Читать книгу Den Schatz bewacht der Menschenfresser - Lukas Wolfgang Börner - Страница 5

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Wer ich bin

Also, mein Name ist Hugo Ramsauer. Eigentlich heiße ich Hugo Emmanuel Heinrich Otto-Karl Ramsauer, nach meinen Vorfahren. Aber das musst du dir nicht alles merken. Den Nachnamen habe ich von meiner Mama, die schon seit Generationen Ramsauer heißt. Mein Papa heißt Anders, weil der sich ums Verrecken nicht von seinem Mädchennamen trennen wollte.

Also ich meine, er heißt auch anders als ich, meine Mama und meine Schwester, aber er heißt außerdem wirklich „Anders“ mit Nachnamen. Aber weil dieser Name so blöd ist und immer zu Missverständnissen führt, haben meine Eltern entschieden, uns Kinder Ramsauer zu nennen. Das heißt wiederum, dass ich niemals in folgende Situation kommen werde:

Lehrer: Wie spricht man deinen Nachnamen richtig aus, Hugo?

Hugo: Anders.

Lehrer: Ja, aber wie?

Hugo: Anders.

Ich trage nachts eine Zahnspange und habe schwarze Haare. Für mein Alter bin ich ziemlich groß, schon fast so groß wie meine Mama. Das liegt auch daran, dass ich erst mit sieben Jahren eingeschult wurde und nicht schon mit sechs wie mein bester Freund Cleo, der eigentlich Johann Reuther heißt. Er hatte sich uns am Anfang der fünften Klasse als Cleopatra vorgestellt, weil er fand, dass dieser Name nur so vor männlicher Urgewalt strotze. Da hatte unser Lehrer einen Lachanfall bekommen und uns erklärt, dass Cleopatra aber eine Frau, eine Pharaonin aus Ägypten gewesen wäre. Da errötete Cleo und wir lagen auf unseren Bänken vor Lachen.

In der Pause hatte uns Cleo aber erklärt, er habe sichere Belege dafür, dass es schon vor der Zeit der Pharaonen einen männlichen, vollbärtigen Cleopatra gegeben habe, der immer in seiner Mittagspause durch den Dschungel getrampelt sei, um Schlangen und Säbelzahntiger mit bloßen Händen zu erwürgen. „Mit den Säbeln hat er dann so viele Mammuts kaltgemacht, dass sie gleich ausgestorben sind. Cleopatra selbst war aber Vegetarier. Er aß nur Heidelbeeren und tötete die Tiere nur zum Training!“ Das war so cool, dass uns allen der Atem wegblieb.

Also konnte Cleo seinen Namen behalten, ohne dass sich jemand noch darüber lustig machte. Er selbst ist Vegetarier, genau wie sein bärtiger Namensvetter. Zumindest behauptet er stur, er sei Vegetarier. Auch wenn ich seine persönlich festgelegten Regeln zum Vegetarismus etwas fraglich finde. Zum Beispiel isst Cleo die Haut von Hendln und Chicken Wings ohne schlechtes Gewissen, weil er sagt, dass Haut ja kein Fleisch sei. „Dann dürften Vegetarier auch keine Milch und keinen Pudding essen, denn da ist ja auch Haut drauf!“

Das leuchtet ein. Was ich persönlich aber nicht nachvollziehen kann, ist, dass mein Freund regelmäßig Wurst isst. Er behauptet, dass niemand genau wisse, was in so einer Wurst drin sei. „Ich bin doch nicht bescheuert und verzichte mein ganzes Leben auf Wurst und dann sagt mir irgendein dahergelaufener Wissenschaftler kurz vorm Tod, dass da gar kein Fleisch drin ist!“

Den Vegetarismus hat Cleo ursprünglich von seinem seligen Hund, einem Husky, abgeschaut. „Der hat nur Knochen gefressen und Knochen sind kein Fleisch. Also war er ja auch Vegetarier!“ Überhaupt ist sein Hund, den vor fünf Jahren angeblich die Maul- und Klauenseuche dahingerafft hat, sein großes Vorbild. Er hätte dem kleinen Baby-Cleo zum Beispiel das Laufen beigebracht. Außerdem wäre Cleo auf dem Hund immer in den Kindergarten geritten, sagt er. „Da habe ich einfach einen Knochen an der Angel vor seine Schnauze gehalten und mich mit der anderen Hand an seinen Schlappohren festgehalten.“

Seltsam, dabei haben Huskys gar keine Schlappohren.

Heute hat Cleo kein vierbeiniges Haustier mehr, nur noch ein Aquarium. Ich habe ein Terrarium und da ist eine modergrüne Schildkröte drin, die ich nach dem Tod meines Großonkels geerbt habe. Sie heißt Sancho Panzer und ist selbst so alt, dass sie manchmal tagelang in ihrem Panzer verschwindet und erst wieder herauskommt, wenn man mehrmals höflich anklopft. Meine ständige Angst ist, dass sie dort irgendwann mal zum Sterben verschwindet, ich sie dann nach Tagen hochnehme und mir plötzlich ein blankes Schildkrötenskelett entgegenfällt.

Cleo hatte bis neulich noch viele Fische in seinem Süßwasseraquarium gehabt: Barben, Neons und Welse. Dann wollte er ihnen etwas Gutes tun und hat lebendige Minikrebse als Futter für sie gekauft. Du weißt schon, lieber Leser, das sind diese Krebse, die man auch selber züchten kann – die gibt’s in der Zoohandlung in kleinen Wassertüten zu kaufen. Cleo hatte gleich zehn solche Tüten gekauft, damit seine Fische sich richtig sattessen könnten. Was er aber nicht bedacht hat, war, dass die Minikrebse ja im Salzwasser leben. Er hat also zehn Tüten Salzwasser in sein Aquarium gekippt, worauf alle Fische sofort gestorben sind. Die Krebse wiederum vermehrten sich ungezügelt und fraßen nach ein paar Tagen die toten Fische auf. Cleo hat sich seitdem an seine neuen Haustiere gewöhnt und kauft nun regelmäßig Fischfilet für seine hungrigen Krebse.

Wie dem auch sei, ich wollte ja eigentlich was von mir erzählen und nicht von Cleo. Dass ich groß bin, habe ich ja schon gesagt. Auch dass ich schwarze Haare habe. Hm … was könnte ich denn noch erzählen? Was ich für Kleider anhabe?

Die sind immer unterschiedlich. Meine Kleider, meine ich. Das ist auch gut so.

Das war aber nicht immer so. Als ich ans Gymnasium gekommen bin, hat meine Mama gesagt, Zitat: „Du bist jetzt langsam alt genug, um deine Kleidung selbst herauszusuchen.“ Zitat-Ende. Zuvor hatte sie mir jeden Morgen die Kleider zum Anziehen aufs Bett gelegt, aber mit Beginn der fünften Klasse hat sie damit aufgehört.

Das war hart. Denn ich hatte mir davor nie Gedanken darüber machen müssen, welche Farben wohl zusammenpassen und welche sich beißen. Und ich wollte natürlich nicht, dass sich die Farben beißen. Also trug ich nur noch Komplementärfarben. Das sind die Farben, die am wenigsten miteinander zu tun haben. Die können sich nicht beißen, denn nur Farben, die einander ähnlich sind, beißen sich.

Rot und Grün zum Beispiel sind Komplementärfarben. Violett und Gelb auch. Und auch Blau und Orange. Doch genau dieses Blau-und-Orange war mein Verhängnis. Denn ich besitze ja nur blaue Jeans als Hosen, was heißt, dass ich nur orangerote Oberteile tragen konnte. Orangerote Pullis im Winter und orangerote T-Shirts im Sommer. Und das, obwohl ich die Farbe Orange verabscheue! Ich liebe ja NATO-Oliv, wie es die Soldaten tragen. Aber da hätte ich ja eine hellrote Hose gebraucht und die hatte ich nicht.

Das Dümmste an alldem war, dass die Mama dachte, dass Orange meine neue Lieblingsfarbe wäre, weil ich ja alle Tage wie eine Mandarine herumlief. Zu meinem Geburtstag bekam ich schließlich einen neuen Schulranzen in …

Na, was denkst du?

In Orange!

Da habe ich vor lauter Unglück weinen müssen und erklärt, dass ich die Farbe hasse und nur nicht wüsste, welche Farben sich nicht beißen. Zum Schluss ging alles gut aus. Mama tauschte den Ranzen um, gegen einen, der blau war (NATO-Oliv mögen meine Eltern nicht). Außerdem legt sie mir seitdem meine Kleider wieder aufs Bett. Ich ziehe sie an und freue mich, dass die orangeblauen Zeiten endlich vorbei sind.

Hier habe ich ein Blatt. Es ist Pergament, sonst hätte die Zeit das Blatt aufgefressen und nichts als einen mumienhaften verwitterten Klumpen zurückgelassen. Dieses Blatt habe ich in der alten Amphore gefunden. Der Hals war verstopft und ihr dachtet sicher, dass man den Korken niemals lösen könnte, ohne die Amphore zu beschädigen. Mir ist es aber gelungen. Mit Wasser, Kraft und Geduld habe ich den Korken herausziehen können, um schließlich festzustellen, dass es gar kein Korken war, sondern ein schwarzer Stopfen, der früher vielleicht einmal Stoff gewesen war. Von einer Jacke, einem Hemd oder einem Schiffssegel vielleicht. Er war deshalb so fest in den Amphorenhals hineingesteckt worden, um sicherzugehen, dass das Innere auf gar keinen Fall beschädigt wird. Ich hatte schon früher überlegt, welches Rätsel diese Amphore beherbergt, und hatte dann halt irgendwann einfach das Verlangen, in das Innere zu schauen. Darum, ihr Lieben, habe ich mir so viel Mühe gegeben, den Stopfen herauszuziehen. Und ich fand dieses Blatt hier.

Leider musste ich auch hier ein wenig schwindeln. Denn ich hatte natürlich nie ein Verlangen danach gehabt, irgendeinem Rätsel, dass ich in der alten Flasche vermutete, auf die Schliche zu kommen. Ehrlich gesagt habe ich mich bis vor kurzem nicht ansatzweise für Geschichte und die alten Zeiten interessiert. Wenn ich nur verstaubte Bilder von Rittern und Römern und den anderen Kriegern sah oder diese weißen Marmorgebäude mit den Säulen, die Kolosseum heißen, dann gähnte ich und träumte mich vorsichtshalber auf und davon. Sehr zum Ärger meiner Eltern übrigens, die sich beide für solche alten Zeiten interessieren. In unserem Badezimmer, zum Beispiel, steht eine kleine Statue von einer Kriegsgöttin. Athene heißt die. Die hat außer einem Helm überhaupt nix an und wenn man allein im Bad ist, kann man ihr mit einem spitzen Zeigefinger auf die Brustwarze drücken.

Egal, auf jeden Fall wollte mein Papa, dass ich nicht zuerst Englisch, sondern Latein lerne, weil Latein, wie er sagte, die Mutter aller wichtigen Sprachen sei und wenn ich mal Naturforscher werden wolle, brauche ich Latein, denn die Tiere und Pflanzen würden dort nur mit lateinischen Namen angesprochen. Ein paar habe ich schon gelernt: Salamandra salamandra heißt der Feuersalamander. Und der Uhu heißt Bubo bubo.

Ja, Naturforscher, das ist ein schöner Beruf. Das macht Spaß, das ist lebendig und bunt. Geschichte ist tot und grau. Oder im Fall der Römer weiß.

Ich werde eines Tages der größte Naturforscher sein seit Charles Darwin. Ich werde durch die Meere segeln und der erste Mensch sein, der einen gigantischen Riesenkalmar einfängt und in den Zoo bringt. Der ist bisher noch fast nicht erforscht worden. Keiner weiß, wie groß der werden kann, aber man weiß, dass tief unten im Ozean Pottwale gegen Riesenkalmare kämpfen. Und manche von den Riesenkalmaren sind so riesengroß, dass sie ohne Mühe die Pottwale zerfleischen, aber das weiß bisher noch niemand. Denn Kalmare brauchen keine Luft wie Wale und kommen deshalb nie an die Wasseroberfläche. Wenn die in der Tiefsee sterben, sinken sie auf den Meeresgrund, wo ihre gigantischen Kadaver von Krabben aufgefressen werden. Diese Tiefseekrabben sind ganz schwarz und haben leuchtende Augen. Im Gegensatz zu den Krabben im Flachwasser haben sie nicht acht Beine und zwei Scheren, sondern insgesamt zehn Scheren. Sonst könnten sie nie die gewaltigen toten Körper in mundgerechte Teile schneiden.

Du siehst, mein lieber Lesefreund, dass ich ganz und total in meiner Naturforscherzukunft aufgehe. Es gibt ja noch so viel zu entdecken!

Das glaubst du nicht? Du denkst, die Welt wäre doch schon bis zuletzt erforscht und da gibt es von der Tiefsee abgesehen nichts mehr, was man noch entdecken könnte? Haha! Ich wusste, dass du das denkst. Das denken nämlich alle. Und genau das ist der Grund, warum es so viel zu entdecken gibt. Denn die Welt verändert sich ständig, genauso die Tiere und die Pflanzen. Was vor hundert Jahren erforscht wurde, muss heute nicht mehr stimmen. Aber weil jeder denkt, dass alles schon erforscht ist, erforscht niemand mehr etwas und die Welt erblüht in neuen Geheimnissen. Aber ich möchte gar nicht um den heißen Brei herumreden, ich möchte dir einen ganz konkreten Beweis für meine Behauptung liefern:

Die Gelbbauchunke, auch Bombina variegata, gilt in Deutschland als beinahe ausgestorben. Das heißt, man müsste sie ähnlich selten zu Gesicht bekommen wie etwa einen Braunbären oder einen Wolf. Tatsächlich aber kenne ich nicht weniger als siebenunddreißig Stellen in der näheren Umgebung, wo es Gelbbauchunken in Hülle und Fülle gibt. Da staunst du, was? Und weißt du auch, warum? Weil früher Gelbbauchunken in großen Teichen gelebt haben – Teiche, die ständig von Naturfreunden kontrolliert werden. Die sitzen dann am Teichrand mit einer Strichliste und haken die Tiere ab, die auftauchen. Grünfrosch. Haken. Ringelnatter. Haken. Gelbbauchunke? Kein Haken. Wasserläufer. Haken. Sumpfmeise. Haken. Gelbbauchunke? Kein Haken. Und so weiter. Und irgendwann werfen sich die Naturfreunde ins Gras und flennen wie die Waschweiber, weil sie ihre Unken so schmerzlich vermissen.

Aber die sind nur umgezogen. Sie leben jetzt nur und ausschließlich in kleinen Pfützen im Wald. Manche von diesen Pfützen sind nichts als winzig kleine Fahrspurrinnen mit vielleicht einem Liter Dreckwasser drin. Mehr nicht. Aber wer geht schon in den Wald und guckt in die Pfützen?

Du siehst, es gibt viel zu entdecken. Ich habe schon einige große Entdeckungen gemacht. Aber keine war so über alle Maßen großartig, wie die, von der ich meiner Familie und dir gleich erzählen werde.

Wo war ich eigentlich stehengeblieben?

Ach ja, ich wollte dir erzählen, dass ich mich nicht für Geschichte interessiere. Denn Geschichte ist ja total langweilig. Deshalb hätte ich auch nie in die alte Amphore reingeschaut, um irgendetwas über die Menschen vor über tausend Jahren zu erfahren. Den Stopfen hatte ich mit Cleo zusammen herausgefischt, nur um ein gutes Versteck für unsere Bildchen-Sammlung zu haben. Das darfst du, mein lieber Leser, aber niemandem weitererzählen, das muss geheim bleiben!

Einmal im Monat schmeißt meine Mama einen Versandhauskatalog weg, wo alle möglichen Waren drin sind, aber hauptsächlich Kleidung. Diesen Moment passe ich genau ab. Wenn meine Eltern nicht da sind oder die Nachrichten anschauen, schleiche ich mich mit einer Schere bewaffnet in den Keller, wo der Papiermüll ist. Ich nehme den Katalog in die Hand – er ist dick und schwer, aber meine Hände zittern nicht deswegen, sondern vor Aufregung. Auf den letzten Seiten ist ein Inhaltsverzeichnis. Drei Buchstaben interessieren mich da. B, D und R. B wie Büstenhalter, D wie Duschvorhang und R wie Reizwäsche. Wenn ich diese drei Worte lese, steigt die Spannung noch einmal. Ich blättere nach den angegebenen Seiten und schneide unter Hochspannung die Seiten aus, wo nackte Busen zu sehen sind. Cleo macht daheim dasselbe, sobald er einen Versandhauskatalog in die Hände kriegt.

Lange Zeit wussten wir nicht, wo wir die Bilder verstecken sollten, die wir so fieberhaft unter allen Gefahren zusammengetragen hatten. Und da war mir die alte Amphore eingefallen, die als langweilige Dekoration bei uns im Hausgang steht.

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Den Schatz bewacht der Menschenfresser

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