stockwerkbau zu erklären. Wie oben diskutiert ergeben sich drei Möglichkeiten: erstens Bruchstufentheorie, zweitens Zyklentheorie nach Davis (1912) und drittens Piedmonttreppentheorie nach W. Penck (1924)
Zyklentheorie und Piedmonttreppentheorie wurden einerseits bereits als eher nicht hinreichend bezeichnet, andererseits wurde für die Hypothese, dass die Rumpfstufen lediglich Bruchstufen darstellen, die durch lang andauernde Erosion undeutlich geworden sind, ein Mangel an Beweisen aufgezeigt. Hinzu kommt das Problem, dass Brüche auch durch Flexuren ersetzt sein können, wodurch der Kontakt zwischen verschieden hoch gelegenen Rumpfflächen kaum in Form einer Landstufe erwartet werden kann (Zöller 1984).
Für die Ausgangsfrage „Ist endogene und/oder exogene Formung für die Existenz der Piedmonttreppe bzw. Rumpfstufen verantwortlich?“ stehen grundsätzlich zwei Lösungsansätze bereit: erstens geomorphologisch: Aus Hangformen wird auf (Neo-) Tektonik geschlossen (W. Penck, H. Louis, J. Büdel). Zweitens physikalisch: Denudationsgeschichte wird aus Zeit-Temperatur-Pfaden erschlossen (Thermochronologie). Beim physikalischen Lösungsansatz kommen für geomorphologische Fragestellungen nur Methoden der Niedrigtemperatur-Thermochronometrie infrage (Exkurs 2), konkret die Uran-Spaltspuren-Methode (kurz FT von Fission Track) und neuerdings die Uran-Thorium-Samarium-Helium-Methode, kurz (U, Th, Sm)/He (Exkurs 2).
↗ Exkurs 1 auf der Internetseite des Verlags: www.wissenverbindet.de