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Blutsbrüder

Am Freitagabend, also am Beginn der Faschingsferien, trafen sich ich und Cleo bei mir. Cleo hatte bei seiner Mutter herausgehandelt, das ganze Wochenende bei mir übernachten zu dürfen. Sein Vater war ohnehin mal wieder nicht daheim gewesen. Der arbeitet irgendetwas ganz Wichtiges, verdient sehr viel Geld und muss immer eine Krawatte tragen. Dafür kann er aber nur am Wochenende zu Hause sein, aber auch das nur selten, weil er oft in anderen Ländern und auf ganz weit entfernten Kontinenten unterwegs ist, wo man ja nicht einfach mal vorbeikommen kann.

Wir gingen ins Internet, wo es eine Übersetzungsmaschine gibt. Da muss man nur die lateinischen Wörter eingeben und schon spuckt sie einem die deutsche Übersetzung aus. Uns fiel sehr schnell auf, dass es die beiden Wörter AVESQ̅U̅ und EXSPECTOQ̅U̅ nicht gab. Aber es gab AVES und EXSPECTO. Normalerweise heißt ein hinten angehängtes QUE: und. Da hätte dann aber das E gefehlt.

„Meine Oma,“ sagte ich nachdenklich und meinte damit dich, Oma Inge, „die macht manchmal über einen Buchstaben einen Strich und das heißt dann, dass der eigentlich doppelt vorkommen muss. Zum Beispiel schreibt sie Hummel mit nur einem m und dafür mit einem Querstrich obendrüber. Das sieht dann so aus: Hum ̅el. Um Zeit zu sparen, weißt du?“

„Hm … vielleicht soll der Querstrich hier auch nur bedeuten, dass etwas weggelassen worden ist. Das ist, wenn man genauer drüber nachdenkt, ja nur logisch: Deine Oma ist ja noch viel näher an den Römern dran wie wir“, antwortete Cleo. Nimm das bitte nicht böse, Oma. Er meint das nicht so!

Also übersetzten wir AVESQ̅U̅ mit: und Vögel. Und EXSPECTOQ̅U̅ hieß dann auf Deutsch: und ich erwarte. Nach einer guten halben Stunde, als du, Mama, gekommen bist und „Die Zeit ist um!“ gerufen hast, waren wir auch schon fertig. Nur für zwei Wörter konnten wir keine deutschen Entsprechungen finden. DI und CN. Aber sonst sah die Schatzkarte schon ganz gut aus:

lieb Freund welcher diesen Brief hast erfunden

wie gefährlich DI unsterblich sie sind vor allem Neptun von Knie bis zu Mond beinahe ich kam nun in Bergspitze ich sitze und ich erwarte Tod obwohl von Güter schöne umgeben ich bin suche mich wo niemals Schiffe sie segeln und Vögel der Wellen sie nisten Schatz mein ich werde teilen mit dir wenn mich du wirst heilen

CN Fischer

Ihr könnt euch vorstellen, wie wir uns fühlten, als wir diesen Brief lasen. Plötzlich war es keine unverständliche Sprache und auch kein lächerlicher Aprilscherz mehr. Es war Deutsch und der Inhalt war, von ein paar Ausnahmen abgesehen, ganz gut zu verstehen. Abwechselnd lasen wir den Zettel, auf den wir die Übersetzung gekritzelt hatten. Unsere Hände zitterten dabei.

„Was habt ihr denn da?“, hast du uns neugierig gefragt, Mama. Unsere Aufregung musste dir ja auffallen.

„Eine Hausaufgabe“, habe ich geantwortet, „für Latein.“

„Seit wann machen euch denn Hausaufgaben Spaß?“

„Seit … seit …“, habe ich herumgedruckst. Cleo schnüffelte indessen auffällig in der Luft herum. Dann sagte er: „Riecht’s da nicht irgendwo verbrannt?“

Das tat mir echt Leid, Mama. Du hattest ja einen riesigen Schreck bekommen und warst in die Küche gerannt, dabei hatte Cleo doch nur ablenken wollen. Nichtsdestotrotz hatten wir plötzlich wieder freie Bahn, die Schatzkarte zu entschlüsseln. Beim Abendessen hattest du unsere seltsame neue Freude am Hausaufgabenmachen schon wieder vergessen.

Mein Kinderzimmer ist sehr klein. Das macht aber nichts, denn ich brauche es wenigstens nicht mit der Bärbel zu teilen. Und auf dem Teppich zwischen Bett und Schreibtisch ist immer noch genug Platz, um sich eine Höhle zu bauen. Das taten wir auch an diesem Freitagabend. Wir spannten zwei Decken zwischen Schreibtisch und Bettpfosten und verkrochen uns darunter. Wir hatten zwei Taschenlampen, mehrere Blätter Papier, Stifte und das Felix A dabei. Das Original-Pergament lag wieder gut verstaut in der Amphore, denn meine Eltern hätten es ja sofort als ein wertvolles Schriftstück erkannt, wenn sie es gefunden hätten. Das Risiko war es nicht wert. Außerdem hatten wir Proviant dabei: Eine Schüssel voller Schoko-Koalas und eine Flasche Kindersekt. Jetzt ging es daran, den Text in verständliches Deutsch umzuschreiben.

Cleo nahm sich eine Handvoll Koalas und steckte sie in den Mund. Ich konnte noch gar nichts Süßes essen, so angespannt war ich. Das Abendessen hatte ich gegen den Willen meines Körpers hinuntergewürgt, nur damit meine Eltern nichts spannten. Wir betrachteten unser Papier. Für einen Moment war es totenstill. Nur der Nachrichtensprecher schallte dumpf vom Wohnzimmer herüber: „Die Schwesterpartei kopuliert mit der Kollision nach Angaben des Mister Präsidenten Seeufer.“

Der erste Satz war noch recht einfach umzuschreiben:

Lieber Freund, der du diesen Brief gefunden hast.

Der zweite Satz bereitete uns dagegen Kopfzerbrechen. Das lag vor allem an dem blöden Wort DI, das wir nicht gefunden hatten. Wir konnten uns aber zumindest sicher sein, dass der Satz nur bis Neptun ging, denn das Folgende war leicht verständlich und irgendwie ineinander geschlossen. Wer Neptun war, hatten wir am Tag zuvor herausgefunden. Mit dem dicken Lexikon in unserem Bücherregal. Ein Meergott war er. Und zwar ein Meergott, an den die Römer früher geglaubt hatten. Der trug einen langen Bart und eine Mistgabel in der Hand. Außerdem hatte er einen Fischschwanz statt Beine, so wie die Meerjungfrauen.

Nach langem Hin- und Herüberlegen und vielen, vielen Koalabären, die sich Cleo in die Backentaschen stopfte, gaben wir auf und widmeten uns dem dritten Satz:

Ich kam vom Knie beinahe bis zum Mond.

„So ein Schmarrn!“, schimpfte Cleo und eine Fontäne aus halbdurchnässten Schokokeksbrocken sprudelte aus seinem Gesicht. Er war sehr missgelaunt über diesen seltsamen Satz. Es gelang mir aber, seine Laune zu bessern, als ich ihm den nächsten sehr langen Satz gut verständlich und schön aufschrieb:

Nun sitze ich in der Bergspitze und erwarte den Tod, obwohl ich von schönen Gütern umgeben bin.

„Jetzt bin ich dran!“, rief Cleo und glänzte mit dem nächsten Satz:

Suche mich, wo niemals Schiffe fahren und die Wellensittiche nisten.

Er hatte Vögel der Wellen mit Wellensittiche übersetzt. Das kam mir irgendwie komisch vor. Bevor ich aber darauf eingehen konnte, legte er schon nach:

Wenn du mich heilen wirst, werde ich meinen Schatz mit dir teilen.

Das CN Fischer konnten wir nicht weiter übersetzen, aber weil es ganz unten stand, dachten wir, dass es vielleicht der Name des Schreibers war, der vielleicht Christian Norbert Fischer hieß.

Jetzt waren wir aber ganz begierig darauf zu sehen, wie der Text insgesamt lautete. Ich durfte vorlesen:

Lieber Freund, der du diesen Brief gefunden hast.

Wie gefährlich DI unsterblich sie sind, vor allem Neptun! Ich kam vom Knie beinahe bis zum Mond. Nun sitze ich in der Bergspitze und erwarte den Tod, obwohl ich von schönen Gütern umgeben bin. Suche mich, wo niemals Schiffe fahren und die Wellensittiche nisten. Wenn du mich heilen wirst, werde ich meinen Schatz mit dir teilen.

Christian Norbert Fischer

Das war genial! Was für ein Rätsel! Bis auf einen Satz hatten wir alles super übersetzt und jetzt galt es nur noch, den Inhalt richtig zu verstehen. Zum Triumph griff ich in die Koalabärenschüssel, aber die war leer. Cleo hatte alle aufgegessen und mir kein Bröselchen übriggelassen. Stattdessen langte ich in einen seiner halbzerkauten Klumpen, die er im Zorn ausgespuckt hatte.

„Hugo! Wir sind da auf etwas Phänomenales gestoßen!“, sagte er feierlich und schenkte uns beiden den Kindersekt ein, wie es Erwachsene tun, wenn sie Geburtstag oder Silvester feiern – oder Alkoholiker sind.

Dann hielt er sein Glas hoch, legte die Hand auf die Brust und sagte: „Von diesem Moment an verbindet uns beide ein großes Geheimnis. Das heißt, dass wir ab jetzt alles teilen müssen: Alles, was wir mögen, und alles, was wir nicht mögen. Auch unser Blut!“ Und er zog sein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche.

„Du spinnst wohl!“, rief ich. Ich hatte vor Schreck fast meinen Sekt verschüttet. „Ich werde mich sicher nicht blutig schneiden!“

„Doch,“ sagte Cleo stirnrunzelnd, „sonst können wir doch keine Blutsbrüder werden.“

„Ich will auch gar kein Blutsbruder sein“, erwiderte ich. „Es ist total hirnrissig, sich selber eine Wunde in den Finger zu schneiden. Man kann auch so beste Freunde sein!“

Cleo klappte das Messer aus, schnitt sich in den Daumen und reichte es dann mir. Gerade so, als hätte er meinen Einwand gar nicht gehört. Das ärgerte mich. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich ihn im Stillen auch bewunderte, denn er hatte dabei keine Miene verzogen. Doch ich nahm ihm das Taschenmesser trotzdem nicht ab, sondern schüttelte nur den Kopf.

„Los jetzt! Du musst dir auch in den Finger schneiden! Vielleicht ist dieser Moment der wichtigste in unserem Leben!“

Ich blieb stur: „Ganz sicher nicht!“

Ich wollte gerade das Glas zum Mund führen, um mich dann endlich, endlich dem Rätsel zuwenden zu können, da packte Cleo sein Messer fest mit der rechten Hand und ließ es auf meinen Unterarm sausen, dass ich unter Schmerzen aufschrie! Nach wenigen Sekunden blutete ich aus einer streichholzlangen Wunde!

„Du Arschkopf!“, quiekte ich. Ich war außer mir vor Entsetzen. Aber Cleo lachte nur und presste seinen blutigen Daumen darauf.

„Jetzt sind wir wirklich richtige Freunde! Jetzt haben wir sogar das gleiche Blut!“

„Das ist doch unglaublich! Das … das …“, stotterte ich. „Und wenn ich nun Syphilitis von dir kriege?!“

Da blieb Cleo aber ganz gelassen: „Ich habe ja gesagt, dass wir jetzt alles miteinander teilen. Auch das, was wir nicht so mögen.“

*

Den Schatz bewacht der Menschenfresser

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