Читать книгу Auch eine Rosine hat noch Saft - Luise Lunow - Страница 9
Familie
ОглавлениеWir waren eine große, harmonische Familie – meine Großeltern mütterlicherseits, ihre beiden Töchter Alice und Hertha, ihr Sohn Berthold und die fünf Enkelkinder, von denen ich die älteste war, sowie die Schwiegersöhne Alfred und Fritz und die Schwiegertochter Anni. Wir kamen zu jedem Fest, zu jedem Geburtstag bei den Großeltern zusammen. Frisch gebadet und in unseren Sonntagskleidern feierten wir den Heiligabend gemeinsam und hatten Spaß am Respekt gebietenden Weihnachtsmann, den jahrelang meine Mutter Hertha spielte, die immer gerade dann noch ein paar Besorgungen machen musste, wenn in der Zwischenzeit der Weihnachtsmann erschien. Alle haben wir brav unsere Gedichte aufgesagt und gemeinsam Weihnachtslieder gesungen und auch später, als wir wussten wer der Weihnachtsmann war, haben wir dieses Spiel mitgemacht, weil es so aufregend war und erst die richtige Weihnachtsstimmung verbreitete.
Selbst in der Kriegs- und Nachkriegszeit gab es – woher auch immer – Mohnpiel, unser traditionelles Gericht aus geriebenem Mohn, eingeweichten Brötchen, Milch, Rosinen, Zucker und Nüssen. Eine große Reibesatte stand extra dafür bereit und in ihr wurde der Mohn stundenlang mit einer dicken Keule »weichgerieben«. Ich weiß nicht, wie unsere Oma damals die Zutaten heranschaffte, aber sie war eine Zauberkünstlerin im Überleben, und selbst in der schlechten Zeit wurden immer Plätzchen gebacken, zuerst sogar aus Kartoffeln, Mohrrüben, Rübensirup und Bucheckern. Immer stand etwas zu essen auf der Weihnachtstafel und der Weihnachtsbaum, den wir aus dem Wald holten – manchmal war es nur eine ziemlich verwachsene »Krücke«, die wir fanden – wurde von meiner Oma mit besonders schönem, alten Baumschmuck geschmückt, mit bunten Körbchen aus Blech, originellen Kugeln, viel Lametta und natürlich mit echten Kerzen. Dazu klimperte ein altes Symphonium Weihnachtslieder. Unsere Puppen hatte der Weihnachtsmann ein paar Wochen vorher abgeholt, um sie uns dann neu eingekleidet wiederzubringen. Auch ein von meiner Mutter aus einem alten aufgetrennten Pullover neu gestrickter Pulli für mich, ein paar eingetauschte, fast neue Schuhe, ein aus einer alten Decke genähter Mantel oder auch ein Buch waren wunderbare Geschenke, über die ich glücklich war. Natürlich haben auch wir Kinder damals in den Wochen vor dem Fest gebastelt, gesägt und gemalt, um Eltern und Großeltern eine Freude zu machen.
Und alles spielte sich in einem einzigen Zimmer, dem Wohn- und Schlafzimmer meiner Großeltern, ab; in einem zweiten Zimmer lebte damals ihre Untermieterin Fräulein Helene Ließner, eine alleinstehende ältere Dame. Während der letzten Kriegsjahre lebten auch noch mein Cousin und meine Cousine bei ihnen, weil deren Wohnung in Berlin durch Bomben schwer beschädigt worden war. Aber komisch, es war immer genug Platz für alle da, wir hatten nie das Gefühl, dass es zu eng sei, und benutzten den langen Korridor für unsere Spiele – sicher nicht gerade zur Freude der Nachbarn, die sich aber erstaunlicherweise nie beschwert haben.
Das alte Fräulein von Puttkammer wohnte über meinen Großeltern; sie war die ehemalige Hausdame bei Familie Pitsch, über die noch zu reden sein wird. Sie kam nachmittags oft zu uns ins Wohnzimmer und dann spielten wir gemeinsam mit meiner Oma Karten oder »Mensch ärgere dich nicht«. Sie war eine sehr vornehme alte Dame mit weißem Haar und legte besonderen Wert auf gute Manieren. Wir Kinder fanden das zwar lästig, aber so manche Lektion ist dabei doch bei uns angekommen, und um sie nicht zu verstimmen, haben wir uns bemüht, uns wenigstens einigermaßen gut zu benehmen – und nur hin und wieder zu schummeln.
Freitags war bei meinen Großeltern stets das Badefest für die gesamte Familie. Dann wurde der Badeofen geheizt und wir Enkel kamen nacheinander ins Badewasser, manchmal auch miteinander und das war dann immer ein großes Geschrei und Gespritze, bis das ganze Badezimmer zum Entsetzen meiner Großmutter unter Wasser stand. Anschließend zogen wir uns frische, wunderbar duftende Wäsche an und alle drei Wochen oder vier Wochen wurden an diesem Tage die Betten neu bezogen und das wohlige Gefühl in frisch gewaschener Bettwäsche schlafen zu dürfen, hat sich bis in die heutige Zeit erhalten.
Zum Wäschewaschen mussten wir – das heißt meine Oma und meine Mutter – hinunter in die Waschküche im Keller, wo der große Waschkessel stand, der mit Holz und Kohle beheizt wurde und wo sie die Wäsche noch per Hand mit Kernseife auf dem großen Waschbrett bearbeitet haben. Eine schwere, anstrengende Arbeit war das, denn die Waschküche stand nur alle drei bis vier Wochen für die einzelne Wohnung zur Verfügung und entsprechend groß war der Wäscheberg für die ganze Familie. Je nach Jahreszeit wurde die Wäsche dann im Hof oder oben auf dem Wäscheboden zum Trocknen aufgehängt, was allerdings im Krieg wegen der Brandbomben-Gefahr verboten war, sodass die Wäsche im Winter draußen oft steif gefroren war und wir Kinder aus Spaß Hosen und Hemden wie Figuren auf die Erde stellten.
Anschließend fuhren wir sie mit dem Handwagen zur Rolle, wo dann die großen Stücke wie Bettwäsche oder Tischtücher mit einer schweren Handkurbel glatt gerollt wurden. Kein Wunder, dass die Waschtage zu den gefürchtetsten in jedem Haushalt gehörten.
Zu den Festtagen wurde eine große Tafel gedeckt und dabei ging es oft sehr lustig zu – besonders Tante Anni aus Prenzlauer Berg mit ihrer großen Berliner Schnauze trug zur allgemeinen Erheiterung bei und erzählte unzählige spannende Geschichten aus ihrem Leben, die uns Kinder vor Lachen fast unter den Tisch warfen. Die Männer spielten stundenlang Schach – mit Zigarette oder noch besser Zigarre im Mund, und Opa rauchte seine Pfeife, die er selten ausgehen ließ und immer wieder bedächtig neu stopfte, später, nach dem Krieg, sogar mit selbst gezogenem und auf einer Leine im Wohnzimmer getrocknetem Tabak.
Bei einem solchen Fest an einem Nachmittag langweilten wir Kinder uns und kamen auf den Einfall, zum gegenüberliegenden Bahnhof zu gehen, mit der S-Bahn nach Potsdam zu fahren, dort in den Fernzug Richtung Berlin zu steigen, der in Wannsee halten musste, und dann mit der S-Bahn zurück nach Babelsberg zu kommen. Wir waren drei, vier, sechs, sieben und neun Jahre alt, lösten also zwei Fahrkarten nach Potsdam zu je 20 Pfennige für uns beiden Größeren, stiegen in die S-Bahn und in Potsdam in den nächsten D-Zug Richtung Berlin. Wir blieben im Gang stehen und kein Kontrolleur befragte uns, da man glauben konnte, wir gehörten zu den übrigen Fahrgästen. Wir fuhren an Omas Wohnung vorbei und freuten uns wie die Schneekönige, als wir die nichtsahnende Verwandtschaft durchs offene Fenster im Zimmer sitzen sahen. Gleich würden wir in Wannsee sein und umsteigen in die S-Bahn, um zurückzufahren. Aber – oh Schreck – der Zug durchfuhr den Bahnhof Wannsee und hielt auch nicht in Grunewald oder Charlottenburg. Langsam verging uns das Lachen. Endlich Bahnhof Zoo – der Zug hielt. Wir rannten zum S-Bahnsteig, aber – wir hatten keine Fahrkarten für die Rückfahrt und kein Geld!! Und es war inzwischen auch schon dunkel geworden, die Familie würde uns suchen! Damals gab es ja noch die Sperre mit einem Knipser und Kontrolleur am Eingang zum Bahnsteig. Wir überlegten aufgeregt und kamen endlich zu dem Schluss: Wir müssen betteln! Also gingen mein ältester Cousin und ich zu den Leuten am Bahnhof und sagten: »Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht zehn Pfennige für uns, wir haben keinen Fahrschein und müssen nach Hause.« Einige Leute schüttelten den Kopf, aber andere gaben uns das Geld, beobachten aber genau, ob wir wirklich Fahrkarten kaufen würden. Glücklich und erleichtert fuhren wir die 40 Minuten lange Strecke nach Babelsberg zurück, klingelten zu Hause und sahen, dass alle noch am Kaffeetisch saßen, plauderten und nicht mal bemerkt hatten, dass wir fast drei Stunden lang verschwunden waren. Erzählt haben wir die Geschichte erst viel später – sonst hätte es wohl doch noch ein Donnerwetter gegeben.