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Fundbüro und Kommasetzung

In den folgenden Tagen widmeten wir uns voll und ganz der Übersetzung der Schatzkarte. Wir fanden bald heraus, dass wir nicht alle Vs einfach durch Us hätten ersetzen dürfen. NAUIGANT und NAUES zum Beispiel sind keine lateinischen Wörter. Es muss NAVIGANT und NAVES heißen, also übersetzt: Sie segeln und Schiffe. Offensichtlich kannte der Schreiber der Schatzkarte kein U und verwendete deshalb das V für V und U. UV-Licht hätte bei ihm also VV-LVX geheißen.

Immer freitags darf ich eine halbe Stunde ins Internet. Cleo darf häufiger, allerdings nur unter Aufsicht. Und das ging ja überhaupt nicht. Seine Mutter hätte doch sofort Verdacht geschöpft, wenn Cleo da irgendwelche lateinischen Wörter nachgeschlagen hätte. Da hätte sie sicher vermutet, dass irgendwo eine geheimnisvolle Schatzkarte aufgetaucht sei und hätte am Ende seinen Vater angerufen oder meinen Eltern davon erzählt. Und was hätten die dann gemacht, diese vier Herrschaften? Natürlich das, was alle Eltern machen: Sie hätten die Karte ins Fundbüro gebracht. Denn Eltern bringen alles ins Fundbüro.

Einmal, ein einziges Mal in meinem Leben habe ich einen Geldbeutel gefunden, der war so dick wie ein doppelter Hamburger Royal und mit insgesamt hundertzweiundsechzig Euro und siebenundsiebzig Cent belegt. Ich freute mich wie ein Schneekönig über diesen glücklichen Schicksalsschlag und überlegte laut beim Abendessen – es hatte Tagliatelle und Jägerschnitzel gegeben, das weiß ich noch –, was ich mir alles Schönes von meinem Mörderfund kaufen wollte. Ich wollte vor meiner kleinen Schwester und meinen Eltern ein bissel protzen, bereute es aber gleich. Woher, warum, wie und wann, wurde plötzlich gefragt. Ich erzählte, dass ich einen Geldbeutel gefunden hätte und jetzt ein gemachter Mann sei. Nein und auf gar keinen Fall und ins Fundbüro, wurde gesagt. Und als ich mich laut darüber beschwerte, wurde ich auch noch geschimpft.

„Stell dir mal vor, es wäre dein Geldbeutel und du hättest ihn verloren!“, rief Papa.

„Dann würdest du dich auch freuen, wenn den dir jemand wiedergeben würde“, ergänzte Mama.

„Ällabätsch!!“, konterte Bärbel.

Und dann liefen sie gleich los und brachten den vollen Geldbeutel ins Fundbüro. Nach zwei Tagen hatte der Verlierer seinen Geldbeutel zurück und ich bekam läppische dreißig Euro Finderlohn.

„Das fühlt sich doch viel besser an, was?“, freute sich Papa.

„Jetzt hast du was Gutes getan und ein Geld noch obendrein gekriegt“, ergänzte Mama.

„Bäh!“, machte Bärbel und streckte mir die Zunge raus. Das ganze Mädel ist ein Depp.

„Diese Schatzkarte wird niemand ins Fundbüro bringen!!“, rief ich aus und ballte die Fäuste.

„Lieber Hugo“, seufzte mein Deutschlehrer Herr Eichner, „würdest du die Güte haben, meinen Unterricht nicht mit deinem jähen Gebrüll zu unterbrechen?“

Ich hatte ganz vergessen, dass es ja Mittwochvormittag war und ich im Unterricht saß. Einige Mitschüler lachten, andere schauten gefährlich neugierig drein.

„Toll, jetzt hast du die Bluthunde auf uns gehetzt“, flüsterte Cleo und deutete auf die lauernden Gestalten um uns herum.

„Was für eine Schatzkarte?“, wisperte Sophie nach hinten.

„Keine Schatzkarte, eine Schnitzeljagd, sonst nix“, entgegnete Cleo. Dann zeichnete er an seinem Daumenkino weiter, seine einzige Freude an der neuen Klassenlektüre, dem kleinen Prinzen. Sein Daumenkino ist in der ganzen Klasse berühmt. Es zeigt einen tanzenden dreibeinigen Gnom, der mit der Zunge die von oben kommenden Schneeflocken auffängt und dabei nicht merkt, wie eine Taube plötzlich was fallen lässt. Wenn das Werk fertig ist, will er es an Hollywood schicken.

„Was will dann die Polizei mit der Schatzkarte, Hugi?“

Sophie habe ich so was von gefressen! Sie nennt mich Hugi! Außerdem ist sie in mich verknallt, seit ich sie einmal am Zopf gezogen habe. Dabei hätte sie da ja eher zornig sein müssen, anstatt sich zu verknallen. Aber wer versteht schon die Weiber!

Ja, wenn Sophie mehr wie Maria gewesen wäre, also nicht die heilige Maria, sondern ein anderes Mädchen aus unserer Klasse, die ganz hübsch ist und sogar schon einen Busen hat. Nur hat die leider keinen Zopf, an dem man ziehen könnte.

„Darf ich bei eurer Schnitzeljagd mitmachen, Hugi?“, fragte Sophie.

„Du darfst dich wieder nach vorne drehen und deine blöde Klappe halten!“, erwiderte ich.

Nein, das war gelogen. So böse bin ich gar nicht. In Wirklichkeit sagte ich: „Geht leider nicht, weil …“ und druckste irgendeine fadenscheinige Begründung daher, die ich dir jetzt gar nicht zumuten will.

Cleo tut sich leichter damit, anderen Leuten zu sagen, was er denkt. Das macht er manchmal, als ob es ihn gar nicht interessieren würde, was sie danach von ihm halten. Einmal war er bei uns zum Abendessen gewesen und meine Mama hatte richtig groß aufgekocht und wir hatten alle das tolle Essen gelobt. Mailänder Schnitzel und Nudeln mit Pesto hatte es gegeben. Nur Cleo hatte das Lob nicht geteilt. Das hatte aber nichts mit seinem Vegetariertum zu tun – das hatte er an diesem Abend wohl vergessen. Vielmehr meinte er, dass er einmal mit seinem Vater in Tibet gewesen sei, nur sie beide, und dass die Menschen dort viel detailverliebter kochten, weil sie durch ihre Augenschlitze das Grobe gar nicht richtig sehen könnten. Die Nudeln wären dort ganz klein, aber mit Pesto gefüllt und zwischen Schnitzel und Panade eingeflochten gewesen. „Dagegen ist dieses Essen hier höchstens Mittelmaß“, sagte er zusammenfassend zu meiner Mama. Ich wäre schier im Boden versunken.

Aber Cleo meint so was gar nicht böse und ich bin sehr froh, dass meine Eltern ihn unterdessen gut genug kennen, dass sie das wissen. Er scheint nur gar keine Lust darauf zu haben, sich bei anderen beliebt zu machen.

Nein, das stimmt so wahrscheinlich auch nicht. Vielleicht hätte er sogar Lust darauf, aber er macht sich darüber überhaupt keine Gedanken. Meine Mama hat einmal gesagt, dass Cleo sehr in sich ruhen würde, aber ich glaube, dass er eher in sich schläft. Andere Menschen interessieren ihn zwar schon, aber er hat sich nie überlegt, dass man sich manchmal einschleimen muss, um die nötige Anerkennung zu finden.

Zum Beispiel gibt es in jeder Klasse einen Deppen. Einen, über den sich alle lustig machen. Das ist so und das muss auch so sein. Und man muss, wenn man selber etwas Dummes getan oder gesagt hat, die Aufmerksamkeit geschickt auf den Klassendeppen lenken, um dem Spott bestmöglich zu entgehen. Gleichzeitig muss man den stärkeren Klassenkameraden manchmal den Rücken decken. Mitlachen, wenn sie Witze erzählen, oder sie als Klassensprecher vorschlagen.

Cleo macht das alles nicht mit. Er frotzelt nicht über den Klassendeppen und er schleimt sich nicht bei den Starken ein, aber nicht aus Mitleid oder Verachtung, sondern einzig und allein darum, weil ihn so etwas nicht interessiert. Ich glaube, er kennt die Gesetze des Dschungels gar nicht.

Am Ende der Stunde teilte Herr Eichner die korrigierte Deutsch-Ex der letzten Woche aus. Da war es um Kommasetzung gegangen. Man musste in einen kommalosen Text die Kommas richtig einsetzen, was gar nicht mal so leicht war. Dementsprechend gespannt war ich auch gewesen, als der Lehrer uns die Verteilung der Noten mitgeteilt hatte. Es hatte drei Einser, sieben Zweier, zwölf Dreier, vier Vierer, einen Fünfer und einen Sechser gegeben.

Naja, dachte ich, während der Eichner die Exen austeilte, und ein Schüler nach dem anderen jubelte und die Einser und Zweier sicherlich schon vergeben waren … naja, dachte ich, vielleicht kriege ich ja noch einen Dreier. Oder wenigstens einen Vierer. Das ist nicht schön, aber doch verkraftbar und man braucht keine Unterschrift seiner Eltern.

„Ach, Hugo,“ sagte Herr Eichner, während er auf mich zukam, „ich habe euch doch immer wieder aufgefordert, einfach nachzufragen, wenn ihr etwas nicht versteht. Wieso hast du denn nie nachgefragt?“

Ich sagte darauf nichts. Die Wahrheit hätte ihn nur wütend gemacht. Und doch weiß doch jedes Kind, dass man, um eine Frage zu formulieren, wenigstens irgendwas verstanden haben muss. Oder könntest du, lieber Leser, einem Quantenmechaniker spontan eine sinnvolle Frage stellen?

Dann reichte mir der Lehrer das Blatt mit meinem Namen, neben den er scherzhaft einen Ringelschwanz gezeichnet hatte. Dachte ich zumindest. Erst als ich den von roter Farbe triefenden Zettel genauer betrachtete, erkannte ich, dass ich nur ein einziges Komma an die richtige Stelle gesetzt und dafür meine allererste Sechs kassiert hatte. Bestürzt blickte ich zu Cleo rüber, in der Hoffnung, er wäre der Fünferschüler. Das war aber naiv von mir, denn Cleo hat’s ja mit dem beknackten, überflüssigen Sprachblödsinn. Der Saukerl hatte doch wahrhaftig eine Eins bekommen – der Fünfer gehörte unserer russischen Mitschülerin Valentina, die die deutsche Sprache vor etwa einem halben Jahr gelernt hatte. Ihre Freundin streichelte und tröstete die Weinende mit Worten wie „Das kann schon mal passieren.“ oder „Wenn du willst, übe ich die Kommasetzung heute Nachmittag mit dir.“. Auch ich hatte Tränen in den Augen. Was würden meine Eltern sagen?

Cleo klopfte mir auf den Rücken und meinte mit einfühlsamer Stimme: „Kopf hoch, Hugo. Ich verspreche dir, dass wir immer Freunde bleiben, auch wenn du vom Gymnasium fliegen solltest. Wenn du traurig bist, dann denk dir nur: Es gibt noch so viele andere Schularten, da ist garantiert auch eine für dich dabei.“

Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, dass ich unsere Freundschaft danach mehrere Tage auf Eis legte.

*

Den Schatz bewacht der Menschenfresser

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