Читать книгу Zuckersüße Liebe - Lynda Lys - Страница 10
Оглавление5. Kapitel
Nicole fuhr mit dem Bus von List nach Westerland, denn ihr kleines Auto war derzeit zur Inspektion in der Werkstatt und sie erhielt es erst am nächsten Tag zurück. Die Busfahrt machte ihr nicht im Geringsten etwas aus, denn diese Strecke fuhr sie des Öfteren mit dem Bus, besonders wenn sich viele Touristen auf Sylt befanden. Denn dann war es schwierig, in Westerland einen freien Parkplatz zu finden. Sie öffnete die Tür des kleinen japanischen Restaurants. Rosafarbene Perlmuttplättchen, die an dünnen Seidenschnüren von der Decke des Vorraums herabhingen, bewegten sich sanft im Windhauch, schlugen gegeneinander und empfingen sie mit einem zarten Läuten.
Nicole hörte die gedämpften Klänge exotischer, fernöstlicher Musik, roch die würzigen, fremdartigen Düfte, schloss die Augen und verharrte einige Sekunden reglos. Sie nahm diese Eindrücke tief in sich auf und hoffte, dass sie sie für kurze Zeit aus der Wirklichkeit entführten, aus allem, was ihr besonders an diesem Tag das Herz schwer werden ließ.
„Seien Sie willkommen.“ Eine Japanerin, bekleidet mit einem reich bestickten Kimono, war in dem Durchgang zum Gastraum erschienen und begrüßte Nicole mit einer tiefen Verbeugung. Dann zog sie einen Vorhang zur Seite, der beinahe die gesamte Wand verbarg. Dahinter wurde ein Regal sichtbar, in dem Schuhe standen. Natürlich! In einem guten japanischen Restaurant zieht man ja vor dem Essen die Schuhe aus, das hatte sie bei ihrem Besuch mit Thomas damals auch getan, erinnerte sich Nicole. Sie setzte sich auf einen Schemel, streifte ihre Pumps von den Füßen und stellte sie in das Regal.
Das Restaurant war gut besucht. Die Gäste saßen auf flachen Sitzkissen um niedrige Tischchen, unterhielten sich, lachten und aßen mit Holzstäbchen aus feinen Porzellanschälchen. Es war doch keine so gute Idee, allein hierher zu gehen, dachte Nicole. Die unbeschwerte Geselligkeit der Anwesenden tat ihr weh. Sie entdeckte nur einen einzigen Gast, der ebenfalls allein saß. Die Japanerin führte Nicole zu einer kleinen Nische, die von Stellwänden, die mit Seide bespannt waren, gebildet wurde. Während Nicole auf den Kellner wartete, betrachtete sie die mit feinen Pinselstrichen gemalten und in zarten Pastellfarben gehaltenen Bilder auf der kostbaren Seide der Trennwände.
Die Trennwände schirmten sie von den übrigen Gästen ab und machten sie noch einsamer. Obwohl sie sich dagegen sträubte und obwohl alles schon eineinhalb Jahre zurücklag, begannen wieder diese schrecklichen Bilder ihre Gedanken zu beherrschen. Sie sah das Scheinwerferlicht des entgegenkommenden Autos, das sich in den Schlieren auf der Windschutzscheibe brach; sie sah die hin und her huschenden Scheibenwischer, sah die weiße Wand des Nebels, das feuchte, glitschige Laub auf der Straße. Wieder und wieder spielten sich die Bilder vor ihrem inneren Auge ab, hörte die Bremsen quietschten, doch die Reifen fanden auf der nassen Fahrbahn keinen Halt, Glas splitterte ...
„Haben Sie schon gewählt?“ Der Kellner stand plötzlich neben ihr und wollte die Bestellung aufnehmen.
„Oh, entschuldigen Sie!“ Nein, sie hatte noch nicht gewählt, sie hatte nicht einmal einen Blick in die Speisekarte geworfen. Erst jetzt griff sie danach und schlug sie auf. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Sie tat so, als ob sie lesen würde, aber sie erkannte keins der Worte.
Der Kellner beugte sich zu ihr herunter.
„Gestatten Sie?“ Er nahm ihr die Karte aus der Hand, drehte sie um und gab sie ihr zurück. Sie hatte sie verkehrt herum gehalten und es nicht bemerkt.
„Oh, danke...“
Ganz plötzlich wusste Nicole, was sie tun musste. Sie war in dieses Restaurant gegangen, weil sie die Angst überwinden wollte, die Angst vor den Erinnerungen, die immer wieder zu den Ereignissen des Unfalls aufkommen mochten. Jetzt sah sie ein, dass das ein untauglicher Versuch war, mit dem Schmerz fertig zu werden.
Nicole sah ein, dass sie sich der Wirklichkeit stellen musste, dass das Leben weiterging, und es gab schließlich jemanden, der gerade jetzt ihre Kraft voll und ganz brauchte. Tim, ihr kleiner Sohn, der mit seinen sieben Jahren gerade am Anfang des Lebens stand, war mehr denn je auf sie angewiesen.
Nicole stand auf, gab dem Kellner die Speisekarte zurück, murmelte eine unbeholfene Entschuldigung und verließ den Gastraum. Sie zog den Vorhang vor dem Regal zurück und suchte ihre Schuhe.
Sie fand nur den linken.
Sie erinnerte sich noch genau, wo sie die Schuhe vor wenigen Minuten hingestellt hatte. Trotzdem suchte sie die darüber und darunterliegende Regalreihe ab, schlug den Vorhang ganz zurück, aber der andere Schuh blieb verschwunden.
Die Japanerin, die Nicole zu ihrem Tisch geführt hatte, erschien und half ihr suchen.
„Das verstehe ich nicht“, murmelte sie. „Ich führe dieses Restaurant seit vielen Jahren, aber so etwas ist noch nie passiert“ Sie stand verlegen und hilflos vor dem Regal mit den Schuhen der Gäste, und Nicole stand neben ihr mit dem einzelnen linken Schuh in der Hand.
„Na, wo drückt denn der Schuh?“ Ein Mann schob die Perlenschnüre, die den Durchgang zum Gastraum verdeckten, zur Seite. Er sah die betretenen Gesichter der beiden Frauen. Nicole erkannte in ihm den Mann, der ebenfalls allein an seinem Tisch gesessen hatte. Mit wenigen Worten erklärte sie ihr Dilemma und der Mann begann zu lachen.
Im ersten Augenblick fühlte Nicole sich gekränkt, weil sich der Mann über sie lustig machte, doch dann musste sie selber lachen, denn die Situation war auch wirklich komisch.
„Darf ich mir erlauben, Sie nach Haus zu fahren?“ bot er an. „Ich habe meinen Wagen direkt vor dem Restaurant geparkt ich denke, die paar Meter müssten Sie wohl schaffen können.“
„Unser Haus wird sich selbstverständlich bemühen, den Schaden wiedergutzumachen“, sagte die Japanerin. „Es ist mir unendlich peinlich...“
Nicole hörte kaum die Entschuldigungen der Frau. Sie sah nur den Mann an und vermeinte, Freundlichkeit und Wärme in seinen Augen zu lesen, die sie eigenartig berührten.
„Das wäre sehr nett“, antwortete sie leise und musste räuspern.
Der Mann bot ihr seinen Arm an. „Mein Name ist Berger“, sagte er. „Jonas Berger.“