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Die Russen kommen

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Der harte Winter 1942/43 hatte die Wende im Russland-Krieg mit den Kämpfen um Stalingrad und im Februar 1943 mit dem Fall von Stalingrad und dem Tod oder der Gefangenschaft von hunderttausenden deutscher Soldaten gebracht. Ich erinnere mich an den Tag, als die Nachricht von der Niederlage bei Stalingrad kam und unsere Musiklehrerin Frau Lorenz während des Unterrichts weinend vor unserer Klasse stand; sie hatte gerade die Nachricht erhalten, dass ihr einziger Sohn vor Stalingrad gefallen war.

1945 kam die Front nun unaufhaltsam näher, die Fähnchen auf unserer Landkarte, die den Verlauf der Front anzeigten, rückten täglich ein Stückchen weiter in Richtung Berlin. Ab Januar zogen bei eisiger Kälte wochenlang endlose Trecks mit Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten, aus Ostpreußen oder Westpreußen, aus Pommern und Schlesien durch unsere Stadt, meist zu Fuß mit Kinder- oder Handwagen, voll­gepackt mit dem Wenigen, was sie retten und tragen konnten. Die nicht mehr gehfähigen Großeltern und kleineren Kinder saßen oben auf den völlig überfüllten Wagen, die oft genug die Last nicht mehr aushielten und zusammenbrachen. Meist endete ihr Weg am Abend in einer unserer Schulen oder Turnhallen. Wir Kinder sahen voller Staunen auf die erschöpften, ausgehungerten und völlig übermüdeten Menschen, die dann auf Pritschen oder sogar auf der Erde liegend froh waren, sich wenigstens für ein paar Stunden ausruhen zu dürfen, und für die wir zuvor stundenlang Brote geschmiert hatten, bevor sie am nächsten Morgen weiter ins Ungewisse ziehen mussten. Nur wenige hatten das Glück noch irgendwo in einer Wohnung unterzu­kommen, meist mit der ganzen Familie in einem einzigen Zimmer, aber sie hatten erst einmal ein Dach über dem Kopf und mussten nicht weiter. Alle Einwohner waren bereit zu helfen und rückten enger zusammen, nur der Pfarrer unseres Ortes, der immer so von Nächstenliebe gesprochen hatte, weigerte sich, in seinem Einfamilienhaus Flüchtlinge aufzunehmen. Das konnte niemand verstehen …

Eines Tages hieß es, die Russen sind kurz vor Berlin, aber drei Ausflugsschiffe stehen in Potsdam bereit, um Frauen und Kinder über die Havel nach Brandenburg und weiter Richtung Westen zu bringen. Meine Mutter wollte in Panik sofort mit uns Kindern weg, aber meine Großeltern haben sie angefleht, kein Risiko einzugehen und zu bleiben. Welches Glück für uns, denn alle drei Schiffe wurden bombardiert und sind mit den vielen Flüchtlingen an Bord untergegangen.

Ab Januar '45 wurden die Fliegeralarme zum Daueralarm und wir lebten nur noch notdürftig versorgt Tag und Nacht im Keller. Wir hatten alle schreckliche Angst vor den Russen und haben tagelang im Radio die furchterregenden Nachrichten über die näher rückende Front gehört. Das Wummern der Geschütze in unserer unmittelbaren Nähe wurde immer lauter und hörte bald gar nicht mehr auf. Alle noch verfügbaren Männer – oft noch halbe Kinder von 15/16 Jahren und alte Männer – wurden zum letzten Aufgebot, dem Volkssturm, eingezogen. Schon zuvor wurden die Jungen von der Schule weggeholt und mussten als Flakhelfer die Fliegerabwehrkanonen bedienen helfen, die überall auf den Dächern standen und die bevorzugtes Ziel für Tiefflieger und Bomben waren. Zum Entsetzen der zurückbleibenden Frauen und Mütter wurden sie nun – kaum ausgebildet – mit Panzerfäusten ausgerüstet, sollten Panzersperren errichten und wurden in den Kampf geschickt. Wer sich entziehen wollte, wurde unweigerlich erschossen oder noch in letzter Minute aufgehängt mit einem Schild um den Hals »Ich bin ein Feigling«.

Noch heute erinnert eine Tafel am Berliner Bahnhof Friedrichstraße an zwei junge Soldaten, die unmittelbar vor Kriegsende wegen ihrer »Feigheit« von fanatischen SS- Leuten aufgehängt wurden.

In Schwerin gehe ich bei jedem Besuch zum großen Bahnhofsvorplatz mit der Laterne, an der am 2. Mai 1945, wenige Tage vor Ende des Krieges, die junge Lehrerin Marianne Grunthal für ihre Worte nach Hitlers Tod »Gott sei Dank, dann gibt es Frieden« von entmenschten SS-Leuten aufgehängt wurde. Der Platz trägt heute ihren Namen.

Eines Tages im Frühling vernahmen wir entsetzt die seltsam vibrierenden, singenden Geräusche von Panzern, die immer näher kamen, und dann hieß es plötzlich, die Russen sind bereits am Stadtrand, aber Babelsberg soll kampflos übergeben werden. Es war der 25. April 1945 und der Ring um Berlin war geschlossen worden, vereinzelt liefen noch deutsche Soldaten durch die Straßen, aber die Frauen riefen ihnen zu: »Nicht mehr schießen, nicht mehr schießen!« – schon hingen die ersten weißen Betttücher aus den Fenstern, doch immer wieder wurde aufgeregt gewarnt: »Nehmt die Tücher weg, sonst werdet Ihr aufgehängt!!« …

Dann: Schlagartig Stille. Es war fast kurios: Wir alle – Kinder, Frauen, alte Leute – laufen in dieser höchst gefährlichen Situation aus den Kellern auf die Straße, stehen links und rechts an der mitten durch den Ort führenden Großbeerenstraße und hören die Schreckensnachricht: Die Russen sind schon am Ortseingang!

Es ist unglaublich, aber alle bleiben an der Straße stehen, auch ich stehe mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester am Straßenrand, doch alle hatten wahnsinnige Angst, es könnte noch irgendein Fanatiker aus einem Fenster schießen oder eine Handgranate werfen und damit einen Häuserkampf provozieren.

Plötzlich – kilometerweit zu sehen – ein russischer Soldat – er läuft mit schuss­bereiter Maschinenpistole mitten auf dem Damm aus Richtung Drewitz kommend an uns vorbei die Großbeerenstraße entlang, gefolgt von einem Offizier auf einem Motorrad und einem Panzer mit oben aufsitzenden Soldaten mit Maschinenpistolen.

Noch heute unvorstellbar: Wir stehen in dieser gefährlichen Situation wie versteinert am Straßenrand, keiner sagt ein Wort, niemand schießt – Babelsberg ist tatsächlich ohne Kampf übergeben worden.

Danach kam die kämpfende Truppe der russischen Soldaten. Wir hatten große Angst vor den doch sehr fremdartig und meist recht furchterregend aussehenden Männern, denen schreckliche Geschichten vorauseilten, und versteckten uns zitternd im Keller. Sie durchkämmten mit der Maschinenpistole in den Händen die Häuser auf der Suche nach deutschen Soldaten und wir hatten großes Glück; in unserem Haus wurde niemand verletzt, niemand vergewaltigt, nur einige Uhren wurden mitgenommen. Im Hause meiner Großeltern aber wurde die dort lebende Nichte ihrer Nachbarn, die 16-jährige, mit ihren langen dunklen Haaren bildhübsche Ellen von russischen Soldaten mitgenommen und, als sie zu fliehen versuchte, auf der Straße erschossen.

Auf unseren Nuthewiesen stellten die Russen ihre berüchtigten Stalinorgeln mit ihrem unerträglich pfeifend, sirenenhaft singenden Geheul auf und dann schickten sie Tag und Nacht ihre Raketen auf die Stadt Potsdam, die noch von deutschen Soldaten verteidigt wurde, und von dort schoss die deutsche Artillerie ihre Granaten zurück. Wir saßen weiter völlig verängstigt im Keller. Kurz darauf wurde von deutschen Soldaten die Lange Brücke gesprengt, um den russischen Truppen den Weg nach Potsdam zu erschweren. Sie war die wichtigste Verbindung über die Havel von Babelsberg nach Potsdam und zu dieser Zeit war sie voll mit Menschen, die vor den Russen flüchteten wollten. Ohne Rücksicht auf die dort laufenden Frauen und Kinder wurde sie einfach in die Luft gejagt. Auch eine Klassenkameradin von mir kam dabei ums Leben.

In den kurzen Feuerpausen stellten wir uns beim Bäcker nach Brot an, immer voller Angst von einer Granate getroffen zu werden. Kaum ging der Beschuss wieder los, stob die ganze Warteschlange auseinander und jeder suchte Schutz in einem nahen Keller. Es war ein verrücktes Leben, aber immer mit der großen Hoffnung, bald ist alles vorüber, bald ist Frieden.

Ein paar Tage später wurde das zerstörte Potsdam von den Russen eingenommen. Aber immer wieder wurden Parolen verbreitet »Der Werwolf kommt zurück, nehmt Eure weißen Tücher von den Fenstern, sonst erschießen sie Euch«. Der Werwolf, das waren fanatische deutsche Soldaten, die nach dem Einzug der Russen Angst und Schrecken unter der Bevölkerung verbreiteten, weil sie androhten jeden zu erschießen, der sich den russischen Truppen ergibt. Auch wir in unserem Haus hatten Angst – aber vor allem vor den russischen Soldaten. Wir schlossen das große Hoftor ab und versteckten alles Wertvollere, was wir noch besaßen, im Keller unter Kohlen oder hinter Bretterwänden, u.a. auch mein Akkordeon, das die ersten durchziehenden Soldaten schon sehr aufmerksam betrachtet hatten, aber als kämpfende Truppe nicht mitnehmen konnten. Eines Tages wummerten wieder Soldaten an das Tor und brüllten, dass wir aufmachen sollten. Nach längerem Herauszögern öffnete ein älterer Mann aus unserem Haus das Tor, worauf sie hereinstürmten und »Akkordeon, Akkordeon« riefen.

Meine Mutter hatte unser Akkordeon zwar inzwischen gut versteckt, aber aus Angst gab sie es gleich heraus und sie zogen glücklich mit ihrer Beute ab. Akkordeons waren bei den russischen Soldaten äußerst beliebt und man hört sie überall bei ihren Siegesfeiern auf der Straße.

Auch eine Rosine hat noch Saft

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