Читать книгу Den Schatz bewacht der Menschenfresser - Lukas Wolfgang Börner - Страница 11
ОглавлениеVom Knie zum Mond
Wir vergaßen das Papier auf unserem Platz und es war Sophie, die schnüffelnd dorthin schlich und die Schatzkarte einsteckte, wie sich später noch herausstellen sollte.
Ich und Cleo trafen uns nach dem Mittagessen im Stadtpark. Innerhalb zweier Wochen war der Frühling ausgebrochen. Wir setzten uns auf eine Bank, die mitten in der Sonne stand. Es war noch kalt, wir konnten die Winterjacken noch gar nicht öffnen, aber die Bank war trocken. Rings herum lagen gelbe und violette Krokusse wie umgestürzte Trunkenbolde auf der Erde, direkt vor unserer Bank standen zwei halbverblühte Schneeglöckchen. Es waren aber noch keine Spechte zu hören und auch sonst keine Vogelstimmen. Nur ein paar Krähen stolzierten wie Pfaue durch den Park und pickten an aufgeweichten Servietten und Dönerpapieren herum.
„Ich gebe dir in allem recht,“ sagte Cleo, „die Flaschenpost musste ins Wasser und es sind wohl wirklich eher Wasservögel gemeint. Die Unsterblichkeit ist auch kein Thema mehr, weil damit ja bloß die Götter gemeint waren. Ich glaube, dieser zweite Satz soll nichts Anderes heißen, als dass dieser Christian sehr viel Unglück gehabt hat, besonders mit dem Meer. Siehst du das auch so?“
Ich sah das auch so. Ich wollte zustimmen, aber Cleo fuhr bereits fort: „Christian war ein Fischer und ist mit seinem Boot hinausgefahren und irgendwo hingekommen, wo sonst keine Schiffe fahren. Und wo Wasservögel nisten. Dort hat er einen Schatz gefunden. Aber aus irgendeinem Grund kam er nicht mehr zurück.“
„Sein Boot ist kaputt gegangen“, rief ich. „Das ist doch klar. Deswegen kauert er sich ja auf einem Felsen zusammen.“
„Kauerte!“, verbesserte mich Cleo. „Der lebt doch nicht mehr!“
Es ist mir unerklärlich, aber als Cleo das so sagte, überkam mich eine unglaubliche Traurigkeit, obwohl ich das ja auch wusste. Sicherlich hat Christian all seine Hoffnung in die Flaschenpost gesetzt. Aber derjenige, der sie gefunden hat, hat sie niemals geöffnet, sondern einfach verscherbelt, der Blödsack!
„Auf jeden Fall“, fuhr ich fort, ohne meine Traurigkeit zu verheimlichen, „auf jeden Fall saß er dort auf seinem Felsen zwischen Vogelnestern. Wahrscheinlich ist der Felsen genau sein Problem gewesen. Sein Boot ist vielleicht dagegen gestoßen und dabei kaputtgegangen. Aber weil er irgendwo war, wo keine Schiffe fuhren, konnte er nicht winken oder um Hilfe schreien. Deshalb hat er seine Amphore ausgetrunken, einen Brief geschrieben und die Amphore zuletzt mit seinem Hemd oder einem anderen Stoff, den er anhatte, verstopft. Er hoffte ja, dass gleich jemand die Flaschenpost finden und ihn retten würde. Aber das hat dann doch zweitausend Jahre gedauert.“ „Und du meinst, der hatte immer Stift und Pergament bei sich?“, fragte Cleo zweifelnd.
Die Frage konnte ich leicht beantworten. Und zwar wegen meinen vielen Naturbeobachtungen.
„Christian Norbert hatte halt Stift und Pergament bei sich. Auch, wenn das unwahrscheinlich ist. Vielleicht gab es ja hunderttausend andere Römer, denen etwas Ähnliches passiert ist, aber wir werden nie etwas von denen erfahren, weil die keinen Stift und kein Pergament dabeihatten. Das ist derselbe Grund, warum es in Büchern so viele Helden gibt. Auch in Geschichtsbüchern. Da müsste man sich ja eigentlich auch wundern, aber das ist doch bloß so, weil über ganz gewöhnliche Menschen niemand schreiben will.“
Es war einer von wenigen Momenten, in denen ich einen beeindruckten Cleo vor mir sah. Er wendete seinen Blick nicht von mir und ich dachte: Gleich klopft er mir auf die Schulter. Aber das tat er nicht, sondern kümmerte sich wieder um das Rätsel: „Also ist Christian dort auf dem Felsen gehockt, bis er verdurstet oder verhungert ist, ok. Dann bleiben ja nur noch zwei offene Fragen. Die erste Frage: Was ist das für ein Schatz? Immerhin spricht er ja von schönen Gütern, die ihn umgeben.“
„Vielleicht ist der Felsen sehr groß und es liegen Goldstücke drauf.“
„Zweite Frage: Was meint er mit dem Knie, von dem aus er fast zum Mond gekommen wäre?“
„Das weiß ich auch nicht. Aber ich finde, wir können uns jetzt ganz auf diese zweite Frage konzentrieren, weil wir ja jetzt noch gar nicht wissen müssen, was das für ein Schatz ist. Das sehen wir ja, wenn wir das Rätsel geknackt haben.“
„Schon,“ antwortete Cleo zögernd, „ich habe nur Angst davor, dass dieser Schatz irgendetwas ist, was nur zur Römerzeit ein Schatz war, verstehst du? So ein Schmarrn wie Kartoffeln oder Stierhoden oder so was … naja, aber daran dürfen wir halt gar nicht denken. Was könnte Christian also mit seinem Knie und seinem Mond gemeint haben?“
Ja, was könnte er damit gemeint haben? Ein Übersetzungsfehler war es auf jeden Fall nicht. Mond heißt Mond und Knie heißt Knie. Christian Norbert Fischer hatte es vom Knie fast bis zum Mond geschafft. Das klang irgendwie so, als hätte er aus dem Stand heraus einen sehr, sehr hohen Sprung machen können …
Vielleicht war er ja aus seinem Boot heraus bis zu einem weitentfernten Felsen gesprungen und konnte dann nicht mehr zurück, weil er erschöpft war und nicht schwimmen konnte. Vielleicht hatte sich auch ein Hai oder ein Sägefisch an seinem Boot zu schaffen gemacht und er hatte sich durch den Sprung gerettet. Dann hätte die Stelle mit Neptun auch Sinn gemacht, weil er ja darüber klagt, dass ihm der Meergott besonders übel mitgespielt hätte. Ich sagte das Cleo und er nickte. Sicherlich war mit dem dritten Satz der Satz hin zum Felsen gemeint.
„Tja“, sagte Cleo.
„Tja“, sagte ich.
„Hm“, sagte Cleo.
„Tja“, sagte ich.
„Na, dann“, sagte Cleo.
„Puh“, sagte ich.
„Ach ja“, sagte Cleo.
„Mmh“, sagte ich.
„Vielleicht“, sagte Cleo.
„Jaja“, sagte ich.
Dann ging Cleo nach Hause.
Ich blieb auf der Bank sitzen. Plötzlich hatte ich das unbefriedigende Gefühl, dass wir das Rätsel niemals knacken würden. Denn wir hatten den Inhalt entschlüsselt, ohne auch nur den geringsten Anhaltspunkt zu haben, wo wir suchen sollten.
Naja, den geringsten Anhaltspunkt hatten wir schon: Ein Felsen im Wasser, wo Wasservögel nisten. Und das Ganze musste irgendwo sein, wo niemals Schiffe fahren. Aber, verdammt noch eins, das konnte doch überall sein!
Ich ärgerte mich plötzlich über Christian, der mir, seit ich sein Pergament zum ersten Mal gelesen hatte, irgendwie ans Herz gewachsen war. Wenn der wirklich gerettet werden wollte, dann hätte er doch den Ort, wo er war, etwas besser beschreiben sollen. Dann hätte er den Ort nennen müssen, von dem er losgefahren war, und den Ort, in dessen Richtung er aufgebrochen war. Dann hätte er schreiben müssen: Ich bin von Rom aus fast bis Rosenheim gekommen oder so ähnlich. Stattdessen aber stand da nur was von Knie und Mond. Wie blöd muss man sein?!
Da kam mir aber plötzlich eine Idee. Die Sonne kam gerade hinter einer Wolke hervor, das heißt, mir ging tatsächlich ein Licht auf. Ich richtete meinen Blick auf die hohen Fichten, um nicht geblendet zu werden. Ein schwarzes Eichkatzl mit weißem Bauch saß dort oben und ordnete sein Fell und seinen Schwanz. Es war wohl gerade aus der Winterruhe erwacht.
Lieber Papa, ich hatte plötzlich wieder unseren Angeltag am Gröbenbach im Kopf und unser Gespräch über die scharfen Biegungen in Fließgewässern. Mir fiel plötzlich ein, dass du damals von einem Flussknie geredet hast. Das war nur ein flüchtiger Gedanke, aber es war ein ganz wichtiger Gedanke, weil dem Pergament, wie gesagt, jede Ortsangabe fehlte. Dann fragte ich mich, ob es vielleicht auch etwas Wasserartiges geben könnte, das als Mond bezeichnet wird. Eine große Insel vielleicht oder eine sichelförmige Bucht. Vielleicht war ja das des Rätsels Lösung.
Da war wieder ein kleiner Hoffnungsschimmer. Ich sprang auf und flitzte heim. Ich holte meinen Schulatlas heraus – meinen Schulatlas, den ich bisher nur mit stinkfaden Unterrichtsstunden in Verbindung brachte.
„Hugo“, hatte unser Erdkundelehrer Ott so oft zu mir gesagt und zwar mit einer einschläfernden Stimme, als würde ihn sein eigenes Geschwätz langweilen, „schlag doch mal die Seite 48 auf und nenne uns ein paar ehemalige Vorkommen von Braunkohle.“
Und ich hatte die Seite immer brav aufgeschlagen und ich hatte diesen Längengrad und jenen Breitengrad genannt und mich gefragt, ob man im Alter so verreckt langweilig werden müsse oder ob es einen Ausweg aus dieser Hölle gäbe.
Gerade Erdkunde könnte, müsste doch eigentlich spannend sein. Die Erde zu erkunden, mit Segelschiffen den Ozean zu bezwingen, sich einen Weg durch den Regenwald zu bahnen, Vulkane zu besteigen oder Wirbelstürme mit dem Jeep zu verfolgen: Das ist doch das Nonplusultra des menschlichen Daseins, oder? Wie ist es dann bitte zu erklären, dass Erdkunde sogar noch lahmer ist als der Heimat- und Sachunterricht in der Grundschule?
Wenn Herr Ott das Klassenzimmer betritt, muss ich gähnen. Ich kann nichts dagegen machen. Er betritt den Raum, ich gähne. Er begrüßt die Schüler, ich gähne, er schreibt was an die Tafel, mir fallen die Augen zu. Ich frage mich, ob ich mir irgendwann mal Pupillen auf meine Augenlider malen sollte. Dann könnte ich während der Erdkundestunde in Ruhe schlafen.
Ich kann mich nur an einen einzigen Moment in dem gesamten halben Jahr erinnern, wo ich etwas Anderes bei Erdkunde tat, außer zu gähnen. Das war, als Schlummer-Ott von Archäologen sprach. Weil er irgendwo aus dem Rheinland kommt, spricht er das ch wie sch aus, sodass es wie Arschäologe klang. Da lachten wir herzlich. Aber das war auch schon das einzige Highlight in seinem Unterricht.
Das heißt, ein weiteres Highlight gab es schon noch. Aber weniger für mich als für meine Mitmenschen. Einmal hatte ich nämlich vor lauter Gähnen einen Kieferkrampf bekommen und konnte einen ganzen Tag lang den Mund nimmer schließen. Das sah nicht nur beknackt aus, das tat auch irre weh. Und Cleo, über dessen Tofu-Nackensteaks ich mich in der ersten Pause noch lustig gemacht hatte, genoss es sichtlich, mich seinen widerlichen Vegetarierfraß kosten zu lassen. Schlimmer aber war meine Mama, die am Nachmittag – statt mir zu helfen – die Gelegenheit beim Schopf packte und mit mir zum Zahnarzt fuhr, bei dem ich meinen Mund bisher vorsichtshalber geschlossen gehalten hatte. Der ist früher nämlich Metzger gewesen.
Ich schaute ins Inhaltsverzeichnis unter M und sprang einen Moment später vom Knie aus fast zum Mond. Vor lauter Glück! Unglücklich war nur, dass ich mir dabei den Kopf an meiner Zimmerlampe stieß.
Da gab es doch wirklich und wahrhaftig einen See, der Mondsee hieß. Ich blätterte hastig zur angegebenen Seite. Und da war er: Groß und schön und von mehreren Bächen und Flüssen gespeist. Von Süden her floss ein Bach, der eine so starke Biegung in der Mitte machte, dass er gewaltig wie ein Knie aussah. Er hieß sogar fast Kniebach, nämlich Kienbach.
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