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Die Schatzkarte I

Ich weiß noch, dass es ein ekelhafter Wintertag war, als ich und Cleo die Botschaft aus der Amphore fischten. Es lag überhaupt kein Schnee, denn es hatte letzten Winter, wie ihr wisst, kaum geschneit. Trotzdem war es klirrend kalt auf den Straßen. Man fror, sobald man das Haus verließ und schwitzte, sobald man eine S-Bahn, einen Laden oder die Schule betrat. Wo Menschen waren, hörte man es überall husten und röcheln, niesen und räuspern. In der Schule fiel einem das Denken schwer, denn die ganze Rübe war voller Rotz.

Das Schlimmste an dieser Eiseskälte aber waren die Abgase von den Autos, weil die sich gar nicht in Luft auflösten, sondern genau auf Kopfhöhe hängenblieben, wo man sie mit vollen Zügen einatmen musste.

Von euch war keiner daheim, es war ja erst drei Uhr nachmittags. Die Faschingsferien standen vor der Tür, der einzige Hoffnungsschimmer in dieser trostlosen Zeit. Ich und Cleo lümmelten auf der Couch herum und redeten darüber, wie blöd alles war und was wir alles nicht machen konnten. Schlittenfahren zum Beispiel ging nicht. Computerspielen ging auch nicht, wegen eurem hundsgemeinen Passwort! Auf Schach hatte ich keine Lust, weil wie gesagt mein Gehirn in einem flauschigen Erkältungskissen schlief und keine Anstrengung ertragen konnte.

Wie auch immer: Irgendwann lösten wir also den Stopfen aus der Amphore und entdeckten dieses zusammengerollte Pergament hier. Es sah noch ganz gut aus, gar nicht so, wie man sich ein altes Blatt vorstellen würde. Ihr kennt ja diese Schatzkarten, die man selber malt, anschließend mit Kaffee bepinselt, damit sie recht vergilbt ausschauen, und dann die Ränder mit einem Zündholz oder einem Feuerzeug ansengt. So und nur so, dachten wir damals, sehen alte Schatzkarten aus.

Unser Pergament aber sah aus, als wäre es erst gestern beschrieben worden. Die Ränder waren glatt, die Schrift nicht verschwommen oder verwischt, ja, nicht einmal ausgeblichen. Das Einzige, was uns klarmachte, dass wir in den Besitz einer uralten Aufzeichnung gekommen sein mussten, waren die Buchstaben selber, die ohne Zweifel anders gezeichnet sind als heute, zum Beispiel mit kleinen Häkchen und Strichelchen versehen. Und natürlich die Worte. Denn es war kein deutscher Text zu lesen, sondern ein „irres Kauderwelsch“, wie Cleo es treffend ausdrückte.

Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, wie aufgeregt wir über unseren Fund waren, den wir so überraschend gemacht hatten. Cleo hüpfte nervös von einem Fuß auf den anderen und ich konnte überhaupt nicht mehr reden, ohne dass meine Stimme erbebte. Aus heutiger Sicht finde ich unsere große Aufregung mehr als eigenartig, denn wie gesagt: Das Pergament sah ja gar nicht nach einer Schatzkarte aus. Es wirkte viel mehr wie ein unbedeutendes kleines Schriftstück, vielleicht eine Beschreibung der künstlerischen Arbeit des Amphorenbauers oder eine Art alter Garantieschein, um die Amphore bei Unzufriedenheit umtauschen zu können. Es ist mir völlig unerklärlich, warum wir, sobald wir den Zettel sahen, etwas Großartiges dahinter vermuteten. Ja, wir hielten es von Anfang an für eine geheime Botschaft, die man nach allen Regeln der Kunst entschlüsseln musste, um am Ende dafür reich belohnt zu werden. Vielleicht könnte man das mit dem Wort Instinkt beschreiben. Vielleicht gibt es auch gar kein Wort dafür.

Ach übrigens: Cleos Leidenschaft ist das Erfinden von Wörtern, die es noch gar nicht gibt. Er behauptet, dass es viele Dinge oder Gefühle oder Eigenschaften gibt, wofür keine Wörter vorhanden sind. Aber weil man nur über Dinge reden kann, für die es Wörter gibt, falle das keinem Menschen auf.

Zum Beispiel hat er ein Wort erfunden, das heißt Karfrunsch. Mit Karfrunsch ist der Zustand gemeint, dass man in ganz vielen Gesichtern immer wieder ein bestimmtes Gesicht erkennt.

„Wenn man zum Beispiel die Schule schwänzt und stattdessen durch die Innenstadt schlendert,“ erklärte mir mein Freund, „dann kann es passieren, dass man aus Angst, vom Lehrer erwischt zu werden, in jedem Menschen das Lehrergesicht sieht.“

Ich kenne das. Im Advent erkenne ich regelmäßig in jedem bärtigen Mann den Nikolaus und erschrecke mich fast zu Tode. Karfrunsch heißt das also. Ein weiteres sehr nützliches Wort, das Cleo erfunden hat, heißt interissen. Interissen ist ein Verb, das sich aus interessieren und dissen zusammensetzt. Ein unangenehmes Verhalten, das immer im Beisein anderer stattfindet. Es gibt Menschen, die mögen einen nicht besonders, heucheln aber Interesse, und zwar so, dass man durch boshafte Fragen und Bemerkungen vor den anderen dumm dasteht. Da wird man zum Beispiel gefragt: „Und, tust du dich immer noch so schwer in Mathe?“ Oder: „Was ist denn da los? Zwölf Uhr Mittag und du bist schon auf den Beinen?“ Oder: „Isst du unterdessen Gemüse?“ Und wenn man auf die letzte Frage mit „ja“ antwortet, folgt ein: „Ich muss dich enttäuschen. Pizza ist kein Gemüse.“

Solche blöden Fragen und Antworten werden einem nie um die Ohren geworfen, wenn man mit dem Fragesteller allein ist. Und das ist besonders ätzend, weil es ja das Publikum ist, was die Unverschämtheit mit seinem Grinsen und Sprudern perfekt macht.

Ach so, das Wort sprudern kennst du ja auch noch nicht. Das ist mein persönliches Lieblingswort aus dem Cleo-Duden. Es setzt sich aus dem Wort kudern (also lachen) und sprudeln zusammen. Gemeint ist dieser amüsierte Schnaufer durch die Nase, der sich anhört wie eine Mineralwasserflasche, die man das erste Mal aufdreht.

Apropos Flasche: Zurück zum Thema!

Schaut her und staunt! Das hier ist das Kauderwelsch-Pergament, unsere persönliche Flaschenpost:

CARE·AMICE·QVI·EAM·EPISTVLAM·INVENISTI

QVAM·INSIDIOSI·DI·IMMORTALIS·SINT·IMPRIMIS·

NEPTVNVS·A·GENV·VSQVE·AD·LVNAM·FERE·VENI·NVNC·

IN·SCOPVLO·SEDEO·EXSPECTOQ̅ V̅ ·MORTEM·QVAMQVAM·

A·BONIS·PVLCHRIS·CIRCVMDATVM·SVM·QVAERE·ME·VBI·

NVMQVAM·NAVES·NAVIGANT·AVESQ̅ V̅ ·UNDAE·NIDIFICANT·

GAZAM·MEAM·PARTICIPABO·CVM·TIBI·SI·ME·SALVABIS

CN·PISCATOR

„Oh Mann, das ist ja gar kein Kauderwelsch,“ sagte Cleo plötzlich, nachdem er jedes Wort genau studiert hatte, „das ist Latein!“

Ich nickte. Bei dem Wort AMICE hatte es auch bei mir Klick gemacht. Das ist der Vokativ für amicus und das bedeutet Freund. Soviel Latein hatten wir in dem halben Jahr schon gelernt.

„Aber schau mal,“ erwiderte ich dann, „da sind Wörter drin, die haben gar keine Vokale. NVNC zum Beispiel. Das ist doch kein Latein. Lateinische Wörter kann man doch immer aussprechen. Wie zum Beispiel beim lateinischen Namen für Uhu. Der heißt …“

„Dann kann es ja nur Finnisch sein,“ unterbrach mich mein Freund, „denn die Finnen haben viele Wörter ganz ohne Vokale. Die sagen frtzschbppp plmstrtrz zur Ananas!“

„Wachsen in Finnland überhaupt Ananas?“

„Natürlich. Die Ananas wächst ausschließlich in Finnland. Das ist ihre Heimat.“

„Ach was!“

„Freilich. Ist dir noch nie aufgefallen, dass die wie kleine Palmen aussehen? Das liegt daran, dass es kleine Palmen sind. Weil es aber dort oben so saukalt ist, können die Palmen nicht groß werden, sie bleiben klein und werden innen ganz süß.“

„Ich weiß ja nicht.“

„Daher kommt ja die Redensart, dass etwas Kleines süß ist. Das ist der Beweis.“

Manchmal wundere ich mich echt darüber, was Cleo alles weiß. Er sollte Wissenschaftler werden. Sprachwissenschaftler vielleicht. Mit Wörtern und Redensarten hat er’s ja. Andererseits wäre es schade darum, denn er hat ja auch ein sehr gutes Allgemeinwissen. Ob man auch Allgemeinwissenswissenschaftler werden kann?

Sein tatsächlicher Berufswunsch ist so sonderbar wie genial. Er sagt, er möchte später einmal Ecken verkaufen.

„Ecken?“, habe ich dümmlich gefragt.

„Jawohl, Ecken!“, hat er geantwortet. Dann erklärte er mir, dass Ecken die einzigen Dinge wären, die sich vermehren, wenn man sie entfernt. Ich verstand das nicht. Da nahm er ein Blatt Papier in die Hand – einen von den kleinen Notizzetteln, die immer neben unserem Telefon liegen. Er zeigte mir die vier Ecken, wartete geduldig, bis ich alles genau nachgeprüft hatte, und schnitt dann mit einer Schere ein Eckchen ab. Dann zeigte er mir das angeschnittene Papier und ich zählte … fünf Ecken. Und das eine Eckchen, das auf den Boden geschwebt war, hatte plötzlich drei Ecken!

„Genial!“, rief ich.

„Und wenn man bei einem Würfel eine Ecke wegsägen würde, hätte man sogar zwei Ecken mehr am Würfel. Und die weggesägte eine Ecke hätte plötzlich sage und schreibe vier Ecken! Also wären es insgesamt fünf Ecken mehr!“

„Super!“

„Das Beste daran ist, dass ja auch jeder Mensch ständig Ecken braucht“, erklärte Cleo weiter und hielt dabei den Zeigefinger vor seine Nase. „Jedes Haus braucht Ecken, jedes Schulheft braucht Ecken! Bauklötze sind ohne Ecken von Kugeln gar nicht mehr zu unterscheiden. Um was soll meine Oma bei einem Um-die-Ecke-Rätsel herumdenken ohne Ecken? Und was, Hugo, was wäre eine Sitzecke ohne Ecke?“

„Ein bloßer Sitz, sonst nichts!“

Manchmal ärgere ich mich, dass ich mich nur mit Tieren gut auskenne. Sonst lässt mein Wissen nämlich zu wünschen übrig. Wenn ich irgendetwas gefragt werde, was nicht zufällig was mit Tieren zu tun hat, weiß ich keine Antwort. Da bin ich manchmal so begriffsstützig, dass ich mich wundere, wie ich es ans Gymnasium habe schaffen können. Und dabei bin ich ja gar kein soo schlechter Schüler.

Beispielsweise hatte mich an einem Januarnachmittag ein Passant gefragt, wie spät es denn sei. Da habe ich höflich auf meine Armbanduhr geguckt, die ich zu Weihnachten bekommen hatte und die meine erste nicht digitale Armbanduhr war, also eine mit drei Zeigern. Dementsprechend ungeübt war ich noch beim Ablesen der Zeit und habe natürlich prompt den dicken Zeiger mit dem langen Zeiger verwechselt. „26 Uhr 17!“, antwortete ich gewissenhaft. Der Mensch sah erst bestürzt drein, dann runzelte er die Stirn, dann wurde er wütend und wollte mir die Ohren langziehen. Ich konnte gerade noch ins Gebüsch fliehen.

Ein anderes Mal hatte mich ein Touri aus dem Auto gefragt, wo er hinfahren solle. Er wollte zu einer Kunstausstellung, die in Pasing ist. Da habe ich mir gleich Mühe gegeben und ihm den Ort auf einen Zettel geschrieben. Ich wollte es ganz korrekt machen und habe sogar München-Pasing hingeschrieben. Zumindest fast. Ich wollte München-Pasing schreiben, habe aber irgendwie geschusselt oder vom letzten Fußballspiel geträumt oder ich weiß auch nicht. Auf jeden Fall schrieb ich aus Versehen Mönchen-Gladbach auf den Zettel. Der Touri gab’s ins Navi ein und erschrak. Doch auch er fing sich recht schnell wieder und glaubte wohl, wie der Passant, ich wollte ihn reinlegen. Ich konnte mich gerade noch auf mein Radl retten und Reißaus nehmen, bevor er mich packen konnte.

Ja, ich weiß auch nicht, was mit mir nicht stimmt. Ich kriege manchmal Sachen nicht hin, die können Kindergartenkinder schon. Stell dir vor, lieber Leser, ich tu mich schwer beim Schuhbändelzubinden! Als kleineres Kind wollte ich immer Schuhe mit Klettverschluss haben, heute brauche ich solche Schuhe, weil ich in die größte Verlegenheit gerate, sobald sich ein Schuhband löst. Leider sind die Turnschuhe beim Sportunterricht richtige Schuhe ohne Klettverschluss. Einmal, als wir joggen mussten, sind mir da die Schuhbändel aufgegangen und der Lehrer rief, ich solle sie zumachen, sonst würde ich noch drüberstolpern. Das ist natürlich Blödsinn, man stolpert nie über offene Schuhbändel, aber peinlich war es, als ich innehielt, mich hinunterbeugte und sage und schreibe zehn Minuten brauchte, bis ich den Knoten richtig hinbekam. Bei den Klassenkameraden fiel das Gott sei Dank nicht auf – die mussten ja alle joggen –, aber mein Lehrer glaubte, ich wollte nur Zeit schinden, um nicht joggen zu müssen. Er konnte aber bloß schimpfen, weil man als Lehrer ja nicht prügeln darf.

Übrigens: Man merkt schon ungefähr fünf Minuten vorher, dass die Schuhbändel aufgehen werden. Da wird der Schuh plötzlich weiter um den Fuß, der Knoten ist aber noch verknotet. Diesen Zustand hat Cleo Kafrunsch genannt.

„War das nicht schon das Wort für die vielen Lehrergesichter?“, habe ich ihn gefragt.

„Ich glaube manchmal, ich rede mit einem Affen!“, hat Cleo gemotzt. „Karfrunsch hieß das! Karrrrrfrunsch! Das neue Wort heißt aber Kafrunsch. Wenn das dein Gehirn überfordert, dann muss ich mich in Zukunft halt rülpsend mit dir verständigen!“

Manchmal frage ich mich, warum ich mit dem Kerl überhaupt rumhänge.

*

Den Schatz bewacht der Menschenfresser

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