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Frieden

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Bis zum 2. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation, gingen die Kämpfe in unserer näheren Umgebung weiter. Dann war plötzlich Ruhe – kein Geschützdonner mehr, keine Bomben – es ging wie ein Lauffeuer durch die Straßen – es ist Frieden. Keine Glücksschreie, kein Freudentaumel, nur grenzenlose Erschöpfung und Dankbarkeit bei uns, dass wir alles lebend überstanden hatten. Von den russischen Soldaten drangen Freudengesänge, Lachen und Ziehharmonika-Klänge zu uns herüber. Sie waren in einem regelrechten Glücksrausch der Sieger.

Wir krochen endlich aus den Kellern, in denen wir viele Monate fast ausschließlich auf provisorischen Liegen gelebt hatten, zurück in unsere Wohnungen.

Alles war dort sehr ungemütlich: Die Möbel und unsere Betten waren mit Decken und Tüchern gegen die Splitter abgedeckt, alles Entbehrliche wie Geschirr, Wäsche und Kleidung war in den Keller gebracht worden und es gab weder Wasser noch elektrisches Licht. Obwohl die Fenster mit Pappe vernagelt waren, weil alle Scheiben vom Luftdruck der Bomben und Granaten zerborsten waren und überall abgefallener Putz von den Decken und Wänden herumlag, waren wir glücklich, dass unser Haus noch stand, und begannen langsam unser Leben zu normalisieren. Kerzen ersetzten die Lampen und endlich konnten wir uns auch wieder waschen. Weil die Wasserleitungen noch nicht funktionierten, holten wir das Wasser in Eimern von einer Pumpe auf der Straße, vor der wir stundenlang anstanden. Aber nun gab es keine Bombennächte mehr und ich konnte das erste Mal nach Jahren wieder durchschlafen und mich zum Schlafen ausziehen, denn in den letzten Jahren musste ich immer angezogen ins Bett gehen, um bei Fliegeralarm keine Zeit zu verlieren und ganz schnell in den Keller zu kommen.

Ich erinnere mich an meine Geburtstage in der Kriegszeit. Meine Mutter schaffte es immer, uns Kindern trotz der sehr eingeschränkten Lebensmittelzuteilungen eine Geburtstagstorte zu backen. Die stand dann nachts, wenn die Sirenen heulten, schon auf dem Geburtstagstisch – einmal sogar mit Apfelsinen aus der Sonderzuteilung für die schweren Alarme – und wir schleppten sie mit in den Luftschutzkeller, aus Angst, sie könnte von den Bomben getroffen werden.

Wir Kinder eroberten uns nun vorsichtig wieder unsere Wiesen, kletterten waghalsig über die verrosteten Eisenträger der zerstörten Nuthebrücke und sahen mit Entsetzen die vielen Leichen und toten Tiere, die flussabwärts trieben und sich an der Brücke stauten.

Jetzt war der Krieg vorbei, aber der Hunger war groß und wir mussten sehen, wo wir was zu essen herbekamen. Wenn es hieß, heute gibt es beim Bäcker Brot, dann standen wir oft viele Stunden in einer langen Schlange, um ein halbes Brot zu ergattern. Die Brote wurden meist noch geteilt, damit möglichst viele in der Warteschlange etwas abbekamen. Oft waren sie dann noch ganz klitschig, das heißt innen nass, weil sie nicht richtig durchgebacken wurden, doch wir haben sie mit Heißhunger gegessen, auch wenn uns danach schlecht wurde. Mit dem Zentimetermaß haben wir zu Hause abgemessen, wie viel jeder in der Familie vom Brot abbekommen konnte, und wir hungrigen Kinder wurden dabei immer etwas besser bedacht als Mutter oder Großeltern. Doch wie oft war es ausverkauft, wenn wir an der Reihe waren, und wir mussten hungrig nach Hause gehen …

Alles war zerstört, viele Fabriken brannten. Aber es waren auch Lager mit Lebensmitteln darunter und so holten wir aus einer halb ausgebrannten Mühle in der Babelsberger Straße unter Lebensgefahr einen halben Sack Mehl und ein paar Tüten Zucker und mein Großvater ergatterte eine kleine Kiste Margarine. Natürlich waren überall noch die Plakate, dass Plündern unter Todesstrafe verboten sei, aber es gab nur die Alternative zu verhungern oder zu plündern. In der Nähe vom Brauhausberg brannte eine Fabrik mit jeder Menge Büchsen mit Fleisch, Gemüse, Obst, Marmelade und Suppen. Meine Mutter, meine Tante Alice, mein Cousin Hans-Joachim und ich liefen mit einem Handwagen dorthin; wir kletterten über Schutt in die noch brennende Fabrik, stiegen über die heißen Büchsen hinweg, die unentwegt kochend zerknallten, verbrannten uns die Hände, aber luden trotzdem, so viel wir tragen konnten, auf unseren Wagen. Meine Mutter und meine Tante stellten uns Kinder dann mit dem gefüllten Handwagen etwas seitlich ab, um noch weitere Lebensmittel zu holen, als mein Cousin und ich durch eine Detonation zur Erde geschleudert wurden. Ein Junge hatte ganz in der Nähe von uns mit der überall herumliegenden Munition gespielt. Sie war explodiert und hatte ihn schwer verletzt. Wir sahen entsetzt, wie er schreiend mit großen Brandverletzungen im Gesicht, an Armen und Beinen auf einen Handwagen geladen und weggefahren wurde. Es ist für mich heute noch unfassbar, wie wir Kriegskinder mit der unmittelbaren Gefahr umgingen, in brennende, explodie­rende Fabriken kletterten und unsere Mütter, die immer so besorgt um uns waren, das als selbstverständlich duldeten.

Übrigens war meine Tante Alice eine sehr couragierte Frau. Sie hat bei aller Gefahr im Krieg den kriegsgefangenen Russen durch den Zaun oft Brot und andere Lebensmittel zugesteckt und die haben ihr dann aus Dankbarkeit selbstgefertigte Taschen aus Stroh geschenkt. Einmal hab ich auch eine davon bekommen, wobei mir eingeschärft wurde, mit niemandem darüber zu sprechen.

Mit ihr bin ich unmittelbar nach den Kriegshandlungen nach Potsdam gelaufen, um Brot zu besorgen. Neben der zerstörten Langen Brücke hatten die Russen ein Brücken-Provisorium über die Havel aufgebaut. Überall auf der Straße lagen erschossene Pferde mit aufgeblähten Kadavern, die in der Mai-Hitze jeden Augenblick zu zerplatzen drohten, und an der Ecke, wo das zerstörte Schloss begann, lag mitten auf dem Weg ein junger toter Soldat; er lag da wie im Schlaf, ohne sichtbare Verletzungen, und die Menschen liefen einfach vorbei. Ich musste immer wieder hinsehen und konnte es nicht fassen, dass sich niemand um ihn kümmerte, niemand deckte ihn zu, niemand begrub ihn. Sein Gesicht hat sich mir eingeprägt.

Am nächsten Tag war ich mit meiner Tante im Wald von Steinstücken, wo zuvor die letzten großen Kämpfe zwischen den deutschen und den russischen Soldaten stattgefunden hatten. Das war äußerst gefährlich, denn überall lag Munition herum und wir hätten von russischen Soldaten entdeckt, erschossen oder vergewaltigt werden können. Doch wir begegneten keinem lebenden Menschen. Die Russen hatten ihre Toten bereits weggeschafft, aber überall in den Unterständen, oft noch an Geräten sitzend, in Gräben und davor, lagen die toten deutschen Soldaten. Es waren hunderte. Sie hat ihnen die Erkennungsmarken abgenommen und an eine Sammelstelle gegeben. Wir waren ganz allein dort zwischen den Toten und den Spuren einer der letzten Kämpfe rund um Berlin. Eindrücke, die ich nicht vergessen kann.

Kurze Zeit später wurde im damaligen Ufa-Stadt, einem Teil von Babelsberg, wo die Filmateliers standen und viele der Stars wohnten, ein großer Teil der Villen von den Russen beschlagnahmt. Die Bewohner mussten ihre Häuser sofort ohne Mitnahme ihres Eigentums verlassen und das ganze Gebiet wurde danach weiträumig eingezäunt. Tagelang fuhren russische Lastwagen vollgeladen mit Büchern, Einrichtungs­gegenständen und Kleidung in den Wald von Steinstücken und luden dort den Inhalt der Häuser ab. Nur wenige wussten davon und kaum jemand traute sich damals aus Angst vor den russischen Soldaten in den Wald, um von den Sachen etwas für sich nach Hause zu holen, denn Schilder in russischer und deutscher Sprache untersagten das »Plündern« mit der Androhung »Wer plündert, wird erschossen«.

Auch das Haus, in dem meine Großeltern in Babelsberg lebten, wurde zu dieser Zeit von den Russen beschlagnahmt und sie mussten ihre Wohnung nur mit etwas Handgepäck sofort verlassen. Ihre Nachbarin, Frau Richter, wollte noch ihr Silber retten und in den Keller tragen und wurde dabei auf der Kellertreppe erschossen. In das Haus zogen russische Offiziere mit ihren Frauen ein. Nur wenige Wochen später wurde ein Teil der Wohnungen wieder frei gegeben und meine Großeltern konnten in ihre alte Wohnung zurück.

In der Nebenwohnung lebte noch die russische Offiziersfamilie Besarab mit ihrem wenige Monate alten Sohn Wladimir. Da ich sehr kinderlieb war, habe ich nur kurz nach Beendigung des Krieges das russische Baby spazieren gefahren und einen sehr freundschaftlichen Kontakt zu den Eltern gehabt. Sie luden mich ein, gaben mir von ihrer Offiziersverpflegung zu essen und wir konnten uns sogar verständigen, denn sie hatten in der Schule ein wenig Deutsch gelernt. Als sie nach einiger Zeit in eine andere Stadt versetzt wurden, musste ich wieder Abschied nehmen von meinem kleinen Freund Wladimir und von liebenswerten Menschen, die noch wenige Monate zuvor meine Feinde waren.

Auch eine Rosine hat noch Saft

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