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Hauptfächer sind wichtig

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Geht man der Frage nach, warum auch ich mich wie Claude von Jahr mehr als ein Süchtiger, dem Fahrrad Erlegener betrachte, der mittlerweile in seinem Wohnort als eine Art „Supersportler" angesehen wird (, und das völlig zu Unrecht, denn ich bin im Kreise meiner noch Radrennen absolvierenden Kollegen ein wahrhaft „kleines Licht"!), muss man unweigerlich in meiner Kindheit suchen.

Es war wohl im Jahre 1961 oder 1962, und ich besuchte die erste Klasse (Sexta) des Schubart-Gymnasiums in Ulm. Verwöhnt von guten bis sehr guten Noten aus der Hans-Multscher-Grundschule, wollten meine Eltern - speziell mein Vater - nicht einsehen, dass einem ähnlich gute Noten im Gymnasium nicht zufallen, sondern dass man sie durch vermehrten Fleiß erarbeiten muss. Er sagte den folgenschweren Satz: „Hauptfächer sind wichtig und werden dein Leben bestimmen. Deshalb erwarte ich dort gute Noten. Die meisten Nebenfächer sind fast so wichtig. Unwichtig sind dagegen Sport und ... (das traue ich mich nicht zu schreiben ...). Die Noten, die du dort nach Hause bringst, sind mir egal." Und weiter der berühmte Satz: „So lange du noch deine Füße unter meinen Tisch stellst, werde ich bestimmen, was für dich wichtig zu sein hat ..." Sprach's und hatte mal wieder ein Beispiel seiner „antiautoritären" Erziehung gegeben. (Allerdings wurde dieser Begriff erst in den Siebzigern modern.)

Für mich waren diese Sätze ein Freibrief. Ein Freibrief erst zum Herumkaspern im Sportunterricht und später, als Heranwachsender, zum Schwänzen des Sportunterrichts. Ich, der schon im Grundschulalter keinen Bezug zu Bällen und Ballspielen hatte, erweiterte meine Bezugslosigkeit um Leichathletik und Geräteturnen, um Bodenturnen und alles, was nicht im Wasser stattfand und die Bezeichnung „Sport" trug. Im Wasser hatte ich merkwürdigerweise mehr Spaß, und so waren über 13 Schuljahre die befriedigenden Schwimmnoten das Beste, was ich in Sport zu bieten hatte. Als ich in den letzten Jahren meines Lehrerdaseins immer wieder von Schülern gefragt wurde: „Und hatten Sie niemals eine Fünf?" musste ich antworten: „Doch, in Sport." Und dann folgte stets das gleiche Rätsel: „Ich hatte in 13 Schuljahren einmal eine Fünf und einmal eine Drei. Was hatte ich wohl in den restlichen 24 Zeugnissen?"

Richtig geraten! Wobei meine Schwimmnoten die durch die verheerenden sonstigen Sportnoten entstandene Gesamtnote nur minimal aufgebessert hatten - meinem Vater war's egal. Bei den Kladden zu den Bundesjugendspielen waren meist die Leistungen, die ich erbracht hatte, nicht aufgeführt - also meistens null Punkte. Ich selber merkte erst nach einigen Jahren, in welch aussichtslose Position ich mich dabei manövriert hatte: Für Mitschüler oft ein Außenseiter zu sein, den man beim Fußballspielen notgedrungen ins Tor stellte und darauf hoffte, dass kein Angriff auf's Tor erfolgte. Einer, der auch für Sportlehrer eine unrühmliche Rolle in der Mannschaft spielte. Wobei mancher Sportlehrer - heute im Nachhinein betrachtet - ebenfalls eine unrühmliche Rolle spielte, dem Pädagogik fremd zu sein schien.

So z.B. „Hi". Im Schülermund wurde Herr Hierlewang (Name geändert) „Hi" genannt, wobei „Matt Dillon" die genauso treffende Bezeichnung gewesen wäre. Er stand nämlich in „Zivil" (Hi trug niemals Sportkleidung!) neben dem Schwimmbecken oder neben dem Spielfeld, hatte seine beiden Daumen zwischen Gürtel und Hosenbund geklemmt, machte niemals etwas vor und lästerte lieber über schwache Schüler: „Na, Geisler, du Flasche? Nichts drauf heute? ...." usw. Pädagogik 1963. Matt Dillon, der Titelheld der damals im Schwarz-Weiß-Fernsehen laufenden Serie „Rauchende Colts", stand ähnlich da: Daumen zwischen Revolverhalfter und Jeans geklemmt, spöttischer Blick. Heute noch, wenn ich eine TV-Wiederholung von „Rauchende Colts" sehe, fühle ich mich auf unschöne Weise an Hi erinnert.

Nur zwei Mal konnte ich Hi verblüffen: Das erste Mal beim Tauchen im Lehrschwimmbecken der Schule, 50 m lang und 16 2/3 m breit. Als ich nach Abstoß am Beckenrand die dritte Breite in Angriff nahm und die 50 m voll machen wollte, bekam Hi einen ersten Eindruck davon, welch gute Lunge in einem solch schwachen Körper zu stecken schien. Angeblich - so berichteten mir hinterher Mitschüler - wollte er mich herausholen lassen, weil er einen Tiefenrausch befürchtete. Ein paar Wochen später trug er uns auf, in unserer Freizeit für den 5.000 m-Lauf zu trainieren, was ich natürlich nicht tat. Als dann Noten gemacht wurden, lief ich auf Anhieb ein bisschen länger als 17 Minuten, was Hi erstmals ein Zeichen des Respekts abrang.

In diesem Schuljahr hatte ich die „Drei" im Sport.

Schon in jungen Jahren faszinierte mich das Fahrrad als ideales Fortbewegungsmittel. Es machte mich frei, und da mein Vater als überzeugter Eisenbahner und Nutznießer unzähliger „Personalfahrkarten" die Anschaffung eines Autos ablehnte - er hätte sich das Auto auch nur schlecht leisten können - sehnte ich den Tag herbei, an dem ich mit meinem ersten selbstverdienten Geld mein erstes eigenes Fahrrad kaufen konnte.

Wir hatten damals in Riedlingen an der Donau gewohnt. Bei meinem ersten Sommerferienjob im VW-Autohaus der Kleinstadt war ich 14 oder 15 Jahre alt, und der Job war lausig: Lackieren der unterirdischen Treibstofftanks ohne vorherigen Rostschutz, das hieß wieder von vorne anfangen, wenn man hinten fertig war. Außerdem säuberte ich verkalkte Werkstattfenster und schleppte gemeinsam mit VW-Azubis einmal einen VW-Boxermotor von der rechten auf die linke Seite der Werkstatt, was diese köstlich amüsierte (ich war damals ziemlich klein und unbeholfen). Der Arbeitslohn von 1,98 DM pro Stunde erscheint mir heute lächerlich, versetzte mich aber damals nach Empfang der sprichwörtlichen Lohntüte in den Status eines steinreichen Industriekapitäns. Mein erstes eigenes Rad, ein dunkelviolettes Herkules-Stahlrad mit Columbusrohren und roter Sachs-Dreigangschaltung, kostete 298.- DM, bei ca. 320 DM Monatslohn blieb sogar noch etwas übrig für die „Must-have"-Radlaufglocke und einen Sportanzug. Das Rad hielt übrigens noch lange über mein erstes wirkliches Radsportereignis, die Bodenseerundfahrt 1981 über 200 km, hinaus, wurde also über 25 Jahre von mir gehegt und gepflegt. Mitte der neunziger Jahre wurde es vom Fahrrad-Abstellplatz meiner Schule gestohlen.

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