Читать книгу Weiße Wölfe am Salmon River - Lutz Hatop - Страница 14
Wehrlos
ОглавлениеFrüh am Morgen waren sie auf dem Wasser, Shonessi paddelte heute von Beginn an. Sie passierten gerade ein kurzes Zwischenstück, bevor sie den 15 Kilomter langen zweiten Canyon erreichten. Alle hörten es gleichzeitig, Motorengeräusch.
„Shonessi, zieh an. Wir müssen sofort an Land.“
Auch Gerhard lenkte sein Boot auf das rechte Ufer zu. Zu spät, sie waren zu langsam. Im Tiefflug ging der Hubschrauber über sie hinweg, wendete. Die ersten Schüsse fielen, Gerhard wurde getroffen. Er sackte in sich zusammen und kippte samt Boot um. Marc reagierte blitzschnell, drehte das Kajak, so dass alle ins Wasser fielen. Die nächsten Salven verfehlten ihr Ziel. Nur hatte Marc keinen Überblick mehr, wo sich Shonessi und Ahmik befanden. Salven aus den Maschinenpistolen, er musste immer wieder tauchen. Das Faltboot war inzwischen durchlöchert wie ein Sieb. Marc kämpfte sich Richtung Ufer durch, ging unter einem überhängenden Busch in Deckung. Der Hubschrauber flog noch einige Runden, drehte dann ab und verschwand flussaufwärts.
Marc krabbelte an Land. Er war allein, so sehr er sich auch bemühte, er konnte niemanden sehen. Plötzlich entdeckte er im Wasser etwas, das wie ein schwimmender Körper aussah. Mit einem Hechtsprung war er im Fluss, konnte die Überreste seines T65 greifen und hatte Gerhard gepackt, schleppte beides mühselig an Land. Zelt, Schlafsack und Kleidersack hatten das Kajak schwimmfähig gehalten, trotz der zahlreichen Löcher.
Gerhard hatte einen Schulterdurchschuss, aber er lebte. Er versorgte ihn, so gut er konnte, legte ihm einen Verband aus der Bordapotheke an, auch sie war trocken geblieben. Danach lief er am Ufer flussaufwärts, wieder und wieder nach Shonessi rufend. Nichts, keine Antwort, kein Laut. Entmutigt setzte er sich auf einen kleinen Felsklotz, stützte seinen Kopf.
Was mach ich bloß falsch. Habe ich schon wieder meine Liebe verloren?
Obwohl nicht besonders gläubig schickte er in seiner Not ein Gebet gen Himmel.
Herr, hilf mir. Gib sie mir zurück.
Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Minutenlang saß er regungslos auf dem Felsen. Da hörte er es, ein leises „Lakota“, sein Herz machte einen Freudensprung.
Sie lebt!
Nochmals lauschte er, um die Richtung zu bestimmen, dann rannte er los, weiter flussabwärts, immer wieder ihren Namen rufend.
Mit aller Kraft versuchte sie, das große Kajak an Land zu ziehen. Sie rief auch nicht mehr seinen Namen, hatte aufgegeben. Endlich konnte er sie sehen.
„Shonessi, ich komme. Shonessi!“
Ihr Kopf fuhr herum.
„Lakota, oh Lakota. Du lebst!“
Sie lagen sich in den Armen. Er hielt sie fest, drückte sie an sich, flüsterte ihr zu.
„Ich hatte schon jegliche Hoffnung verloren, es tat so weh. Ich liebe dich.“ Er blickte zum Himmel und sagte: „Danke. Danke für die Rettung.“
„Du bedankst dich?“
Er nickte: „Ja, ich habe Gott um Hilfe angerufen und da er mich wohl erhört hat, habe ich mich bedankt.“
Shonessi schaute ihn lange an, sagte kein Wort. Zur Antwort erhielt er einen langen Kuss. Sie sprach leise, kaum hörbar.
„Auch ich habe um Hilfe gerufen. Die weiße Wölfin und der weiße Wolf! Ich will mit dir leben, dich lieben und Kinder haben.“ Sie lachte wieder. „Uns kann keiner trennen.“
Marc umarmte sie wiederholt, entdeckte beim Blick über ihre Schulter die Reste des Aerius.
„Du hast den Aerius gerettet, dann sind wir gerettet.“
„Wie denn, die Boote sind doch hinüber.“
„Das schon, wir werden den Aerius reparieren, ich habe den T65 geborgen. Das geht, du wirst sehen. Wir flicken den Aerius zusammen … Was ist mit Ahmik? Wo ist er?“
„Ich habe keine Ahnung, ich hab ihn, seitdem ich ins Wasser gefallen bin, nicht mehr gesehen.“
„Gerry ist schwer verletzt, er lebt. Wir brauchen den Aerius, um ihn nach Fort Liard zu bringen.“
Sie trugen den Aerius samt Gepäck zum Standort von Gerhard. Der war inzwischen zu sich gekommen. Shonessi versorgte, so gut es ging die Wunde.
Mit Messern zerschnitten sie die Haut des T65 in feine Streifen und klebten diese über die durchlöcherten Bereiche des Aerius. Der vorhandene Klebstoff wurde vollständig aufgebraucht. Passieren durfte jetzt nichts mehr. Weder ein zweiter Angriff noch eine Beschädigung bei der Fahrt.
Das Boot war wieder einsatzbereit. Sie trennten sich von überschüssigem Gepäck, behielten nur noch das große Zelt. Der Aerius schluckte alles. Gerhard legten sie vorsichtig in das Boot. Jetzt hieß es: überleben.
Marc beschäftigte nur noch ein Gedanke:
Hoffentlich suchen sie nicht mehr nach uns. Sollte noch einmal jemand auf uns schießen …
Er wagte nicht zu Ende zu denken. Gerhard musste husten, sein Gesundheitszustand hatte sich verschlechtert. Sie mussten sich beeilen, eine Übernachtung sollte ausreichend sein.
Shonessi war inzwischen sehr sicher geworden, der Aerius selbst lief auch nach der Flickerei hervorragend. Die Persenning selbst war nicht beschädigt, ebenso wenig das Gestell aus Holz.
Shonessi war schweigsam, sprach kein Wort.
„Shonessi, es ist nicht gesagt, dass dein Bruder tot ist. Vielleicht konnte er sich an Land retten.“
Sie drehte sich zu Marc um, ein Lächeln umspielte ihren Mund.
„Vielleicht hast du Recht. Er ist ein hervorragender Schwimmer …“
„Dort, wo wir gekentert sind, gab es keine Stromschnellen oder Strudel.“
Marc machte sich mit dieser Aussage selbst Mut. Am Ende des zweiten Canyons folgte eine weitere Engstelle. Als sie sich näherten, stockte Marc der Atem und Shonessi hörte auf zu paddeln. Auf der linken Seite ragte eine senkrechte Felswand in den Himmel, noch höher als bei der letzten Engstelle. Der Fluss schien einfach aufzuhören. Eine dunkle Mauer versperrte den Weg.
„Lakota, wo geht es weiter? Ich kann nichts erkennen.“
„Ein Fluss verschwindet nicht einfach, du wirst sehen, das löst sich alles auf.“ Seine Stimme hatte eine andere Klangfarbe, die Shonessi wohl bemerkte, jedoch gab sie keinen Ton mehr von sich. Marc konzentrierte sich voll auf den Fluss, als plötzlich wieder Motorengeräusch hörbar wurde. Ein Hubschrauber näherte sich und flog tief über sie hinweg, verschwand in einer Rechtskurve und kam nach einigen Minuten wieder zurück. Sehr tief flog er über das Kajak hinweg.
Shonessi war unsicher. „Ich habe Hartmut erkannt, er sitzt im Hubschrauber. … Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?“
„Ein schlechtes. Wie sollte Hartmut so schnell zu einem Hubschrauber kommen. Außer unseren Verfolgern werden wir von niemandem gesucht… Shonessi, wir müssen uns auf den Fluss konzentrieren. Wir fahren auf die rechte Seite zu der Geröllhalde.“
Marc erkannte die Kehrwasser. Sicher fuhren sie in eines hinein. Jetzt konnte er auch den schmalen Felsspalt sehen, durch den der gesamte Fluss musste.
„Schnell, wir fahren aus. In der Engstelle werden sie nicht angreifen…“
Der Rest des Satzes wurde durch lautes Motorengeräusch übertönt. Das Kajak bewegte sich schnell auf die Engstelle zu. Gerade mal zwanzig Meter war der Fluss hier noch breit. Kreiselnd und strudelnd quetschte sich das Wasser durch den Spalt. Die Maschine musste abdrehen, sie waren der Felswand zu nahe. Marc blickte dem Hubschrauber hinterher, der plötzlich in einen Sinkflug überging und am Hang in den borealen Wald krachte.
„Was ist passiert?“
Shonessi hatte nichts gesehen, nur den Aufschlag gehört.
„Der Hubschrauber ist … abgestürzt, einfach so. Ich versteh das nicht. Egal, konzentriere dich auf den Fluss.“
Einmal in dem engen Schlund mit seinen senkrechten Felswänden, ging alles ganz leicht. Das Wasser knuffte und puffte mit sich selbst herum, kreiste, wirbelte nach links und nach rechts, sabberte an der Haut des Kajaks, gluckste und zischte.
„Was für ein Wahnsinn. Lakota. Wir haben es geschafft und die im Hubschrauber sind wir auch los.“ Lachend fuhr sie herum, „du kannst dich auf heute Abend schon mal freuen.“
„Shonessi, freu dich nicht zu früh, wir haben noch eine Stromschnelle vor uns, George´s Riffle. Ich denke aber, das wird dir eher Spaß machen.“
Dann kam sie: George’s Riffle. Über die gesamte Breite des Flusses Wellen, weit über einem Meter hoch, manche vielleicht sogar zwei Meter. Marcs geübtem Blick sprang sie sofort ins Auge, die Durchfahrt mit einigen Wellen, die Shonessi jubeln ließen. Jetzt begann der letzte Canyon, der erste Canyon, mit seinen hunderte Meter hohen Steilwänden und dreißig Kilometern Länge der schönste. Hinter dem Canyon dann endlich, es war bereits später Abend ‚Kraus Hotsprings‘, ihr Übernachtungsplatz.
Sie legten das Boot auf die Kiesbank, bauten das Zelt auf und versorgten Gerhard. Seine Wunde sah nicht gut aus. Die Haut hatte sich dunkel eingefärbt.
„Wir fahren morgen in aller Frühe los, dann schaffen wir es vielleicht bis zum Abend zum 'Blackstone Territorial Park'. Dort treffen wir dann auch wieder Menschen an.“
„Und was machen wir heute?“, verschmitzt lachte sie ihn an.
„Baden!“
„Baden? Wo?“
„Hier sind 35 Grad heiße schwefelhaltige Quellen, das wird uns guttun.“
Shonessi war sofort begeistert. Beide lagen in den Quellen, Freude wollte sich nicht einstellen, auch ihre Küsse waren nicht so wie sonst.
„Vielleicht sollten wir Gerry hier reinholen. Geht das auch bei seiner Wunde?“
„Früher haben sie die Leute sogar mit schwefelhaltigem Wasser geheilt, also kann es nicht gar so schädlich sein. Wir müssen eben aufpassen. Los, wir holen ihn.“
Gerhard lag dösend im Zelt, seine Schmerzen wurden immer schlimmer.
„Na endlich. Holt ihr mich zu den Quellen? Das wird mir helfen. Es wird immer schlimmer, ich glaube fast, ich habe Wundbrand.“
Marc und Shonessi waren beide nackt, als sie Gerhard entkleideten.
„Shonessi, du bist wirklich wunderschön! Deine Figur ist traumhaft.“ Gerhard stellte das bewundernd und mit Respekt fest.
„Danke, Gerry. Ich hoffe, du verhältst dich jetzt nicht so wie Hartmut.“
„Nein, bestimmt nicht. Ich liebe meine Frau und ich vermisse sie unendlich. Hoffentlich sehe ich sie noch lebend wieder.“
Marc und Shonessi sahen sich nur schweigend an.
Stützend brachten sie Gerhard zum Pool und halfen ihm beim Einstieg.
„Oh Mann, ist das toll. Herrlich heißes Wasser.“
Schon tauchte er unter, hoffte dabei, dass das Wasser heilende Wirkungen zeigte. Seine Lebensgeister erwachten.
„Shonessi, du musst wissen, als wir vor einigen Monaten die Reise geplant haben, war ich von diesem Ort sofort begeistert. Ich habe meiner Frau davon vorgeschwärmt, wie schön es sein muss, unter freiem Himmel hier in der Wildnis zu sitzen. Und heute ist das eingetreten. Wahnsinn. Das ich heute mit einer Shonessi und einem Lakota im Pool sitze, hätte ich mir allerdings nicht träumen lassen.“
Nach dem Bad spürten alle eine wohlige Müdigkeit und legten sich schlafen. Shonessi hatte sich dicht an Marc gekuschelt. Er rückte ihre Haare zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr.
„Worauf sollte ich mich denn freuen?“
„Lakota, du bist ganz schön frech. Das geht doch nicht, hier.“
„Was geht nicht?“
Sie drehte sich zu ihm.
„Das weißt du doch ganz genau!“
„Nein, du hast heute Nachmittag so eine besondere Betonung gehabt. Ich habe es so verstanden, das mich heute Abend etwas nie dagewesenes erwartet.“
„So, meinst du? … Das ist allein deine Interpretation. Du musst Geduld haben. Warte, hier ist der Anfang…“
Sie blickten sich beide tief in die Augen, bevor sie ihn küsste.
Am nächsten Morgen wurde schnell gefrühstückt. Gerhard ging es wesentlich besser, auch sah seine Wunde gut aus. Das Wasser hatte wohl doch geholfen.
Sie hatten einen sehr langen Tag vor sich, normalerweise brauchte man zwei Tage bis zum 'Blackstone Territorial Park', sie wollten das Ziel an einem Tag erreichen. Hier im Unterlauf, der Stromzug war nur noch mäßig, war der Fluss in zahllose Arme aufgeteilt. Sicher nahmen sie die Hauptströmung. Das Driftholz von dem erst vor wenigen Tagen noch vorhandenem Hochwasser war teilweise turmhoch auf den Kiesstränden aufgeschichtet. Diese Kiesbänke waren blendendweiß und leuchteten in der Sonne. Zum ersten Mal sahen sie auch Tiere. Ein Schwarzbär begleitete sie im Laufschritt am Ufer, sie sahen Karibus und einen Otter, der direkt unter ihrem Boot wegtauchte.
Am späten Abend, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, erreichten sie ihr Ziel. Gerhard ging es schlecht. Er war inzwischen ohnmächtig geworden. Marc rannte zum Headquarter und verständigte die Ranger.