Читать книгу Weiße Wölfe am Salmon River - Lutz Hatop - Страница 12
Weiße Wasser
ОглавлениеDer Campingplatz war sehr komfortabel ausgestattet, mit hölzernen Podesten, Tischen und Sitzbänken. Sie waren die einzigen Gäste, entschlossen sich aber, die Zeit zu nutzen und noch am Nachmittag die Ausrüstung und Boote um die Fälle zu tragen. Der Weg selbst war hervorragend ausgebaut, bestehend aus eng aneinander gefügten Holzplanken. Dennoch galt es 140 Höhenmeter und 1,5km Weglänge zu meistern. Zweimal mussten sie gehen, bis schließlich alles Material unterhalb des Wasserfalls abgelegt werden konnte. Beim zweiten Weg wollten doch alle wenigstens einmal einen Blick auf die Fälle werfen.
Die Virginia Falls sind die höchsten Wasserfälle Kanadas und mit 96m doppelt so hoch wie die Niagarafälle. Direkt hinter dem Campingplatz war der Fluss noch ruhig. Die Wasserfallstrecke beginnt kurz darauf mit kleineren Stufen und Kaskaden, dann erst folgt der Wasserfall und stürzt über die Abbruchkante fast 100m in die Tiefe. Gewaltige Wassermassen verursachen ein Donnern, das aus großer Ferne hörbar ist.
Sie bogen von dem Plankenweg auf einen Pfad, der zwar eng, aber gut begehbar war. Ahmik ging voraus. Hartmut folgte als letzter. Folgte man seinen Blicken, schien ihn die Natur in keiner Weise zu interessieren. Sein Blick hatte nur ein Ziel: Shonessi. Sein Hass galt nur noch ihr, nicht Marc, der ihm Ella weggenommen hatte, denn sie nahm ihm jetzt auch seinen Freund, zerstörte ihren gemeinsamen Traum.
Der Wald hörte auf, vor Marc war eine kahle Felsnadel zu erkennen. Er nahm Shonessi an die Hand, gemeinsam betraten sie Felsnadel, Ahmik machte kurz Platz. Das Donnern der Wassermassen war so laut, dass man sich allenfalls schreiend verständigen konnte.
Was für ein Panorama: Weißes Wasser, Gischt, Nebelschwaden. In der Mitte des Falles ein riesiger turmhoher spitz zulaufender Felsenkoloss, der den Fall in zwei Hälften teilte. Die Sonne ließ das Wasser leuchten wie glitzernde Kristalle. Ein Regenbogen spannte sich über den Fluss.
„Schade, dass wir das nicht unbeschwert genießen können.“
Marc war anderer Ansicht, „doch, genieße es. Nimm es auf und halte es in deinen Gedanken fest.“
Marc ließ Shonessi los, ging zu Ahmik und drückte ihm seinen Fotoapparat in die Hand.
„Bitte Ahmik, mach ein Bild von Shonessi und mir, oder besser zwei.“
Auch Gerhard ließ sich noch fotografieren, einmal allein. Er wollte jedoch unbedingt ein Bild mit Marc und Shonessi. Beide Männer nahmen die zierliche Frau in die Mitte.
Marc und Shonessi kletterten noch ein Stück den Hang hoch und setzen sich, um still den Wasserfall jetzt in diesem Augenblick genießen zu können. Shonessi blickte verträumt auf die weiße Wucht. Marc schaute zur Seite, der Wasserfall wurde uninteressant, ihr Profil zog ihn in seinen Bann. Was für eine Schönheit sie doch war: Wie Seide schimmerten ihre fast schwarzen Haare im Sonnenlicht, ihre hohe Stirn, die ebenmäßige gerade Nase und die etwas volleren Lippen ihres Mundes zogen seinen Blick magisch an.
Sie lachte und drehte ihren Kopf zu ihm hin, „wolltest du nicht den Wasserfall anschauen?“
„Wollte ich auch. Aber als ich das Panorama rundum in Augenschein genommen habe, bist du mir ins Bild gekommen. … Da musste ich einfach hängenbleiben. Ich komme an dir nicht vorbei. Geht nicht!“
„Schön hast du das gesagt. Davon kann ich nicht genug bekommen.“ Sie lachte.
Ahmik war plötzlich neben ihnen.
„Ich will euch nur ungern unterbrechen. Aber wir sollten dringend weiter. Spätestens Morgen wird das Flugzeug wieder kommen.“
Widerwillig machten sie sich auf den Weg zu den Booten.
„Jetzt folgt der vierte Canyon, der sogenannte 'Painted Canyon', ist nur acht Kilometer lang. Den sollten wir in jedem Fall heute noch meistern.“
Marc hatte wieder das Kommando übernommen. Sie bestiegen ihre Boote, das Wasser war jetzt nicht mehr braun, sondern hatte eine graue Farbe. Der Wasserstand war bereits spürbar gesunken. An den Ufern wurden langsam die Kiesbänke wieder sichtbar. Flott ging es flussabwärts. Viele kleine Stromschnellen brachten nicht nur Abwechslung, sondern einen Hochgenuss. Marc ließ Shonessi viel üben. Sie war fleißig und stellte sich geschickt an. Er konnte fühlen, dass es ihr immer mehr Spaß machte. Schon nach einer halben Stunde hatten sie den Canyon passiert. Gerhard hatte einen schönen Übernachtungsplatz neben einem kleinen Bach entdeckt. So hatten sie klares Wasser, dieses Mal sogar einen moosbewachsenen Untergrund, sehr gut geeignet als Boden für die Zelte.
Jeder ging seinen Aufgaben nach. Ahmik wollte was Besonderes fangen und kletterte den Bachlauf hinauf. Gerhard inspizierte die Lebensmittel und kam breit grinsend zu dem Schluss, dass diese ausreichend seien und noch über eine Woche halten würden. Hartmut sammelte Holz, musste dafür weite Wege gehen, Marc half ihm dabei. Doch heute kam Ahmik mit leeren Händen zurück. Hartmut weigerte sich zu kochen, hielt sich von allen abseits.
Nach dem Essen. Ahmik saß am Ufer, warf Steine ins Wasser. Marc ging langsam auf ihn zu und blieb seitlich von ihm stehen.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Mit einer Handbewegung forderte er Marc auf, sich hinzusetzen. Schweigend saßen sie einige Minuten nebeneinander, bis Ahmik die Initiative ergriff.
„Wenn du etwas von mir willst, dann sag es.“
„Ahmik, ich liebe deine Schwester. Ich will dich nicht zum Feind haben.“
„Shonessi liebt dich auch, ich will dir nur eins sagen: sie ist sehr spontan und sehr flatterhaft. Hat sich bis jetzt noch nie an jemanden binden können. Ich kann dich noch nicht akzeptieren.“ Er lächelte Marc zum ersten Mal an. „Du machst dich aber ganz gut. Shonessi hat mir erzählt, wie du deine Verfolger auf dem Highway ausgetrickst hast, das war sehr gut. Mein Respekt.“
„Ich hatte auch Glück.“
„Mag sein. Das gehört mit dazu, noch mehr aber ein klarer Kopf und Cleverness. Und hier auf dem Fluss scheinst du ja ein Ass zu sein.“
„Ahmik, ich habe Angst um Shonessi. Schau mal, mit was für einem Einsatz die uns suchen. Nur verstehe ich nicht, warum Shonessi und nicht dich?“
„Das ist einfach, ich habe mich an dem Widerstand bisher nicht beteiligt.“
„Wie, ich verstehe nicht.“
„Kannst du auch nicht. Dann pass mal auf.“
Er erzählte von dem Widerstand seines Vaters gegen den Glenconan Konzern, von dem Kahlschlag der riesigen Wälder in der Nähe von Yellowknife und dem Widerstand der Bewohner. Shonessi hatte sich ohne Wenn und Aber der Bewegung angeschlossen und war trotz ihres jugendlichen Alters zu einer wichtigen Leitperson geworden. Er, Ahmik, hatte sich aus allem bisher herausgehalten.
„Das ist meine Geschichte, ich bin kein Held und will auch keiner sein. Die sterben nämlich immer alle viel zu früh.“
„Ahmik, das ist für mich in Ordnung, jeder muss für sich selbst entscheiden …,vielleicht könnten wir ja doch Freunde werden. Lass es uns wenigstens versuchen.“
„Okay, einen Versuch ist es wert.“
Shonessi hatte sich abseits auf eine kleine Halbinsel gesetzt. Sie wollte nachdenken. Sie dachte an Marc, den sie nur Lakota nannte.
Liebe ich ihn wirklich? Oder ist es mal wieder eine Anfangseuphorie wie bisher immer?
Sie legte sich flach auf den Kies und kaute dabei an einem kleinen Zweig.
Hartmut schob die Zweige leise auf die Seite. Direkt vor ihm, auf dem Rücken lag sie, sein Alptraum. Prüfend schaute er den Fluss hinauf. Ahmik und Marc waren weit weg und Gerhard schlief bereits. Auf diese Gelegenheit hatte er lange gewartet. Mit einem Mal sprang er aus der Deckung des Unterholzes, packte Shonessi von hinten an den Haaren und betäubte sie mit einem gezielten Schlag auf den Kopf. Er griff ihr unter die Achseln und zog sie ins Unterholz, riss ihr das T-Shirt vom Leib und versuchte ihr die Jeans auszuziehen.
Shonessi erwachte, sah Hartmut über sich und wollte schreien. Der hielt ihr den Mund zu und versuchte seinen Stock zu greifen, mit dem er schon einmal zugeschlagen hatte. Shonessi biss ihm in die Hand, er schrie auf, richtete sich gleichzeitig auf.
„Ich bring dich um, du verdammte Schlampe.“
„Hast du das gehört, war das nicht ein Schrei?“
Beide lauschten, nichts geschah.
„Gott sei Dank war es keine Frauenstimme.“
„Wahrscheinlich nur ein Kauz.“
Marc setzte sich wieder hin
Doch die Hand war weg vom Mund und so schrie sie aus Leibeskräften.
„Hilfe, Hiilfee, Lakota, hilf mir!“
In diesem Augenblick drückte Hartmut ihr auf den Mund und begann sie mit der anderen Hand zu würgen.
Marc schnellte hoch, rannte ohne auf Ahmik zu achten, sofort in Richtung des Hilferufes.
Das kann nur einer sein, Hartmut. Wehe, du hast ihr etwas angetan. Ich bring ihn um.
Er blieb stehen um zu lauschen, hörte links neben sich das Knacken von Ästen und das Rascheln von Laub. Sprang mit einem Satz ins Unterholz, erkannte Hartmut, umklammerte ihn ohne Vorwarnung am Hals und drückte zu. Hartmut strampelte, versuchte sich zu befreien. Marc zog ihn aus dem Unterholz auf den Strand und warf ihn in einer Drehung auf den Boden.
Shonessi hielt sich den Arm vor die nackte Brust, ihr Gesicht war zerkratzt. Auch Ahmik war inzwischen eingetroffen und versetzte Hartmut einen heftigen Faustschlag ins Gesicht. Schließlich kam noch Gerhard mit hinzu.
„Lakota, kümmere dich um Shonessi“, Ahmik nannte ihn tatsächlich Lakota! Welche Ehre. Marc umfasste Shonessi und trug sie zum Zelt.
„Bring mich doch um, los töte mich, du roter Hund.“ Hartmut war wie von Sinnen, „hast dich jetzt auch mit denen verbrüdert, … Geerrry. Du bist auch nicht besser. Seid froh, dass ich keine Waffe habe. Ich würde euch alle erschießen.“
„Was machen wir mit ihm?“
„An einen Baum binden, dann hat er ein bisschen Zeit zum Nachdenken. … Und wir können ruhig schlafen. Wir entscheiden Morgen, was wir machen.“ So taten sie es.
Am nächsten Morgen holten Sie Hartmut zum Frühstück, ließen ihn aber an den Händen gefesselt. Shonessi ging ohne eine Gefühlsregung zu ihm und verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige, wollte anschließend nochmals zuschlagen. Doch Marc hinderte sie daran.
„Warum schützt du ihn, er wollte mich vergewaltigen und anschließend wahrscheinlich töten. Ich habe das Recht …“
Marc erschrak über ihren Ausbruch, schob es auf den Schock. Er packte sie an den Schultern, schüttelte sie und nahm sie sofort in den Arm, hielt sie fest. Sie entkrampfte, fing hemmungslos an zu weinen. Er versuchte sie zu trösten, streichelte ihr Haar.
„Lass mich nie mehr allein, hörst du? Nie mehr!“ Leise waren die Worte. „Das verspreche ich dir, ich schwöre es im Beisein meines Freundes Gerry und deines Bruders Ahmik.“
Noch immer hielt er sie im Arm. Gerhard konnte es noch immer nicht fassen, dass Hartmut zu einer solchen Tat fähig war, deshalb kam auch der entscheidende Vorschlag von ihm.
„Wir fahren ohne ihn weiter. Er bekommt das Kanu, mein Zelt, Lebensmittel und ein Paddel. Mit dem Kanu ist er wesentlich langsamer als wir. Der Aerius ist für drei bis vier Personen ausgelegt, den übernehme ich oder Lakota“, er machte eine kurze Pause und lächelte dabei. Auch er nannte Marc 'Lakota', fuhr fort, „mit den Faltbooten sind wir mindestens zwei Tage früher am Ziel. Dann melden wir den Vorfall der Polizei.“
Sie banden Hartmut so an einem Baum fest, dass er sich allein befreien konnte. So hatte er keine Chance, mit ihnen gemeinsam los zu fahren.