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Die Eisdiele an der Molchinger

Am Marktplatz gibt es eine Gelateria. Dort sind immer alle Plätze besetzt und zwar im Winter genauso wie im Sommer. Im Winter sind die Menschen in warme Wolldecken mit seltsamen Mustern gehüllt. Sie hauchen ihr Eis an, bevor sie es in den Mund stecken, und trinken Punsch oder Glühwein dazu. Im Sommer ist alles ganz normal, genauso wie du, mein guter Leser, es auch kennst. Da trinken die Leute einen Cappuccino oder einen Expresso zum Eis und sind in keine gemusterten Decken gehüllt, sondern ganz im Gegenteil halbnackt und verschwitzt.

Warum sind in unserer Gelateria aber nun das ganze Jahr alle Plätze besetzt, hm? Rate doch mal!

Das liegt daran, weil das Eis dort einsame Spitze ist. Die Italiener, die dort arbeiten, haben keine andere Leidenschaft als das Eis. Sie schlafen nicht und verlassen ihre Gelateria niemals, nicht einmal für eine Zigarette oder eine Dosensardine oder was Italiener halt so zu sich nehmen. Nein, sie machen den lieben langen Tag Eis, sagen Grazie und Tschau und singen und pfeifen, wenn sie einem das Eis servieren.

Beim Spaghetti-Eis ist jede einzelne Nudel mit weißer Schokolade umhüllt, das Pinocchio-Eis ist ein stehender Pinocchio aus verschiedenen supercremigen Milcheissorten, mit bunten Sahne-Kleidern, einer langen Schokonase und einem selbergebackenen Waffelhut. Hm … und an Kindergeburtstagen kann es passieren, dass man einen gigantischen Eis-Walfisch bekommt und wenn man den mit seinen Freunden aufgegessen hat, sitzt noch ein Pinocchio innen drin, mitten auf einem Bett aus Mascarpone, Fior di Latte und Früchten. Oh Mann, wenn ich nur davon erzähle, könnte ich gleich aufspringen und mein Sparschwein schlachten. Oder zumindest die Scherben beiseitelegen und darunter nach Münzen suchen, denn ich habe es ja schon mehrmals geschlachtet. Und dann könnte ich spornstreichs zur Gelateria rennen und bestellen, bestellen, bestellen.

Ja, das ist die Gelateria.

Und dann gibt’s noch eine Eisdiele an der Molchinger Straße. Die schaut von außen weit weniger einladend aus – überhaupt ist die Molchinger Straße eine sehr laute und rauchige Straße und es ist auch gar kein Italiener, der in der Eisdiele sitzt und an seinen Fingernägeln kaut, sondern ein erzdeutscher Mann, so groß und klobig wie ein Kleiderschrank. Er ist immer schlecht rasiert, was ich doch irgendwie eigenartig finde, denn irgendwann muss sich der Oger ja rasieren, sonst würde er doch einen Vollbart bekommen. Er raucht wie ein Scheunendrescher, aber dafür singt und pfeift er nicht, wenn er einem das Eis serviert, sondern putzt sich die breite Hand höchstens hastig an seiner Schürze ab, bevor er den Eisbecher damit anfasst. Er hat keine Eisspachtel wie die Italiener, mit denen sie das Eis liebevoll auf die Waffel streichen, sondern einen rostigen Eiskugelformer mit Auswurfmechanismus, mit dem er unter Aufwendung aller Kräfte im Eisblock gräbt, dann quietschend den Mechanismus zum Eiskugelherauslösen betätigt, was auch nötig ist, denn sonst würde das Eis darin sicherlich versteinern.

Frage mich nicht, lieber Leser, was Cleo und mich geritten hat, dort jemals hineinzugehen, in diese finstere Eisdiele, wo das Licht zu hundert Prozent von den schmierigen Butzenscheiben abgefangen wird. Frage mich nicht! Ich würde ja sofort ins Lügen hineinkommen. Ich würde dir erzählen, dass die Italiener Urlaub gemacht hätten oder dass das herrlichste Haus süßer Speisen und Lustbarkeiten wegen Bauarbeiten vorübergehend geschlossen war. Oder dass wir allzu dringend ein Eis gebraucht hatten und die deutsche Eisdiele deutlich näher an unseren Häusern liegt als die weitentfernte Gelateria. Aber das ist ja alles gar nicht wahr. Von daheim aus brauche ich exakt sieben Minuten zur Gelateria und satte sechzehn Minuten zur Eisdiele. Sie ist also dreimal so weit entfernt. Und ich sagte ja schon, dass Italiener nicht leben können, wenn sie sich nicht mit Eis beschäftigen, und deswegen nie in Urlaub fahren.

Nein, es war der reine Dummsinn, dass Cleo und ich eines Tages in die Eisdiele gingen. Keiner von uns hatte darüber sorgfältig nachgedacht. Keiner hatte die Vor- und Nachteile dieses fürchterlichen Unterfangens abgewogen.

Nein, es war ein plötzliches Mitleid zu diesem gelben Riesen gewesen, der da an der Tür seiner selbstverständlich leeren Eisdiele lehnte und so jämmerlich hustete – ob von seiner Zigarette oder der Buchenauer Straße, weiß niemand.

„Grüß Gott“, sagten wir artig.

Der Eisdealer musterte uns misstrauisch. Spätestens jetzt hätten wir verschwinden müssen. Stattdessen gingen wir aber an ihm vorbei und in die Höhle des Löwen hinein. Das ist natürlich nur ein Sprichwort. Eine Löwenhöhle ist sicherlich warm und gemütlich gegen diese rauchiggammelige Spelunke. Außerdem leben Löwen ja gar nicht in Höhlen, außer früher hier in Europa, als noch die Eiszeit tobte und Cleopatra der Ältere mit seinem Knüppel grätige Säbelzahntiger erschlug.

„Eiszeit!“, rief Cleo, als wir uns hingesetzt hatten. Der Mann kam auf uns zu geschlurft. Jetzt, wo wir saßen, schien er ganz aufgewühlt zu sein.

„Hallo, ihr beiden. Was wollt ihr denn für ein Eis haben? Wir haben Schoko, Vanille und Erdbeer.“

„Haben Sie auch Pistacchio?“, fragte ich hoffnungsvoll. Pistacchio ist das Allerbeste. Wer das nicht zu schätzen weiß, sollte für immer den Mund halten, der hat halt einfach keine Ahnung von der Welt. Der soll sich einen Müsliriegel kaufen und daran zugrunde gehen!

„Wir haben Schoko, Vanille und Erdbeer!“, wiederholte der Mann. Er hatte seine Stimme erhoben und Cleo und ich zuckten auf unseren Stühlen zusammen.

„Und … Becher?“, fragte Cleo.

„Es gibt einen Schokobecher und einen Vanillebecher!“

„Und einen Erdbeerbecher?“, fragte ich.

„Nein!“, donnerte der Mann und hätte mich beinahe gepackt.

Eigentlich hätten wir die Eisdiele verlassen sollen. Allerallerspätestens jetzt! Und zwar so schnell wie möglich und auf Nimmerwiedersehen! Der Oger hatte offensichtlich total einen an der Klatsche!

Dass wir am Ende doch jeder einen Eisbecher bestellten, war der reinen Angst geschuldet, weil der Mann bedrohlich mit den breiten Fäusten knackte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn wir einfach aufgestanden wären und den Laden verlassen hätten!

Cleo und ich wagten nicht, nur ein Wort zu wechseln. Wir schauten uns an und wussten nicht, ob wir lachen oder weinen sollten, während das Schnaufen und Schlurfen des eisbecherherrichtenden Mannes unheilschwanger an unsere Ohren drang. Ich versuchte es mit Gedankenübertragung. Cleo, Cleo, dachte ich angestrengt und stierte dabei tief in seine Augen. Wir müssen dieses Eis ganz schnell essen, dann bezahlen und dann hier raus. Dann sind wir frei! Für immer frei! Dann müssen wir nie wieder diese Eisdiele betreten!

Hugo, Hugo, gedankenübertrug mein Freund zurück. Und wenn das Eis vergiftet ist? Oder wenn der kranke Oger es aus Du-weißt-schon-Was herstellt? Erdbeereis aus Menschenblut mit Erdbeergeschmacksstoffen, Vanilleeis aus Eiter mit Vanillegeschmacksstoffen und Schokoeis aus …

„Aufhören, aufhören, das ist ja widerlich!“, plärrte ich in die totenstille Eisdiele hinein.

Cleo sah mich entsetzt an. Der Oger unterbrach seine Arbeit. Er hatte gerade Kakaopulver über das Schokoeis geschüttet und musste glauben, dass ich ihn und seine Arbeit gemeint hatte. Was ja im Grunde, mein lieber Leser, auch nicht so falsch gewesen wäre, oder wie oder was?

Auf jeden Fall wurde sein gelber Kopf plötzlich ganz rot. Die Zigarette fiel aus seinem Mund und landete im Schokoeis, wo sie zischend versank. Allerdings nicht besonders tief. Dafür war dieses Speiseeis zu spröde. Kurze Zeit dachten wir, er würde zu uns herüberstürmen, uns an den Ohren packen und dann an einem Fleischerhaken aufhängen. Doch er knirschte nur mit den Zähnen, packte eine Schlagsahnesprühdose und sprühte die Schlagsahne auf das Eis. Er muss wohl übersehen haben, dass seine Zigarette noch darin steckte.

Dann kam er an unseren Tisch, knallte die Eisbecher darauf und zischelte: „Lasst’s euch schmecken!“

Da lief uns der Schweiß aus sämtlichen Poren, wir starrten einander an und es war nackte Hilflosigkeit, die in unseren Blicken lag. Was hatte uns nur geritten, hier hineinzugehen?! Auf keinen Fall konnten wir dieses widerliche Schokoeissprühsahnezigarettengemisch essen. Auf keinen Fall! Wenn wir es aber nicht essen würden, würde uns der Zorngiebel gewiss dazu zwingen. Oder er würde uns selber zu Eis verarbeiten.

Das wäre entsetzlich! Vor allem, weil uns niemals jemand kaufen würde. Wir würden hinter der Eistheke als lebloses, schlecht verarbeitetes Speiseeis vergammeln, draußen würde die Polizei nach uns suchen, unsere Eltern würden unsere Namen rufend vorbeiziehen und niemand würde jemals auf die Idee kommen, dass wir hier im rauchigen Dunst einer deutschen Eisdiele lägen. Nur eines Tages, irgendwann würden wieder zwei Kinder, die ähnlich dumm wären wie wir, in den Laden treten und Eis kaufen wollen. Und ihnen würde das gleiche Schicksal drohen wie uns. Wie bei Hänsel und Gretel. Nur hieß das Märchen jetzt Hugo und Cleopatra.

„Mann, muss ich dringend brunzen!“, rief Cleo plötzlich und zwinkerte mir zu. Ich hörte sein Echo von den Wänden widerhallen: Brunzen, brunzen, brunzen. Der Eismann starrte ihn an. Ich auch. Blieb aber sitzen.

„Du musstest doch auch dringend aufs Klo …“, fügte Cleo hinzu und trat mir auf den Fuß. Ich verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Der Eismann starrte uns an.

„Komm jetzt!“, rief Cleo, packte mich am Arm und zog mich mit auf die Herrentoilette. Der Eismann starrte uns nach.

„So,“ sagte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte, „jetzt können wir durchs Fenster fliehen!“

Wir starrten einige Sekunden auf die fensterlose Kachelwand. Cleo stöhnte. Er war ganz verzweifelt: „Dann haben wir keine Wahl. Wir müssen den Kerl umbringen.“

„Was?“, rief ich.

„Hast du eine bessere Idee?! Der wird fuchsteufelswild, wenn wir das Eis nicht essen! Und überhaupt: Hast du das Foto an der Wand nicht gesehen? Das Urlaubsfoto von 2013, wo er in Russland war? Hast du’s nicht gesehen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„2013 hatte es meines Wissens einen brutalen Mord gegeben und weißt du, wo?“

Ich schüttelte wieder den Kopf.

„In Russland!“, rief Cleo. „Ein Schelm, der Böses dabei denkt!“

„Ich weiß was!“, antwortete ich. „Wir ziehen uns die T-Shirts über den Kopf und rennen aus dem Laden.“

Cleo schaute mich mit großen Augen an: „Und was soll das bringen?“

„Dann erkennt er uns nicht“, antwortete ich trotzig. „Wir könnten auch einfach so aus dem Laden rennen.“

„Keine Chance. Der ist doch schneller wie wir. Aber wir könnten ihm diese Tüte hier über den Kopf stülpen.“ Cleo zog eine Plastiktüte aus seiner Hosentasche, auf der der Schriftzug des Metzgerhauses Wurst-Fuchs zu lesen war.

„Ha, ich hab’s!“, rief ich aus. Und ich hatte es wirklich. „Wenn wir sein Eis essen und brav bezahlen, lässt er uns doch ungeschoren davonkommen, oder?“

„Wahrscheinlich, aber …“

„Dann brauchen wir doch nur in einem unbeobachteten Moment das Eis in die Tüte zu kippen und so tun, als ob wir es gegessen hätten. Kapiert? Dann sind wir safe!“

Und so taten wir es denn auch. Als wir uns zurück an unseren Tisch setzten, war das Eis schon fast zu farblosem Kakao zergangen. Der Oger lehnte mit verdrießlichem Gesicht am Eingang und rauchte. Ab und zu drehten wir uns betont unauffällig zu ihm um und blickten jedes Mal in ein wachsames Gesicht. Dann nahmen wir unsere Löffel zur Hand und rührten in den Eisbechern. Ich hatte den mit dem Zigarettenstummel erwischt. Dann drehten wir uns wieder um, blickten in das Ogergesicht und rührten rasch weiter.

Ich kann dir, mein bester Leser, gar nicht sagen, wie langsam die Zeit verstrich, in der wir uns heimlich umschauten, rührten, ein lockeres Gespräch versuchten, uns umschauten und wieder rührten. Warum guckte der Eismann nicht einfach mal woanders hin? Warum? Aber irgendwann muss er ja mal seine Zigarette ausdrücken. Irgendwann muss er zum Aschenbecher gehen und seinen Stummel hineindrücken. So machen es alle Raucher. Und das ist dann unsere Chance!

Ich gedankenübertrug diese Eingebung meinem Freund und brachte gleichzeitig die Metzgertüte unter dem Tisch in die richtige Position. Dann umschauen. Dann wieder Gesicht sehen. Dann wieder zurückschauen und rühren.

Dann – war da nicht ein Geräusch? Hatte der Oger etwa einen Schritt zum Aschenbecher vor dem Laden getan? Schnell umschauen! Ja! Wirklich! Er dreht uns den Rücken zu! Schnell, Cleo, schnell! Die Eisbecher entleert!

Es funktionierte. Innerhalb eines einzigen Augenblicks hatten wir den Inhalt der beiden Eisbecher in die Tüte gekippt und diese verstaut. Wir waren gerettet!

Und schon drehte sich der Eismann wieder zu uns um und erstarrte, als er die geleerten Schüsseln sah.

„Hm … war sehr lecker!“, meinte Cleo.

„Super!“, meinte ich.

„So schokoladig!“, meinte Cleo.

„Können wir dann zahlen?“, meinte ich.

Als wir den verdatterten Eismann und seine Diele für immer – das hoffe ich bei meinem Leben – mit einem Verlust von insgesamt fünfzehn Euro verließen, sprangen wir durch die Straßen der Innenstadt, lachten und fielen uns am Ende sogar in die Arme, so sehr freuten wir uns, dass wir noch am Leben waren. Manche Passanten blieben verdutzt stehen.

Ich weiß noch, dass ich mir dachte, wie ich ab jetzt jede Sekunde meines Lebens genießen würde, jeden Bissen zwanzigmal kauen, an jeder Blume stehenbleiben und daran riechen würde. Wie ich sogar meine blöde Schwester küssen und sagen würde: „Du bist gar nicht so eine garstige kleine Klette, wie ich es gelegentlich im Internet poste!“

Ja, wir fühlten uns wie neugeboren!

Dann aber passierte das Unheil.

Sophie kam lachend auf uns zu. Sie hatte ihr Handy in der Hand und hielt es mir, bevor ich mich über ihr plötzliches Erscheinen wundern konnte, vor die Nase. Sie hatte ein Foto von meiner Körperrückseite gemacht und lachte so unheilverkündend, dass es mich fröstelte. Auch Cleo sah plötzlich sehr krank aus.

Zugegeben – das musste ich in diesem Augenblick kränkend erfahren –, ich sehe von hinten wirklich nicht hübsch aus. Mein Popo ist zu breit für einen Buben und auch meine Haltung erinnert mehr an eine zerknickte Essiggurke als an einen aufrechten Knaben. Doch als ob dieser Anblick nicht schon schockierend genug gewesen wäre, erblickte ich auch noch einen großen braunen Fleck an meinem Hintern!

Und ich blickte in Sophies langsam lachendes Gesicht und die Vögel flogen in Zeitlupe vorbei und meine Hand wanderte so zäh wie im zähesten Alptraum nach meinem Hintern und tappte nach Minuten, nein, es waren unendlich viele Stunden, an meine schokoversiffte Hose!

Es war alles wahr! Die Tüte hatte ich mir im Eifer in die Hose geschoben, weil sie für die Hosentasche ja zu groß war, und da ist sie ausgelaufen! Unnötig zu erwähnen, dass mein Aussehen auch andere Schlüsse zuließ, als dass mir eine Tüte mit geschmolzenem Schokoeis, die ich rein zufällig in meiner Hose mit mir herumtrug, ausgelaufen sei. Und Sophie hatte ein Beweisfoto!

Wie geht es nun weiter? Wird Sophie das Foto an all meine Mitschüler schicken? Wird sie uns erpressen? Oder wird vielleicht noch alles gut?

Die Antwort erfahren Siiiiieeee … im nächsten Kapitel!

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Den Schatz bewacht der Menschenfresser

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