Читать книгу Auch eine Rosine hat noch Saft - Luise Lunow - Страница 12
Geborgenheit
ОглавлениеIch muss noch etwas über die Eltern meiner Mutter erzählen, die mein Leben prägten und bei denen ich einen großen Teil meiner Kindheit und Jugend verbrachte.
Mein Großvater war ein Mann mit eisernen Prinzipien: Täglich um 7 Uhr begann er als Gärtner bei der Familie Pitsch mit der Arbeit, um 11.40 Uhr machte er Mittagspause, Punkt 12 Uhr saß er zu Hause am Mittagstisch, 10 Minuten nach 12 Uhr war er mit dem Essen fertig, 10 Minuten ruhte er auf dem Sofa, 5 Minuten vor halb 1 Uhr fuhr seine Bahn zurück und pünktlich um 12.40 Uhr begann er wieder mit der Arbeit. Er sprach wenig, liebte seine Ruhe und Behaglichkeit und ließ sich rundum von meiner Oma verwöhnen.
Übrigens, während die Familie Pitsch im Sommer im Urlaub war, wohnte einmal eine Familie aus der japanischen Botschaft in ihrem Haus, die eine kleine Tochter in meinem Alter hatte. Mein Großvater wurde gebeten, mich täglich als Spielgefährtin für die kleine Yoshi mitzubringen. Ich war so vier oder fünf Jahre alt und wir spielten wunderbar zusammen, fuhren die Katze im Puppenwagen spazieren, malten und hatten jeden Nachmittag eine Stunde Akrobatik mit einer extra dafür ins Haus kommenden Lehrerin. Ich fand alles aufregend schön. Zu Mittag aßen wir meist auf der Terrasse Gerichte, die ich nicht kannte, aber die ich neugierig probierte. Einmal gab es leckere Eierkuchen, als sich plötzlich eine Biene auf Yoshis Eierkuchen setzte; sie wurde vertrieben, aber sofort wanderte der gesamte Eierkuchen in den Müll und ein neuer wurde serviert. Ich konnte es nicht fassen, der ganze wundervolle Eierkuchen wurde weggeworfen – nur weil eine Biene davon gekostet hatte! Am Abend erzählte ich es aufgeregt meiner Oma, die kopfschüttelnd sagte, ja, Kind, das ist sehr traurig, denn man hätte den schönen Eierkuchen ruhig weiteressen können – auch wenn genug Geld für viele neue da ist. Und Essen wegzuwerfen, das wäre bei meiner sparsamen Oma nie passiert.
Sie war stets der Mittelpunkt in unserer Familie, meine über alles geliebte Großmutter, meine Oma Luise, deren Namen ich eigentlich als Zweitnamen führe, aber den ich inzwischen in liebevoller Erinnerung an sie zum Erstnamen gewählt habe. Zu ihr ging ich täglich nach der Schule, aß dort zu Mittag, machte meine Schularbeiten am großen Küchentisch, und dann wartete sie oft schon feingemacht mit alter, goldener Halskette und Handtasche auf mich, um zu »verreisen«, das heißt, wir fuhren mit der S-Bahn zu Geburtstagen oder den verschiedensten Anlässen in allen Teilen Berlins und ich durfte sie begleiten. Einmal waren wir bei ihrer Schwester Linda in Stahnsdorf zum Geburtstag, die einen Bauernhof mit Kuhstall hatte. Als ich die Kühe im Stall besuchte, rutschte ich aus und fiel in die Abflussrinne voller Kuhscheiße. Mein schönes weißes Kleid war hin, ich stank entsetzlich, alle lachten, ich wurde in den Wasserkübel gesteckt, abgeschrubbt und musste in geliehenen Sachen nach Hause fahren. Meine Oma hatte später viel zu tun, um den Gestank wieder aus meiner Kleidung herauszuwaschen.
Sie ist bei bester Gesundheit und klarem Kopf genau wie mein Großvater 92 Jahre alt geworden. Sie war witzig, einfallsreich, stets guter Laune und eine wunderbare Zauberköchin, die auch in schlechtesten Zeiten immer etwas Gutschmeckendes – meist Eintopf – auf den Tisch brachte. Selbst Kohlrüben, Brennnesseln als Spinat gekocht, Wirsing- und Weißkohl wurden zum Leibgericht von uns Kindern. Besonders »schmackhaft« allerdings wurde uns das Essen sehr oft durch meine Mutter gemacht, die alle Kinder um sich herum versammelte, mit dem Löffel rundum fütterte und dabei die von ihr selbst erdachten Geschichten von Paul und Klärchen erzählte. Die waren für uns so spannend, dass wir immer noch um Nachschub bettelten, nur um weiter zuhören zu können. Als besondere Belohnung gab es sogar hin und wieder Kompott, aber immer nur in kleinsten Portionen, und so war mein sehnlichster Traum als Kind, mich einmal an Erdbeerkompott satt essen zu können. Als ich mein erstes eigenes Geld verdiente, habe ich diesen Traum wahr gemacht, habe mir ein großes Glas Erdbeerkompott gekauft und es hintereinander aufgegessen, bis mir schlecht wurde.
Aber meine Oma hatte auch so einige »Scherze« drauf. Als später einmal ein Freund bei mir übernachtete, schüttete sie ihm, als er morgens leise aus der Haustür trat, einen Topf Wasser über den Kopf – zur »Abkühlung«, wie sie lachend zugab. Zum Glück hatte er Humor und ertrug die kleine Morgenwäsche mit Fassung – abgekühlt hat sie seine leidenschaftliche Liebe zu mir allerdings nicht.