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Kapitel 8 - Der Sanftmütige

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„Er war relativ gnädig…“, sagte Andersch und stülpte sich dabei einen hellgelben Latexhandschuh über die rechte Hand.

„Er hat sie nicht vergewaltigt. Als er ihr das angetan hat, war sie aber noch kurz am Leben“ Er deutete auf die leeren Höhlen, an deren Stelle einst zwei hellblaue Augen eingebettet waren. Marvin und Eliah standen vor ihm. Keiner von beiden war gern in der Pathologie. Der weiß gekachelte Raum mit den drei Edelstahltischen strahlte eine Kälte und Ruhe aus, die sich geradezu gespenstisch auf die Glieder derjenigen legte, die ihn betraten. Da half auch der Gummibären-Kalender nichts, den der Gerichtsmediziner Andersch neben einer Tischzeile mit Laborgeräten an die Wand genagelt hatte. Es war ein Raum des Todes, und trotzdem gegenwärtig eine willkommene Abwechslung zu Eliahs Büro im Präsidium ein paar Straßen weiter.

Sie hatten die letzten Stunden damit zugebracht, alle Kontakte und Fälle auszuwerten, in die Bolgur involviert war. Nebenher lief stets ein flackernder Bildschirm, der ihnen das Videomaterial der Überwachungskamera zeigte, die in der Eingangshalle zu ihrem Büro installiert war. Marvin hatte sie als ‚sehr berückende Persönlichkeit‘ bezeichnet.

Sie war Single gewesen, ihren letzten festen Freund hatte sie vor anderthalb Jahren den Laufpass gegeben. Ebenfalls ein Anwalt, der aber in Michigan praktizierte, was ihm ein recht gutes Alibi einbrachte. Ihre Eltern waren bereits informiert worden, die Mutter war seitdem nicht mehr ansprechbar. Es musste sogar ein Arzt hinzugezogen werden, der prognostizierte, dass man frühestens morgen mit ihr reden konnte und auch nur mit äußerster Vorsicht und viel Einfühlungsvermögen. Der Vater hielt sich zurzeit in Peking auf und befand sich momentan in einem Flieger auf den Weg zurück nach Deutschland. Er war immer ein gern gesehener Gast und Berater bei Treffen der Chef-Etage des VW-Konzerns, sprach fließend Chinesisch und kannte sich mit der Kultur im Land der aufgehenden Sonne sehr gut aus, was ihn sogar noch im Halbruhestand unentbehrlich machte. Auf den ersten Blick hatte die Familie keine Feinde, die so weit gehen würden, einen Mord zu begehen.

„Die hier sind auch definitiv von ihr...“ Andersch hielt einen Augapfel in die Höhe, der neben der Leiche auf dem silbernen Tisch lag. Am Ende war noch ein Ansatz des abgerissenen Sehnervs zu erkennen. Eliah schluckte und klammerte sich am Rand des Tisches fest. Marvin atmete tief durch. Mit den Augen einer Leiche war es immer seltsam. Sie schienen stets ihren Zweck zu erfüllen und hörten nie auf zu sehen, obwohl sie zu einem toten Körper gehörten. Sogar diese Augen, herausgerissen und von ihrem Schutz beraubt, starrten Marvin fortwährend an und verurteilten ihn.

„Wart ihr heute früh wieder im Eck?“, erwähnte Andersch beiläufig, als hätte er gerade keine augenlose Leiche vor sich. Marvin und Eliah sahen ihn beide fragend an, ohne ihm eine Antwort zu geben.

„Du hattest bestimmt wieder dein komisches Sonderding-Sandwich, oder?“, grinste Andersch verschmitzt. „Weißt du, was daran witzig ist? Es könnte sein, dass den Speck, den du da immer drauf tust und der dich übrigens eines Tages umbringen wird, dass der vom gleichen Tier kommt, dem eines von denen mal gehört hat.“ Er war einen Tisch weitergewandert und hob eines der Herzen nach oben, die beim Opfer bis vor kurzem noch die Augen ersetzt hatten.

„Schweineherzen!“, sagte Andersch und gluckste. Marvin und Eliah sagten wieder nichts und der Pathologe bemerkte erst nach geschlagenen Sekunden des Schweigens, dass der Vergleich mit dem essbaren Speck bei seinen Zuhörern nicht durchweg positiv angekommen war. Er räusperte sich und fügte kleinlaut hinzu: „Also haben wir auch wirklich nur ein Opfer. Diese Herzen kriegt man in vielen Metzgereien und meistens ohne Rechnung oder so was. Es wird schwierig werden, die Quelle zu finden.“

„Okay…“, sagte Eliah und rieb sich dabei die Augen. „Hast du sonst noch was?“

Als der Pathologe gerade antworten wollte, klingelte ein Telefon. Andersch zog sich die Latexhandschuhe von den Fingern und griff nach dem Hörer, der auf einer Tischzeile zwei Meter von ihnen entfernt stand. Nachdem er sich mit seinem Namen gemeldet hatte, sagte er zuerst lange Zeit nichts und gab dann nur noch ein kleinlautes „Mach ich“ von sich.

„Palfrader will euch sehen. Sie klingt nicht so happy, ich würde schnell rübergehen.“, meinte Andersch und klang dabei ein bisschen wie ein Kind, mit dem man gerade heftig geschimpft hatte. „Im Moment kann ich euch leider nicht mehr sagen. Ach ja, doch, eins noch. Er hat sie ein paar Mal auf die Wange geschlagen und Chloroform benutzt. Aber das war’s dann auch.“

Sie verabschiedeten sich halbherzig von Andersch und verließen dann schweigend das Labor. Erst, als sie draußen an der Hauptstraße ankamen und ihnen die Luft über den flauen Magen hinweghalf, begann sich Eliah zu beschweren.

„Was will die denn bloß schon wieder.“, murrte er, während sie an der Ampel auf das grüne Männchen warteten. Von der Pathologie bis zur Hauptzentrale trennten sie nur einige Querstraßen, deswegen waren sie zu Fuß hergekommen. Der Ursprung von Eliahs Frust war eigentlich nicht Palfrader, sondern das Ergebnis der Obduktion. Sie hatten große Hoffnungen in Andersch gesetzt, darauf, dass er irgendwelche Hautpartikel, Haare, Fingerabdrücke oder sonst was finden würde, das sie dem Täter hätten zuordnen können. Fehlanzeige. Anscheinend ging der Mörder noch vorsichtiger vor als gedacht, was im Grunde ein weiterer Punkt war, der für Marvins Wiederholungstäter-Theorie sprach.

„Ich befürchte, ich weiß, was sie von uns will…“, antwortete der just in diesem Moment. Eliah sah zu ihm hinüber. Marvin hatte den Kopf gesenkt und stierte auf sein Smartphone. Ohne ein weiteres Wort hielt er ihm den Bildschirm hin. Ein Grinsen sprang Eliah entgegen, gepaart mit zwei Herzen, blonden Haaren und durchbohrten Wangen. Das Bild war eine Zeichnung und erinnerte an die Arbeit eines Malers, der Szenen aus Gerichtsprozessen festhielt, einem sogenannten Gerichtszeichner, der immer dann zum Einsatz kam, wenn Kameras im Saal verboten waren.

Neben dieser Zeichnung jedoch war ein echtes Foto abgedruckt, darauf die Leiche im Büro, drapiert auf der schwarzen Ledercouch und misshandelt, genauso, wie sie Marvin zuletzt in Erinnerung behalten hatte. Nur die kritischen Stellen waren mit einem Weichzeichner bearbeitet, sodass man die unscharfen Flecken mit der eigenen Fantasie befüllen musste. Unter dem Bild ein ellenlanger Text, der die tragische Geschichte der Anwältin und Feministin Katharina Bolgur erzählte. Darüber die Schlagzeile: „Der (E)Moji- Mörder.“ Die größte Zeitung der Stadt hatte ein Bild der Toten, samt Spekulationen um den Tathergang vor wenigen Minuten veröffentlicht.

Eliah starrte fassungslos auf den Bildschirm. Er griff instinktiv in seine Tasche und kramte, ohne hinzusehen, eine Zigarette mit Feuerzeug hervor. Er zündete sie sich an und nahm einen langen, befreienden Zug. Es war mittlerweile grün geworden, doch keiner von beiden überquerte die Straße.

„Hm…“, er blies den weißen Dampf aus seinen Lungen. Eine große Wolke verhüllte für einen kurzen Moment sein Gesicht. „Wenigstens weiß ich jetzt, warum sie uns sehen will.“, meinte er, schüttelte den Kopf und begann dabei hüstelnd zu lachen. Er nahm einen weiteren, tiefen Zug, zuckte mit den Achseln und lief los.

„Oui... ich auch“, fügte Marvin zögerlich hinzu und sah Eliah nach, der nun, immer noch grinsend, die Straße überquerte. Erst, als es wieder rot wurde, riss es Marvin aus seinem Staunen heraus und er musste einen Sprint ansetzten, um nicht von einem Auto überfahren zu werden.

Das, was sie da gerade gesehen hatten, war ein Supergau! Ein Vorfall, der sie in den Ermittlungen um Lichtjahre zurückwarf und einen schnellen Abschluss wahnsinnig unwahrscheinlich machte. Die Medien und der öffentliche Druck würden ihre Arbeit zusätzlich behindern. Als Leiter der Ermittlungen würde das ohne Zweifel auf Eliah zurückfallen und konnte ihn gehörig in die Bredouille bringen. Jeder würde hinter ihm her sein, allen voran Palfrader, aber bei einem ‚Unfall‘ dieser Größenordnung auch Männer von höherer Stelle. Eliah würde keinen Schritt mehr tun können, ohne dass man ihm dabei penibel auf die Finger schaute.

Umso mehr bewunderte Marvin die Art und Weise, wie er sich angesichts dieses Schlamassels verhielt. Eliah strahlte eine stoische Ruhe und Leichtigkeit aus, die ihm imponierte. Der Druck von außen schien ihm gegenüber machtlos zu sein, ganz gleich, wie groß er auch werden sollte. Während des gesamten Weges zurück zum Präsidium fragte er sich, wie Eliah sich gleich gegenüber Palfrader verhalten würde. Ob es bei einer Zigarette und ein bisschen Lachen bleiben sollte, oder eben doch noch eskalierte.

Tomoji

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