Читать книгу Den Schatz bewacht der Menschenfresser - Lukas Wolfgang Börner - Страница 10
ОглавлениеDer Venusberg
Ach, es war so schrecklich. Einerseits wussten wir genug, dass wir uns gleich auf die Lösung des Rätsels stürzen wollten, andererseits glaubten wir, dass der Teufel vor allem im Wort DI saß, immerhin war es von den Wörtern gefährlich und unsterblich eingerahmt. Und der rätselhafte Satz „Ich kam vom Knie beinahe bis zum Mond.“ wäre sicherlich auch leichter zu verstehen gewesen, wenn der vorige Satz endlich Sinn gemacht hätte. Wir lagen den ganzen Freitagabend und den Samstag und auch noch den Sonntag in unserer Höhle und blätterten im Felix A und im Lexikon, ja, wir handelten sogar noch ein zweites Internetsurfen bei euch heraus und suchten und suchten und fanden nix.
Alle Deutungen des Briefes erschienen uns sinnlos, alles Denken vergebens. Wir überlegten, ob wir doch mal den Sägesteck oder sonst wen fragen sollten, entschieden uns aber dagegen.
„Wir dürfen jetzt nicht aufgeben“, sagte Cleo, der aussah, als hätte er schon vor vierundzwanzig Stunden aufgegeben. Als ich ihn am Sonntag verabschiedete, waren unsere beiden Bleistifte bis zur Hälfte abgekaut und mir kam der Gedanke, dass ich, wenn ich mich irgendwann einmal im Urwald verlaufen sollte und überwintern müsste, wie die Wildkaninchen von Baumrinde leben könnte.
Die Faschingsferien waren im Eimer. Ich hockte im Kinderzimmer am Schreibtisch und dachte so lange nach, bis ich mich in den seltsamsten Gedanken wiederfand. Nachts konnte ich nicht schlafen, denn immer musste ich an Christian Norbert Fischer denken, wie er zwischen Wellensittichen saß, inmitten einer gigantischen Bergspitze gefangen, und krank war und jemanden suchte, der ihn heilte. Ich fragte mich, ob er wirklich auf dem Mond saß. Und ob er wirklich ein alter Römer war. Dann wäre er jetzt wohl schon ururalt oder schlimmer noch: tot.
Im Traum erschien er mir und rief: „Heile mich! Heile mich! Ich habe einen großen Schatz für dich! Bring meine Seele nicht zur Polizei, Hugi! Darf ich bei eurer Schnitzeljagd mitmachen Hugi?“ Plötzlich sah er wie Sophie aus, die sofort zu tanzen begann. Sie tanzte und tanzte und wirbelte durch die Luft und lachte wie der Teufel und hatte eine Mistgabel in der Hand. Wie sie sich so drehte, wurde sie immer kleiner und kleiner und verschwand schließlich in ihrem linken Schuh. Da wollte ich den Schuh anfassen, aber der war glühend heiß und ich schrie auf!
Schweißgebadet wachte ich auf.
Blödsinn. Das sagt man doch nur so. In Wirklichkeit war mir eiskalt, weil mein Fenster gekippt war. Ich schloss es und beruhigte mich ein wenig. Aber sobald ich wieder einschlief, kam derselbe Traum über mich, immer wieder derselbe und derselbe und derselbe. Das war vielleicht ein Elend!
Ich hatte gute Lust, an Fasching als Trauerweide zu gehen, denn ich war sehr, sehr traurig. Aber ich ging ja schon als Ohrenqualle. Cleo ging wie immer als Tiger, der sich als Doktor verkleidet.
Am Montag hatten wir Latein. Herr Sägesteck stürmte in die Klasse, donnerte seine Begrüßung, wir antworteten und drei Schüler wurden ausgequetscht. Ich und Cleo waren nicht unter ihnen. Das war gut. Nicht weil wir die Vokabeln nicht gelernt hätten, sondern weil wir beide viel zu mürrisch waren, um jetzt Vokabeln herbeten zu können. Wir hatten uns am Morgen nicht einmal begrüßt, sondern brummend nebeneinander Platz genommen. Wir Blutsbrüder, wir.
„Der Gott?“, fragte der Sägesteck.
„Deus!“, antwortete Aurelie.
„Die Götter?“, fragte der Sägesteck.
„Dei!“, antwortete Aurelie.
„Im Übrigen,“ ergänzte unser Lehrer, der niemals die falschen oder richtigen Antworten mit Lob oder Tadel würdigt, und wendete sich der Klasse zu, „im Übrigen haben die alten Römer das Wort dei manchmal auch zu di abgekürzt. Aber das kommt in der Schulaufgabe nicht dran.“ „Na toll“, flüsterte Cleo ungehalten. „Was soll dieses Wissen dann bringen? Das ist doch mal wieder total überflüssig.“
„Aber, aber“, begann ich. In mir hatte es zu lodern begonnen. Ein Vulkan stürmischer Freude wollte durch meine Brust brechen.
„Jetzt störe mich nicht!“, zischelte Cleo. „Ich muss mir einen Plan überlegen, wie wir die Bedeutung des Wortes … DI …“ und er stockte, sprach langsamer „… in … Erfahrung … bringen …“ dann machte es Bing, als die Einsicht kam.
„Hey!“, rief er.
„Hey!“, rief ich.
„Hey!“, rief der Sägesteck.
Bereits am Montagabend hatten wir den Brief vollends übersetzt. Allerdings erst am späten Abend, denn wir hatten mehr Lateinhausaufgaben aufgekriegt als der Rest. Diesmal hatten wir keinen Sekt, um darauf anzustoßen, und Gott sei Dank auch kein Messer, um nochmal Blut zu tauschen. Trotzdem war unsere Stimmung jetzt noch feierlicher als am Freitag vor einer Woche. Der vollständige Text lautete:
Lieber Freund, der du diesen Brief gefunden hast.
Wie gefährlich die unsterblichen Götter sind, vor allem Neptun! Ich kam vom Knie beinahe bis zum Mond. Nun sitze ich in der Bergspitze und erwarte den Tod, obwohl ich von schönen Gütern umgeben bin. Suche mich, wo niemals Schiffe fahren und die Wellensittiche nisten. Wenn du mich heilen wirst, werde ich meinen Schatz mit dir teilen.
Christian Norbert Fischer
Endlich, endlich, endlich, endlich konnten wir uns überlegen, was der Text bedeutete und wo und zu welchem Schatz er hinführen sollte. Denn es musste ja einen Hinweis darauf geben, sonst hätte der ganze Brief, diese uralte Flaschenpost ja gar keinen Sinn gemacht. Wenn Christian Norbert nämlich krank war, dann brauchte er ja möglichst dringend Hilfe. Immerhin bot er ja einen Teil seines Schatzes zum Lohn an.
„Es ist ja auch ein ganz konkreter Ort genannt“, meinte Cleo. Und er zitierte den vorletzten Satz. „Suche mich, wo niemals Schiffe fahren und die Wellensittiche nisten.“
Ich überlegte. „Wo niemals Schiffe fahren, ist ja leicht. Überall, wo Land ist, fahren keine Schiffe. Und Wellensittiche leben in Australien.“ „Hm …“, machte Cleo, „aber Australien ist doch viel zu weit weg. Eine Amphore von dort wäre doch niemals hierhergekommen. Außerdem … waren die Römer auch schon in Australien?“
Wir blätterten im Lexikon nach dem Stichwort Australien.
So was Blödes. Geschichtsunterricht hat man ja erst in der sechsten Klasse und wir mussten jetzt schon vorlernen. Dabei ist Geschichte doch so langweilig. Ich dachte oft, während wir an dem Rätsel saßen, dass ich doch einfach euch hätte fragen können. Das wäre so unkompliziert gewesen. Aber ihr hättet ja sofort Verdacht geschöpft.
Wir fanden heraus, dass Australien erst vor ein paar hundert Jahren entdeckt wurde, genauso wie Amerika. Die Römer lebten aber vor mehr als zweitausend Jahren. Schon vor Jesus und den Rittern. Ich atmete auf, als ich das hörte, denn es wäre ja ziemlich schwer gewesen, nach Australien zu kommen, um nach dem Schatz zu suchen. Die Römer waren eher in Italien unterwegs. Das war besser, denn wir fahren ja fast jedes Jahr nach Italien runter.
„Ich finde es auch komisch,“ sagte ich, „dass Christian in einem Bergspitz sitzt. Oder besser gesagt: saß. Verstehst du? Man kann doch nicht in einem Bergspitz sitzen, oder?“
„Ich habe aber mal in einem Sagenbuch gelesen, dass es einen Berg gibt, wo man hineingeraten kann. Und da kommt man dann nicht wieder raus. Der einzige, der einem da helfen kann, ist der Papst.“
„Wo ist das Buch?“, rief ich. Wir waren gerade bei Cleo zu Hause. Ich verlor aber gleich die Hoffnung, in dem Verhau in Cleos Zimmer irgendwas zu finden.
„Ich müsste es erst suchen,“ antwortete der, „aber morgen kann ich es mitbringen.“
Und leider mussten wir uns auch sehr bald verabschieden, denn es war schon nach 21 Uhr.
„Hier! Schau her!“, rief Cleo nicht pünktlich am Dienstagmorgen, sondern unpünktlich am Freitagmorgen, denn er hatte das Buch lange nicht finden können. So wie es aussah, hatte es irgendwo halb aufgeschlagen und unter einer zentimeterdicken Staubdicht begraben hinter dem Bett gelegen. Die Seiten hatten Eselsohren, der Einband war zerrissen, das ganze Buch war so staubig, dass es mich in der Nase juckte, wenn ich es nur ansah. Cleo blätterte und zeigte mir die Seite mit dem Berg, der Venusberg hieß.
„Das ist der Beweis. Der Venus ist ja auch ein römischer Gott, wie Neptun. Da drin steht, dass es irgendwo einen Berg gibt, da sind lauter schöne Frauen drin, und wenn sich ein Ritter dort hineinverirrt, will er nie wieder zurückkehren.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen!“, sagte ich. „Das klingt für mich mehr nach der Hölle, zwischen lauter Frauen in einem Berg zu hocken.“ „Aber es passt alles!“ Cleo war ganz außer sich. „Siehst du das denn nicht? Christian Norbert kam vom Knie beinahe bis zum Mond, das heißt, er war bergsteigen, oder? Nun sitzt er in der Bergspitze und erwartet den Tod, obwohl er von lauter schönen Gütern umgeben ist. Den Tod erwartet er, weil er da nicht mehr rauskommt, also auch nichts mehr zum Essen und Trinken findet. Und mit den schönen Gütern sind die schönen Frauen gemeint. Man soll ihn suchen, wo niemals Schiffe fahren. Auf Bergen fahren niemals Schiffe. Außerdem glaube ich gar nicht, dass man ihn heilen soll, sondern dass man ihn retten soll. Das heißt nämlich auch salvare. Also sollen wir ihn retten und dann wird er seinen Schatz mit uns teilen.“
Das klang irgendwie einleuchtend. Doch es gab mehrere Ungereimtheiten.
„Erstens“, sagte ich und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten, denn diese ständige Hochspannung nahm wieder von mir Besitz, gerade so, als müssten wir das Rätsel möglichst schnell knacken, bevor es ein anderer tun konnte. Dabei hat es ja in zweitausend Jahren noch keiner getan. „Erstens frage ich mich, warum dann Neptun so gefährlich ist. Der ist doch der Meergott und im Gebirge wird der nix zu melden haben. Zweitens ist Christians Schatz nach deiner Theorie ja ein Dutzend Frauen. Das wäre aber ein ziemlicher Scheißschatz, den er mit uns teilen würde. Wenn das wirklich stimmt, will ich mit der ganzen Sache nix mehr zu tun haben. Und drittens frage ich mich, wie und wo da Wellensittiche reinpassen!?“
Einen Moment sah Cleo beleidigt aus. Er zog die Augenbrauen tief in sein rundes Gesicht hinein und knirschte mit den Zähnen. Aber dann rief er plötzlich: „Es stimmt! Du hast Recht! Das macht alles keinen Sinn! Zefix noch eins, ich habe versagt!!“
„Ich habe auch noch ein bissel nachgedacht“, unterbrach ich sein Fluchen. „Im Lateinischen heißt in nicht nur in, erinnerst du dich? Das kann auch auf heißen. Ich glaube, dass Christian vielmehr auf einem Bergspitz sitzt als drinnen. Oder eher auf einem Felsen, das war nach Bergspitz immerhin das zweite Angebot von der Übersetzungsmaschine. Außerdem glaube ich gar nicht, dass die Vögel der Wellen wirklich Wellensittiche sind. Die kann doch vor zweitausend Jahren noch niemand gekannt haben, wenn Australien erst vor ein paar hundert Jahren entdeckt wurde. Kapiert? Ich habe das Ganze nochmal neu aufgeschrieben, schau her.“
Und ich holte den Zettel heraus, den ich am Vorabend vorbereitet hatte, strich heilen heraus und schrieb retten hinein. Dann zeigte ich ihn her:
Lieber Freund, der du diesen Brief gefunden hast.
Wie gefährlich die unsterblichen Götter doch sind, vor allem Neptun! Ich kam vom Knie beinahe bis zum Mond. Nun sitze ich auf dem Felsen und erwarte den Tod, obwohl ich von schönen Gütern umgeben bin. Suche mich, wo niemals Schiffe fahren und die Wasservögel nisten. Wenn du mich heilen retten wirst, werde ich meinen Schatz mit dir teilen.
Christian Norbert Fischer
„Siehst du, wie gut das jetzt passt? Neptun, Wasservögel, Felsen, Fischer. Und außerdem – daran hatten wir bis jetzt noch gar nicht gedacht – ist das Ganze ja in einer Amphore wie eine Flaschenpost versteckt gewesen. Die wird der Christian sicher nicht vom Berg geworfen haben, sondern ins Wasser.“
Es läutete zur ersten Stunde. Biologie. Mein Lieblingsfach. Cleo ließ Gedanken verloren die Knöchel knacken. Ich lauschte dem Unterricht. Dann geschah die Katastrophe.
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