Читать книгу Auch eine Rosine hat noch Saft - Luise Lunow - Страница 10

Erna – ein Leben ohne Beine

Оглавление

In dieser Zeit war eine Freundin meiner Mutter – unsere Tante Erna – eng mit unserer Familie verbunden. Sie war als 17-jähriges Mädchen von ihrem Freund schwanger geworden – zu jener Zeit eine unerhörte Schande. Ihre Eltern waren entsetzt und machten ihr schwere Vorwürfe. Und obwohl ihr Freund sie liebte und sie schnell heiraten wollte, stürzt sie sich eines Abends verzweifelt und voller Panik vor einen Zug, der ihr beide Beine bis obenhin abfuhr. Bewusstlos blieb sie eine ganze Nacht lang unbemerkt im Gebüsch neben den Gleisen liegen. Erst am nächsten Morgen entdeckte man sie und wie durch ein Wunder war sie nicht verblutet. Sie wurde gerettet, aber das Kind musste ihr abgenommen werden und ihr Freund trennte sich von ihr. Trotz ihres schweren Schicksals imponierte sie mir meine ganze Jugend hindurch mit ihrem Optimismus, ihrer Lebensfreude und ihrem Lachen, das sie wiedergewonnen hatte. All ihre Kraft, die sie für ihr ungeborenes Kind gebraucht und nicht gehabt hatte, fand sie nun zurück. Mit ihren beiden Prothesen und zwei Krücken stieg sie jede Treppe hoch, kam zu unseren Geburtstagen, unternahm mit ihrem Rollstuhl Reisen, ging ins Theater und konnte selbst nicht mehr begreifen, wie leicht sie einmal ihr Leben wegwerfen wollte. Wenn sie bei uns übernachtete, schnallte sie ganz selbstverständlich ihre Beinprothesen ab und bat mich, sie an die Wand zu lehnen. Etwas beklommen sah ich dann auf ihre Beinstümpfe und die Prothesen, aber sie machte ein paar witzige Bemerkungen über ihre »Holzstelzen«, lachte und machte sie damit ganz selbstverständlich zur Normalität. Nur wenig später im Krieg begegnete ich überall auf den Straßen verwundeten Soldaten, die Arme oder Beine verloren hatten, und auch dieser Anblick gehörte bald zum Kriegsalltag.

Meine Tante lernte nach dem Krieg einen Mann kennen, dem eine Granate beide Arme weggerissen hatte. Sie heirateten und haben sogar ihren Haushalt selbst bewältigt, gekocht, sauber gemacht, Wäsche gewaschen und gemeinsam eingekauft. Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl und lud ihn voll mit den Einkaufstaschen, die sie dann beide in die Wohnung schleppten. Und da er keine Arme hatte und sie an zwei Krücken ging, benutzten sie Umhängetaschen. Mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit und großem Einfallsreichtum schafften sie sich trotz ihrer Behinderungen ein glückliches und selbständiges Leben. Später, als sie alt waren und nicht mehr allein für sich sorgen konnten, mussten sie in ein Pflegeheim, aber da es damals in der DDR nur getrennte Heime für Männer und Frauen gab, bekamen sie kein gemeinsames Zimmer, sondern wurden in verschiedenen Häusern untergebracht. Alt und behindert war es ihnen unmöglich, sich gegenseitig zu besuchen, und so wurden sie für das Ende ihres Lebens getrennt. Jeder starb für sich allein – ohne dass sie sich noch einmal wiedersehen konnten.

Auch eine Rosine hat noch Saft

Подняться наверх