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Kathmandu, 1. Tag

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Kathmandu! Für Leute wie mich, die sich noch gut an die Bahnhöfe und Autobahnraststätten der DDR erinnern, ist dieser Flughafen in seiner Ausstattung mit denselben vergleichbar, in der Größe vielleicht mit Friedrichshafen. Und das bei knapp 1 Million Einwohnern! Traktoren statt Rollbahn-Zugmaschinen, Wellblechtunnels statt Beton, Stahl und Glas, stinkende Pissoirs statt großzügig geplanter und pieksauberer Toiletten-„landschaften" und immer wieder geschäftig wirkende Gurungs, Tamangs, Sunwars usw., die schon morgens um sieben mit dreckigen Lappen und noch dreckigerem Wischwasser auf den gesprungenen Großformat-Fliesen der Eingangshalle einen gräulich-weißen Dreckfilm erzeugen.

Namaste! (6)

Die Abfertigung ist trotz der allgegenwärtigen Polizeipräsenz schnell passiert, und wir Sechs „quellen" aus dem Flughafengebäude auf den Parkplatz „Arrival", wo wir sogleich von unzähligen Kleinbus-Chauffeuren umringt werden. Ich bin der Größte, Älteste und Weißhaarigste der Sechs und werde entsprechend umworben. Schnell stellt sich heraus, dass einer der Chauffeure tatsächlich im Auftrag von BAT handelt, aber er tut dies nicht umsonst. Er verlangt keck zehn Dollar für seine Dienste - ich gebe ihm widerstrebend 5 Euro. Und befinde mich in einem Zwiespalt: Angeblich sollten sämtliche Transfers inklusive sein, andererseits sind die Männer hier ohne Zweifel arme Mini-Jobber. Jedoch 10 Dollar? Der durchschnittliche Wochenlohn eines Nepalesen rangiert auf Platz 94 knapp hinter Bangladesch und weit hinter Indien (von 97 erfassten Ländern - Quelle: Laenderdaten.Info) und liegt bei 10 €. Später lasse ich mir sagen, dass die 5 Euro, also 600 Rupien wohl ganz OK waren - uff! Ganz nebenbei bekommen wir alle eine Blumenkette aus gelben Blüten umgehängt - ein Zeichen der Begrüßung und der großen nepalesischen Gastfreundschaft.

Schild am Bus: Tourists only. Mit fällt auf, dass die Busse und Kleinbusse - meist japanisches Fabrikat - mit dem Schild „Tourists only" neueren Baujahrs und außen stets pieksauber geputzt sind. Die morgendliche Fahrt mit Linksverkehr durch's gerade erwachende Kathmandu, durch versiffte und vom Monsun veralgte Hochhaussiedlungen, über Schlaglöcher voller Pfützen und durch lehmigen Morast, vorbei an zum Trocknen aufgehängter und irgendwie dreckig erscheinender Wäsche, vorbei an stoischen, schwarzen Rindviechern und räudigen, kläffenden und bestimmt bissbereiten Hunden versetzt mir einen Kulturschock. Zumal das morgendliche Kathmandu nicht wie kaum vier Wochen später im Sonnenschein und trocken - gleichsam wie aus „1001 Nacht" - strahlt und eher lieblich wirkt, sondern durch den Regen etwas Bedrückendes und Beklemmendes in sich hat.

Im Touristen-Stadtteil Thamel angekommen, verwandelt sich die Schlagloch-übersäte As-phaltstraße in eine sehr holprige Kiesstraße mit viel zu wenigen Gullies, die zusammen das viele Regenwasser gar nicht auf-nehmen können und daher überquellen. Die Läden rechts und links sind noch geschlossen -man könnte sie sowieso nur schwerlich erreichen, da die Seenlandschaft auch tückische Löcher hat, in denen man gelegentlich bis zum Knie versinken kann. Später erfahre ich, dass nur ein Teil von Kathmandu an eine funktionierende Kanalisation angeschlossen ist und dass die Stromversorgung von langen Netzausfällen gekennzeichnet ist. Was für Aussichten!

Überhaupt ist die Stromversorgung schon optisch eine Katastrophe: Längs der schmalen Straßen sind in einem dichten Knäuel Dutzende von finger-dicken, schwarzen Stromkabeln gespannt, die mal von armseligen Holzmasten, mal von Auslegern an einer Hausfassade gestützt werden. Alle paar Meter, besonders an Kreuzungen und Straßengabelungen, verlaufen diese Knäuel dann quer über die Straße und bilden eine Art Baldachin. Alle paar Meter verschwindet eines der Kabel in einem gebohrten Mauerloch oder in einem Fenster, wobei ich nicht behaupte, dass ALLE Stromanschlüsse auf diese Art und Weise hergestellt wurden.

Nach insgesamt etwa einer halben Stunde Fahrzeit kommen wir beim „Kathmandu Thamel Marshyangdi Hotel" an, ein krasser Gegensatz zu den meisten anderen Gebäuden. Von übermannshohen Zäunen umgeben, gepflasterter, pieksauberer Innenhof, ansprechende Fassade, saubere japanische Fahrzeuge neueren Baujahrs auf den Parkplätzen, Securities am Tor und im Eingangsportal. Der Transporter kommt auch gleich, wir laden die Bikes und Taschen ab, bringen die Bike-Kartons in den unteren Flur und alle Taschen in das eine Zimmer, das schon fertig ist. Da bereits um 11 Uhr ein Treffen mit dem örtlichen Agenten geplant ist, machen wir uns auf eine kurze Stadtbesichtigung auf. Doch zunächst brauchen wir Devisen!


Gleich am Tor wartet ein Devisenverkäufer, verfolgt uns beinahe, will uns nepalesische Rupien zum sagenhaften Wechselkurs tauschen. Wir trauen ihm nicht richtig, und Martin versucht's vier Meter weiter auf der anderen Straßenseite in einer offiziellen Wechselstube: Für einen Euro gibt's 124 komma irgendwas Rupien - das scheint nicht schlecht zu sein. Nach einer halben Stunde haben die meisten von uns getauscht und bereits Bekanntschaft mit mehreren Bettlern und fliegenden Händlern gemacht. Sie alle haben die Gabe, uns nicht nur als Europäer zu erkennen - das ist unter lauter „brown people" auch nicht so schwer -, sondern uns sogar als Deutsche bzw. deutschsprachig zu identifizieren. Ohne dass wir gerade ein Wort gesprochen hätten! „Hallo Mister, wollen Sie kaufen?" fragt der eine, und „Hallo Mister, wollen Sie Musik machen?" der andere und offeriert uns nepalesische Flöten und CDs mit Flötenmusik. Letzterer sollte uns noch bis zur Rückkehr nach Zürich verfolgen.


Wir wagen uns einige hundert Meter ins mittlerweile wogende Leben von Thamel, die nicht asphaltierte Hauptstraße „Chaksibari Marg" trocknet langsam ab, und mit der Öffnung der Geschäfte links und rechts offenbart sich uns der orientalische Reiz Thamels. Ungezählte Rikschafahrer rumpeln mit oder ohne Fahrgast, oft mit Gemüse, Obst oder anderem Gepäck überladen, zwischen den Schlaglöchern hindurch, und Taxifahrer in abenteuerlich anmutenden Kleinwagen kurven viel zu schnell um Rikschas, Passanten, Obstverkäufer und Pfützen herum.

Wir kehren ins Hotel zurück, wo uns der Agent von BAT erwartet. Er nimmt unsere mittlerweile eingesammelten Reisepässe in Empfang, die er beim Tourismusamt des „Autonomen Gebiets Tibet" vorlegen muss, damit wir ein Sammelvisum (Tibet-Permit) bekommen.

„There are no single visa - and you can get collective visa only here in Kathmandu."

Dann meldet er, wie viele und welche Guides für unsere Tour eingesetzt werden und dass bei Barhabise im nepalesischen Sunkoshi-Tal erst im August ein verheerender Erdrutsch abgegangen sei, der die Straße komplett versperrt habe und die Organisation vor schwierige Aufgaben stellte. Aber lösbare.

Dann vertröstet er uns auf 18 Uhr am Abend, wo weitere Informationen folgen würden.

Wir gehen erst mal essen, eine Art Biergarten unweit der „Chaksibari Marg". Da wir uns in den ganzen vier Wochen an die eiserne Regel „peel it, boil it, cook it or forget it" halten, essen wir alle gut und haben keinerlei Verdauungsprobleme. Und wir trinken unser erstes und vorerst letztes „Mt. Everest"-Bier, denn Alkohol ist - so warnt Claude - einer vernünftigen Akklimatisation abträglich.

Meine Armbanduhr spinnt! Seit dem Flug nach Kathmandu ist urplötzlich die Knopfzelle leer, und ich frage mich, ob hier der passende Ersatz erhältlich ist. Da wir auf der Herfahrt per Bus schon einen Elektronikhändler ausgemacht haben, begleitet mich Martin dorthin. Der erahnt das Geschäft seines Lebens, präsentiert mir gleich fachmännisch die passende Knopfzelle, nennt einen lächerlich niedrigen Preis und öffnet die Uhr. Mit einem Messer! Als er die Knopfzelle ersetzt hat, will einfach der Deckel nicht mehr auf die Uhr. Er dreht, findet die richtigen Nuten und drückt trotzdem erfolglos, verwendet den Schraubstock (!)- nichts. Er vertröstet mich auf den nächsten Tag - bis dahin will er das Problem gelöst haben.

Zurück im Hotel, können wir einchecken. Ich teile mir mit Claude ein Doppelzimmer im 4. Stock, ich schlafe erst mal 1 1/2 Stunden und gehe danach allein auf Stadtrundgang. Natürlich begegne ich dem Flötenverkäufer ....

Thamel: Vollbepackte Rikscha-Fahrer zwängen sich durch die Menge.

Logistik-Angestellte transportieren riesige, etwa zwei Meter hohe und einen Meter breite Packen fest zusammengeschnürter gleichartiger Kartons auf dem Gepäckträger klappriger Fahrräder. Kleinwagen-Taxis fahren hupend dazwischen. In kleinen, überquellenden Läden bieten Händler ihre Waren an: Haushaltsgegenstände, Outdoor-Ausrüstung, Kleidung, Souvenirs, Kalender, Obst und Gewürze, bunte Armbänder, Kerzen, Räucherstäbchen und vieles mehr. In den engen Gassen dieses lebendigen Viertels gibt es Buchläden mit einem umfangreichen Angebot - teils in Englisch - und viele, teilweise sehr gute Restaurants, in denen Bergsteiger und Trekker aus aller Welt ihre Erlebnisse austauschen.

Ich begegne Martin und schließlich nach und nach wie zufällig dem Rest der Gruppe, und wir machen uns unter Claudes Führung auf zum Radladen „Dawn Till Dusk", zum Radhändler Sonam Gurung in der Thamel Mall, den er „dringend" besuchen muss.

Gurung hat seine Werkstatt mit Laden in einer kleinen Nebengasse, und er begrüßt Claude wie einen alten Bekannten mit „Hey, Yakman, it's a long time ago that I've met you here. Everything all right with you?", was sofort in ein intensives Gespräch über Alltägliches und Vergangenes und vor allem über die politische und wirtschaftliche Situation Nepals mündet. Gurungs Laden ist eine Fundgrube für alle, die auf „Vintage" stehen: Von der 8-fach LX bis zur gerade erst von Shimano präsentierten elektronischen XTR Di2-Schaltung, vom eisernen Fahrradpedal mit Kurbelkeil bis zu Carbon-Vierkantkurbeln mit BSA-Innenlagern, von Messerspeichen für Aero-Felgen bis zu Gewindestangen, die als Speichen für Rikscha-Laufräder umfunktioniert wurden, findet man fast alles hier. Wir sechs drängen uns in der schummrigen Werkstatt hinter dem klitzekleinen Verkaufsraum, während Claude und Gurung weiter politisieren. Irgendwann kommt Gurung auch auf seine eigenen sportlichen Erfolge zu sprechen. Er führt uns nach draußen, wo man zwei von innen an sein Schaufenster geklebte Poster lesen und bewundern kann: Das eine ist ein Werbeplakat für das 5-Etappen-Bike-Rennen über 240 km, das „Annapurna Challenge MTB Race '14", das erst im Mai stattgefunden hat. „The 'Thorong La was very hard", kommentiert Gurung nicht ohne Stolz, denn er hat an dem Rennen teilgenommen und ist offensichtlich eine rich-tig gute Zeit gefahren. Der Thorong La ist immerhin 5.416 m hoch ....


Das andere ist ein Aufruf für ein Kilo-metersponsoring, mit dem „die Radlergemeinschaft zusammenfindet", um eine bessere Ausstattung in einerEntbindungsstation in Pyutar/ Lalitpur zu finanzieren. Es trägt den Titel „Kathmandukora Cycling Challenge" und bezieht sich auf den 19. Juli. Wir bekommen alle eine Visitenkarte von ihm: Sonam Gurung, First Nepali Mountain Bikers. Gurung ist bescheiden und authentisch zugleich.


Wieder draußen, müssen wir die kleine Nebengasse gar nicht verlassen, um uns neuen Gelüsten zuzuwenden: Hier ist eine kleine Teeküche, in der es den obligatorischen Milchtee „Chiya" gibt. Meine Begleiter nippen an den kleinen Gläsern und genießen - ich kann mich auch in den nächsten vier Wochen nicht wirklich daran gewöhnen ....

„Yakman" ist übrigens in Nepal, Tibet und allen asiatischen Ländern, die Claude schon bereist hat, bekannt wie ein „bunter Hund": Er nennt nämlich sein Mountainbike „Yak": Stabil und genügsam, langsam und dafür große Anstrengungen gewohnt, für manche Menschen sogar lebenswichtig!

Wir müssen noch einkaufen! Hier in Thamel, wo es an jeder Ecke einen kleinen Laden für Trekker-und Bergsteigerbedarf gibt, decken wir uns noch mit notwendigen Dingen für unsere große Reise ein: Warme Daunenjacken für das abendliche Zusammensitzen im Zelt, gefütterte Outdoor-Multifunktionshosen, Thermo-Radjacken, Faserpelz-Innenschlafsäcke und tibetische Wollmützen. Die Preisunterschiede sind abenteuerlich: Kostet eine typisch tibetische gefütterte Wollmütze in einem Laden 100 Rupien (= 1,24 Euro), so ist dieselbe Mütze in einem anderen Laden erst für 500 Rupien zu haben. Wir müssen also zuerst genau wissen, was wir brauchen, dann die entsprechenden Läden dafür finden und deren Preise vergleichen, dann gezielt einkaufen. Feilschen lohnt sich in jedem Fall.

Wobei das Feilschen auch komplett danebengehen kann: In einem Laden für Bücher, Kalender und Reiseführer stoße ich auf einen gebrauchten deutschen Nepal-Reiseführer für ursprünglich 15,90 Euro. Ich frage die Dame an der Kasse, was er denn kosten soll, und sie antwortet „2.000 rupies" - das ist mehr als der empfohlene Verkaufspreis. Ich wundere mich und schlage ihr die Hälfte vor, was für ein gebrauchtes Buch immer noch ein stolzer Preis ist. Daraufhin wird sie unwillig und schickt mich aus dem Laden: „You should go now!"

Ich weiß nicht, ob ich mich mehr über meine eigene Unfähigkeit zum Feilschen oder über die Sturheit der Frau ärgern soll. Jedenfalls drehe ich eine kleine Runde am Platz, betrete den Laden abermals und kaufe den Reiseführer für 1.500 Rupien. Ich ärgere mich, dass ich ihn nicht schon in Deutschland gekauft habe.

Um 18 Uhr sind wir alle wieder im Hotel und erwarten in der Lobby eine weitere Einweisung durch Gurung, der wohl so eine Art „Chef" des nepalesischen Partners von BAT zu sein scheint. Er begrüßt „Yakman" wie einen alten Freund und heißt uns alle herzlich Willkommen. Er selbst würde uns nicht begleiten, wohl aber würde sein Sohn Tenzing der Guide auf dem MTB sein. Tenzing. Was für ein Name in Nepal! Tenzing Norgay und Edmund Hillary, die Erstbesteiger des Mt. Everest im Jahre 1953. Die beiden, nach denen z.B. der kleine Flughafen Lukla in der Nähe des südlichen Basislagers umbenannt wurde. Laut Gurung gäbe es nicht nur - wie schon mittags berichtet - Probleme wegen des Erdrutsches im Sunkoshi-Tal, sondern auch auf dem Pang La (La = Pass) kurz vor dem Mt. Everest-Basislager Nord, der gerade asphaltiert würde und daher gesperrt wäre. Daher müsse man hin und zurück zum Basislager dieselbe Route über den Nam La nehmen.

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