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Ein Spatz, ein Dorf und andere Begebenheiten

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In meine Klasse ging während der Kriegsjahre ein Mädchen, das aus einem Dorf bei Stendal kam und das vorübergehend bei ihrer Tante in Potsdam lebte, um eine bessere Schulbildung zu erhalten. In ihrem Dorf Niedergörne bei Arneburg gab es nur eine Ein-Klassenschule, in der ihr Vater der Schulmeister und zugleich der Schäfer des Dorfes war. Sie hieß Edith Baucke, war ein liebes, intelligentes, rotbäckiges Mädchen, und wir freundeten uns bald an.

Kurz vor Ende des Krieges, als Potsdam bei dem großen Bombenangriff zerstört wurde, holten ihre Eltern sie besorgt wieder nach Hause zurück. Wir schrieben uns regelmäßig, und ein paar Monate nach Ende des Krieges lud sie mich ein, in den Ferien ein paar Wochen in ihrem Dorf zu verbringen, um mich mal wieder richtig satt essen zu können. Ich freute mich wahnsinnig, denn trotz der bei Kriegsende erbeuteten, gehamsterten oder auf andere Weise herangeschafften Lebensmittel litten wir unter großem Hunger. Selbst Kartoffelschalen und Brennnesseln wurden gekocht, Bucheckern gesucht und mühsam ausgepalt. Alles, was irgendwie entbehrlich war – Wäsche, Bestecke, Teppiche, Kleidung, Schmuck – wurde unter großen Schwierigkeiten auf dem Lande beim Bauern gegen etwas Essbares, also Kartoffeln, Eier, Speck oder Mehl getauscht, meist weit unter dem Wert, aber wir hatten keine Wahl und wollten leben. Wir hingen dabei wie die Affen auf Trittbrettern und Dächern der völlig überfüllten Vorortzüge, die aber glücklicherweise nicht sehr schnell fuhren, sonst hätten sie uns unterwegs wie reife Pflaumen abgeschüttelt. Wie stolz waren wir, wenn wir einen halben Rucksack mit Kartoffeln nach Hause brachten, und oft waren die sogar geklaut, das heißt, wir haben sie heimlich von den Feldern gestoppelt und durften uns dabei nicht von den Bauern erwischen lassen.

Ich erinnere mich, dass ich in dieser Zeit bei einer anderen Schulfreundin, die aufs Land gezogen war, zum Essen eingeladen wurde. Wir aßen im Wohnzimmer und auf jedem Teller lag ein kleiner Braten, also in dieser Zeit eine große Delikatesse, und wir verspeisten alles bis auf den letzten Brocken. Kurz nach dem Essen brachten wir das Geschirr in die Küche. Dort sah ich auf dem Tisch einen ganzen Berg dunkelgrauer Federn liegen. Ich fragte, was das für Federn seien. Meine Freundin sagte, ach, das sind nur die Federn von den Spatzen, die wir eben gegessen haben … Mir ist noch heute übel, wenn ich daran denke, obwohl ich zugeben muss, dass mir der kleine Spatz damals sehr gut geschmeckt hat.

Eines Tages, in den Herbstferien, fuhr ich der Einladung meiner Freundin Edith folgend allein mit dem Zug bis nach Arneburg bei Stendal, wo mich meine Freundin und ihr großer Bruder Fritz mit dem Pferdefuhrwerk vom Bahnhof abholten und mit mir nach Niedergörne fuhren. Es war ein ganz winziges Dorf mit nur wenigen Häusern, selbst die Einklassenschule war inzwischen stillgelegt worden. Die Eltern hatten einen kleinen Bauernhof, empfingen mich dünnen, blassen Stadtmenschen sehr liebevoll und warmherzig und wollten mich erst mal wieder aufpäppeln. Natürlich musste jeder auf dem Hof und auf dem Feld mithelfen, und so ging ich mit aufs Feld, half auf dem Hof, hütete die Schafe und sah zu, wie man »butterte«, also in einem Holzgefäß aus der Sahne die Butter schlug. Ich bekam frische Milch zu trinken, wunderbare nahrhafte Eintöpfe und Kartoffeln mit Fleisch und Gemüse zu essen, alles Dinge, die es zu Hause schon lange nicht mehr gab. Ich fühlte mich richtig wohl.

Nur einmal erlebte ich Stadtmensch einen Schock. Die große Schäferhündin hatte Junge bekommen. Sechs süße kleine Knuddeltiere. Eines Tages waren sie verschwunden. Ich fragte, wo sie denn seien. Ach, die sind weg, wurde mir geantwortet. Etwas später brachte ich Abfall zum Misthaufen. Dort lagen die sechs, erschlagen, mit blutigen Mündern. Ich war entsetzt. Aber man sagte mir, so sei das nun mal auf dem Land mit jungen Hunden – und junge Kätzchen würden in der Wassertonne ertränkt …

Die ersten zwei Wochen vergingen wie im Flug. Ich schlief mit Edith in ihrem Bett und abends redeten wir noch stundenlang, bis wir todmüde einschliefen. Eines Tages bemerkte ich, dass es an meinen Beinen und Armen zu jucken begann und sich rote Stellen bildeten, die sich zu schmerzenden Eiterbeulen entwickelten. Ich fühlte mich hundeelend und schwer krank. Auch Edith und ihre Eltern waren erschrocken. Sie vermuteten, dass ich das ungewohnte gute Essen nicht vertrage und deshalb mein Körper rebellierte. Ich musste unbedingt zu einem Arzt und so beschlossen wir, dass ich am besten auf schnellstem Wege nach Hause zurückkehren sollte. Sie fuhren mich wieder mit dem Pferdefuhrwerk bei strömendem Regen zum Bahnhof und ich nahm todkrank den nächsten Zug nach Stendal und von da aus den Zug nach Berlin. Dort kam ich aber erst mitten in der Nacht an, und vom Bahnhof Westkreuz fuhr keine S-Bahn mehr nach Babelsberg. Ich war ganz allein auf dem Bahnsteig. Also legte ich mich frierend im Wartehäuschen auf die Bank, deckte mich mit einer Zeitung zu und versuchte trotz der Kälte und des Regens, der durch das Dach tropfte, zu schlafen. Nach einiger Zeit entdeckte mich bei seinem Rundgang die Bahnhofsaufsicht und nahm mich mit in den warmen Aufsichtsraum, wo ich dann bis zum ersten Zug gegen 5 Uhr bleiben durfte. Natürlich war meine Mutter entsetzt, als sie mich sah. Sie ging sofort mit mir zum Arzt, ich fühlte mich sehr krank, hatte Fieber, Schmerzen und konnte meine geschwollenen Beine und Arme kaum noch bewegen. Glücklicherweise schlugen die Medikamente und Salben, die mir der Doktor verordnete, bald an und die schrecklichen Beulen heilten ab. Die Narben konnte man noch lange sehen. Welche Nachkriegsseuche ich mir da aber eingefangen hatte, weiß ich bis heute nicht. Sicher hatte sie etwas mit meinem Aufenthalt auf dem Lande zu tun.

Ein paar Wochen später erwachte ich morgens mit Fieber und starken Halsschmerzen. Zuvor hatte ich oft in dem Buch »Unser Hausarzt« gestöbert und über allerhand Krankheiten und ihre Anzeichen gelesen. Ich schaute also in den Spiegel und sah im Rachen dicke weiße Beläge, worauf ich zu meiner Mutter sagte: »Mutti, ich habe Diphtherie!« Meine Mutter lachte ungläubig und sagte: »Woher willst du denn das wissen«, aber sie ging doch sofort mit mir zu unserem Hausarzt. Der guckte mir in den Hals und sagte kurz und knapp: »Diphtherie. Muss sofort ins Infektions­krankenhaus. Ist sehr ansteckend.« Also fuhr ich mit meiner Mutter trotz des hohen Fiebers und der großen Ansteckungsgefahr für alle anderen Fahrgäste mit der vollbesetzten Straßenbahn nach Potsdam ins Krankenhaus, denn eine andere Fahr­gelegenheit gab es damals nicht. Dort landete ich in einem riesigen Saal mit etwa 20 Betten und lauter erwachsenen Frauen, hörte tolle Liebes- und Lebensgeschichten und weniger für Kinderohren Geeignetes, sodass ich nach zwei Wochen in ein Kinder­zimmer mit einem 2-jährigen kleinen Mädchen verlegt wurde. Ich musste insgesamt sechs Wochen in diesem Krankenhaus bleiben, ohne Besuche, denn da es ein Infektionskrankenhaus war – untergebracht in einer alten Schule –, durften Besucher nur unten auf der Straße stehen. Auch meine Mutter musste draußen bleiben, und so konnten wir uns über all die Zeit nur durch Winken oder lautes Rufen aus dem Fenster verständigen.

Als ich wieder zur Schule durfte, hatte ich eine Menge nachzuholen, denn niemand hatte mich in diesen Wochen mit Hausaufgaben versorgt und meine Lehrerin hat nur kühl gesagt, ich müsste mich allein drum kümmern, den Stoff nachzuholen, sie hätte keine Zeit dafür. Glücklicherweise hatte ich eine Mitschülerin, die mir half den Anschluss zu finden, sonst hätte ich es wohl kaum allein geschafft.

Wie wenig sich unsere damaligen Klassenlehrerinnen um das Wohl der ihnen anvertrauten Schülerinnen kümmerten, bemerkte ich auch am Beispiel einer Mitschülerin, die von der ersten Klasse an ungewaschen und in schmutziger Kleidung in die Klasse kam. Ihr Kopf hatte eine dunkle Dreckkruste, die Haare strähnten und ihr Kleid wurde nie gewaschen, bis es ihr quasi vom Körper fiel. Nie hat eine der Lehrerinnen die Eltern aufgesucht oder die Mutter zu einem Gespräch gebeten, um das an sich intelligente, aber durch ihr Äußeres abstoßende und ausgegrenzte Kind aus ihrer schrecklichen Situation zu befreien. Erst als Inge älter und selbstständiger wurde, hat sie selbst mehr auf ihr Äußeres geachtet und sich und ihre Kleidung selbst gewaschen. Als ich sie einmal nach Hause begleitete, war ich über den Zustand der Wohnung entsetzt, in der sie mit ihren Eltern und drei Geschwistern lebte. Die ungemachten Betten hatten keine Bezüge, sie schliefen alle in den schmutzigen Inletts, die Mutter saß im Zimmer und las oder strickte, während alles um sie herum verdreckt und unaufgeräumt war. Als die Kinder größer wurden und selbst ihre Umwelt wahrnahmen, haben sie alle mitgeholfen, sich und die Wohnung einigermaßen in Ordnung zu halten, aber die körperliche Verwahrlosung ihrer frühen Jahre hatte niemand verhindert.

Noch eine schreckliche Erinnerung habe ich an Inge und ihre Familie. Ich hatte mir als etwa 8-jährige von meinem Taschengeld zwei weiße Mäuse gekauft, mit dem zur Aufbewahrung geeigneten Glasbehälter und etwas Spielzeug für sie. Ich fütterte die beiden lustigen Mäuse und beobachtete sie voller Freude bei ihrem Spiel mit dem Laufrad. Was ich allerdings nicht bedacht hatte, war, dass sie sich in Windeseile vermehrten und ehe ich mich versah, hatte ich statt der zwei Mäuse zehn, zwanzig, ja, immer mehr kamen hinzu. Meine Mutter sah das mit Sorge und empfahl mir, die Tiere doch auch an Schulfreundinnen zu verschenken. Inge war gleich bereit, die gesamte Mäusefamilie zu übernehmen, und nahm sie freudestrahlend mit nach Hause. Ihr Vater sah die Mäuse, nahm ihr den Behälter aus den Händen und schütte den gesamten Inhalt mit den Tieren in den brennenden Ofen. Weinend erzählte mir Inge am nächsten Tag die Geschichte und mir wird noch heute schlecht, wenn ich an diese schreckliche, grausame Handlung ihres Vaters denke. Obwohl ich ihn kaum kannte, habe ich ihn dafür gehasst.

Auch eine Rosine hat noch Saft

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