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3.

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Die Fahrstuhltüren gleiten auf und ich trete in den Flur der fünfundvierzigsten Etage. Bereits seit vier Wochen gehe ich jeden Tag durch diesen Korridor in mein Büro. Sogar an den Wochenenden bin ich für ein paar Stunden hier, genau wie an diesem Sonntag.

Irgendwie kann ich von Glück sprechen, dass meine Vorgängerin so ein Durcheinander hinterlassen hat. Somit fehlt es mir keineswegs an Arbeit und kann so meinen einsamen Tagen etwas entfliehen. Und den Fragen meiner Mitbewohnerin gezielt ausweichen.

Seit gut drei Wochen teilt Mira nicht nur ihr Büro bei Meyer Enterprises mit mir, sondern auch ihre Wohnung. Sie ist ein wahrer Engel, wie auch Rose Morgan. Kaum habe ich hier begonnen zu arbeiten, boten mir beide ihre Hilfe an, was ich sehr zu schätzen weiss. Und obwohl ich ihnen sehr dankbar für ihre Unterstützungen bin, kann ich ihren Fragen, die aus berechtigten Sorgen herbeigeführt werden, keine Antworten liefern. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ein Teil von mir würde gerne über meine Schwierigkeiten sprechen, doch der andere ist noch viel zu weit davon entfernt.

Durchaus wissen sie, wann sie mich nicht weiter bedrängen dürfen, aber irgendwann bin ich ihnen einige Erklärungen schuldig, was mein eigenartiges Benehmen gegenüber anderen betrifft. Ich wünsche mir nur, dass sie mir dafür genug Zeit geben werden. Denn ich habe sie in dieser wenigen Wochen, in der ich in London lebe, schon ziemlich lieb gewonnen.

Es ist ruhig in den Räumen, die an mein Büro grenzen. Schliesslich ist heute Sonntag. Wer ausser mir sollte sonst noch anwesend sein? Niemand ist so verrückt und geht an seinen freien Tagen arbeiten. Das musste ich schon einige Male von Mira anhören. Was ja im Grunde genommen auch stimmt. Aber für mich ist es der einzige Weg vor meiner Bedrückung und den schrecklichen Erinnerungen zu fliehen, die mich immer noch täglich einholen.

Ich streife meinen Schal ab und ziehe meine Handschuhe aus, die mich vor der eisigen Kälte beschützen, die ausserhalb des Wolkenkratzers herrscht und lege alles über die Garderobe. Während ich mir den Mantel aufknöpfe, trete ich ans Fenster und blicke auf die Stadt hinunter. Ich betrachte die funkelnden Lichter der Weihnachtsbeleuchtungen, die fast an jedem Gebäude angebracht sind und die noch immer leuchten, weil der dichte Nebel die Dunkelheit nicht vertreiben lässt.

Nicht mal mehr einen Monat dann ist Weihnachten. Alle werden die Feiertage mit ihren Geliebten verbringen. Sie werden sich glücklich um einen Tisch versammeln und ein feines Essen geniessen, das die Mutter mit ihren Kindern zubereitet hat, während ich mich in diesem Raum aufhalten werde, weil ich zu grosse Angst habe, nach Hause zu meinem Dad zu gehen. Ich habe ihn nun schon seit über sechs Wochen nicht mehr gesehen. Das gab es in meinem ganzen Leben noch nie. Ich vermisse ihn. Auch wenn wir fast täglich miteinander sprechen, ist es nicht das Gleiche, wie wenn ich ihm in die Augen sehen könnte.

Deprimiert seufze ich auf und drehe mich um, um mich endlich an den Schreibtisch zu setzen und mich in die Arbeit zu stürzen. Gerade als ich einen Schritt nach vorne machen möchte, bleibe ich wie versteinert stehen und ein erschrockener Schrei dringt aus meiner Kehle, als ich den Mann entdecke, der im Türrahmen steht, der mich von oben bis unten mustert und dabei seine Stirn in tiefe Falten zieht.

„Was tun Sie hier?“ fragt er mich mit ernster Miene.

Plötzlich habe ich das Gefühl etwas Unrechtes zu tun, dass es verboten ist, am Wochenende hier zu sein. „Ich... ich wusste nicht, dass Sie hier sind, Mr. Meyer.“ antworte ich ihm kaum hörbar. „Ich dachte ich wäre alleine und könnte etwas von der Arbeit aufholen, die liegen geblieben ist. Aber wenn sie das nicht möchten, werde ich wieder gehen.“ Sofort knöpfe ich meinen Mantel wieder zu. Doch bevor der letzte Knopf geschlossen ist, legt mein Chef seine Hand auf meinen Arm, woraufhin ich unverzüglich einen Schritt von ihm abrücke. Schreckliche Bilder flammen vor meinem inneren Auge auf. Meine Hände beginnen zu Zittern und stecke sie rasch in meine Manteltaschen, damit er mein Beben nicht sehen kann.

„Miss Weber, alles in Ordnung?“

Ich kenne den Ausdruck in seinen Augen. Schon so viele haben mich mit Blicken der Verständnislosigkeit angesehen. Ich ertrage dieses Mienenspiel nicht mehr und starre deshalb zu Boden. „Ich... Ja... Alles Bestens.“ Was sollte schon sein? Was sollte ich ihm sagen? Dass ich Angst hatte, er würde mich in seine Arme reissen, mich küssen und überall berühren, um mir danach einen Fusstritt in den Magen zu verpassen?

„Tut mir leid, wenn ich Ihnen das nicht abnehme, Miss Weber. Denn Sie erwecken den Eindruck, als hätten Sie gerade einen Geist gesehen.“ Seine Stimme klingt sanft und irgendwie beruhigend, was mich veranlasst den Kopf zu heben.

Ich sehe direkt in seine braunen Augen, die mich eindringlich beobachten und die rein gar nichts mit den Augen gemein haben, die mich in jeder Nacht in meinen Albträumen verfolgen. „Es ist alles gut, wirklich Mr. Meyer.“ Wem versuche ich das einzureden? Ihm oder mir selbst?

„Bin ich Ihnen zu nahe getreten? Wenn das der Fall ist, möchte ich mich dafür entschuldigen. Das war nicht meine Absicht.“

„Nein. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“ Ich versuche an ihm vorbeizugehen, um den Schal und die Handschuhe von der Garderobe zu nehmen. Dabei mache ich einen grösseren Bogen um ihn, als wirklich nötig wäre. Doch zu meinem Erschrecken muss ich feststellen, dass der Abstand doch nicht genug ist. Denn schon wieder liegt seine Hand auf meinem Arm. Ich möchte mich von seinem stählernen Griff lösen, aber er gibt mich nicht frei. Beinahe gerate ich in Panik und Tränen drohen die Augen zu verlassen. Durch feuchte Augen sehe ich ihn an und bitte ihn leise mich loszulassen.

Augenblicklich lockert er seinen Griff, lässt mich aber nicht los. Von einer Sekunde auf die andere fühlen sich seine Finger nicht mehr wie Klauen an, die sich in meinen Arm bohren, sondern wie eine lautlose, tröstende Liebkosung. Mein Blick schweift von seinen Augen zu seiner Hand auf meinem Arm und wieder zurück. Lese ich etwa Mitgefühl in seinem Ausdruck?

Warum verspüre ich plötzlich das Bedürfnis von diesem Mann, den ich kaum kenne, beschützt zu werden?

Soeben noch wollte ich vor ihm fliehen, weil mich beinahe eine Panikattacke erfasste und nun wünsche ich mir nichts sehnlicher als von ihm gehalten zu werden, in seinen Armen zu liegen und meinen Kopf an seinen muskulösen Körper zu legen. Voller Hoffnung starre ich in seine wunderschönen Augen und male mir aus, wie es ist, von ihm umarmt zu werden, nur um im nächsten Moment bitter in die Realität zurückzukehren. Seine Finger streifen über meinen Handrücken und lassen mich schliesslich ganz los. Wo gerade noch seine Hand lag, fühlt es sich nun unbehaglich kalt und verlassen an. Unbegreiflich blicke ich ihn an.

Verlegen, wie mir scheint, fährt er durch seine kurzen, dunkelblonden Haare. „Ich werde Sie nicht länger belästigen und Sie Ihre Arbeit machen lassen. Aber tun Sie mir einen Gefallen, ja?“

Ich muss mich räuspern, um einen Ton herauszubekommen. „Welchen?“

„Machen Sie irgendwann Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Werde ich, Mr. Meyer.“ Ich warte ab, bis er den Raum verlassen hat und sinke erleichtert auf meinen Stuhl hinab.

Müde, aber nicht erschöpft, reibe ich über meine Augen. Ich habe gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Mehr als vier Stunden bin ich an meinem Platz gesessen und habe ein Dokument nach dem anderen bearbeitet ohne eine Pause zu machen. Nur ein einziges Mal bin ich den Flur entlanggegangen und habe mir etwas zu trinken aus dem Automaten geholt, um gleich wieder an meinen Computer zurückzukehren.

Bedauerlicherweise meldet sich jetzt mein Magen, den ich nicht ignorieren kann. Also entschliesse ich für heute die Arbeit zu beenden, um irgendwo in einem gemütlichen Café einen kleinen Sack einzunehmen.

Gerne hätte ich mich noch länger mit den Rechnungen beschäftigt, die unverarbeitet auf meinem Pult liegen, denn mein Job macht mir richtig viel Spass, auch wenn es ganz einfache Aufgaben sind. Sie erfüllen ihren Zweck, weil sich mich daran hindern, an meine Vergangenheit zu denken und das ist momentan das Wichtigste was zählt.

Nur ab und zu wurde meine Aufmerksamkeit auf die Zahlen unterbrochen. In jenen Augenblicken schweiften meine Gedanken stets zur gleichen Person. Die attraktiven braunen Augen, die sich in mein Inneres bohrten und die angenehme Wärme, die sich auf meinem Arm ausbreitete, als er mich für wenige Sekunden mit seiner Hand hielt, liessen meine Erinnerungen an jenen Moment nicht mehr los. Auch jetzt schleicht mein Chef im Kopf umher.

Ich getraue mich nicht die aufkommenden Gefühle zu ergründen, die in mir emporsteigen und meinen ganzen Körper fesseln, wenn meine Gedanken zu meinem überaus charmanten Boss wandern. Aber sie lassen mich wieder etwas fühlen. Etwas was ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr empfunden habe. Hoffnung. Hoffnung auf bessere Zeiten.

Während ich darauf warte, bis mein Computer heruntergefahren ist, hole ich meinen Mantel, lege ihn um und knöpfe ihn zu. Danach ziehe ich meinen Schal über den Kopf, wobei mein Blick für eine Sekunde in der Dunkelheit verschwindet. Als ich meine Augen wieder öffne, kann ich einen angsterfüllten Schrei nicht unterdrücken. „Wow, haben Sie mich erschreckt.“ und halte eine Hand auf mein bebendes Herz.

„Tut mir leid. Das stand nicht in meinem Interesse.“

„Schon gut. Ich bin eben etwas schreckhaft.“

„Das habe ich mittlerweile auch bemerkt. Vielleicht mögen Sie mir irgendwann den Grund dazu anvertrauen.“

Ich beisse auf meine Unterlippe, um nicht gleich meinen ganzen Ballast von der Seele zu reden, den ich schon seit Monaten mit mir herumtrage und der mich mit seinem Gewicht zu erdrücken droht. „Da gibt es nichts zu erzählen.“ gebe ich schliesslich von mir und nehme meine restlichen Sachen, um endlich aus diesem Raum zu kommen. Denn obwohl ich seine Anwesenheit auf irgend eine Weise geniesse, so habe ich doch Angst, dass er mir zu nahe treten könnte. Ich sehe nur einen Ausweg, um dem allem auszuweichen. Die Flucht. Weg von ihm, so schnell und weit wie möglich.

„Ich dachte ich sehe mal nach Ihnen. Allem Anschein nach haben Sie die gleichen Absichten, wie ich Ihnen vorschlagen wollte. Was halten Sie von einem gemeinsamen Essen?“

Mit offenem Mund starre ich ihn an. Als hätte ich ihn nicht richtig verstanden, frage ich ihn: „Wie bitte?“

„Wollen wir etwas essen gehen? Ich denke, Sie könnten genauso gut wie ich eine kleine Stärkung gebrauchen.“

„Halten Sie das für eine gute Idee?“

„Warum nicht?“

„Sie sind Schliesslich mein Boss.“

„Was sollte daran falsch sein, wenn zwei Mitarbeiter miteinander essen gehen?“ fragend sieht er mich an, aber bevor ich etwas darauf erwidern kann, spricht er weiter. „Waren Sie nie mit ihrem ehemaligen Vorgesetzten essen?“

Ich hatte stets ein hervorragendes Verhältnis zu Philipp, es wäre mir aber zu keinem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, mit ihm alleine in ein Restaurant zu gehen. Meine Augen sind fest auf den Mann vor mir gerichtet. „Nein, war ich nie.“

„Dann wird das heute Ihr erstes Mal sein.“ Eine geringe Andeutung eines Lächelns bildet sich um seine Mundwinkel und seine Iris leuchtet verdächtig hell auf. War das eine kleine Anspielung oder interpretiere ich zu viel in seine Bemerkung? Ein schwaches, aber intensives Kribbeln breitet sich in meiner Magengrube aus. Und weg sind meine guten Vorsätze von hier zu verschwinden, um mich in meiner Einsamkeit zu verkriechen. Obwohl mich meine innere Stimme warnt mit ihm zu gehen, siegt das Kribbeln in meinem Körper.

Was auch immer er mit seinem ersten Mal andeuten wollte, es ist nicht von Bedeutung. Denn es ist seine unbefangene Art, die mich fasziniert und die mich zu dieser Entscheidung führt.

„Ich könnte wirklich einen Imbiss gebrauchen.“ Wie zur Bestärkung knurrt mein Magen. Verlegen lege ich meine Hand auf meinen Bauch.

„Dann lassen Sie uns gehen. Ich kenne ein ausgezeichnetes Restaurant.“

Ich gehe neben meinem Chef auf den Fahrstuhl zu. Als die Türen aufgleiten, treten wir ein und er drückt den Knopf für das Erdgeschoss. Vor dem Gebäude steuere ich gleich den Zebrastreifen an. Doch bevor ich noch einen weiteren Schritt in diese Richtung machen kann, spüre ich plötzlich eine Hand auf meinem Arm, die mich mit leichtem Druck festhält und mich zwingt umzudrehen.

„Mein Fahrer wartet bereits.“ Mr. Meyer deutet auf eine schwarze Limousine. Davor steht ein hochgewachsener, stämmiger Mann mittleren Alters. Sein Haar ist kurz, ziemlich kurz und ebenso dunkel wie sein Anzug und das Auto hinter ihm, jedoch trägt er keine Mütze, so wie man es von Chauffeuren kennt.

„Wir gehen nicht zu Fuss?“ Etwas überrascht sehe ich meinen Chef an.

„Wir müssen ein paar Minuten fahren. Aber dafür lohnt es sich. Vertrauen Sie mir.“ Er lenkt mich mit seiner Hand auf meinem Arm zu seinem Fahrer. „Hallo Pietro. Alles gut?“

„Ja, Boss.“ Er tippt sich an seine imaginäre Hutkrempe und beachtet mich dann mit einem freundlichen, aber verständnislosen Blick. „Wo darf ich Sie hinbringen, Mr. Meyer?“ Sein italienischer Akzent ist unverkennbar.

„Miss Weber und ich würden gerne eine Kleinigkeit essen. Bringen Sie uns bitte ins Forestlake.“

„Natürlich. Miss Weber,“ Er knickst mit seinem Kopf in meine Richtung und öffnet uns die hintere Wagentür, wobei mir sein Waffenholster unter seiner dicken Jacke nicht verborgen bleibt. „bitte steigen Sie ein.“

Ich blicke mich nach allen Seiten um, weil mir diese ganze Situation plötzlich ein eigenartiges Gefühl in mir auslöst, steige aber trotzdem in das Auto.

Als hätte ich meine Besorgnisse laut ausgesprochen, äussert sich Damian Meyer leise dazu, der nun neben mir im hellen Lederpolster sitzt. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr überfallen.“ fragt er mich, sobald sich die Limousine in Bewegung gesetzt hat.

„Warum trägt Ihr Fahrer eine Waffe?“

„Verunsichert Sie das?“

„Vielleicht ein wenig.“ gebe ich ehrlich zu.

„Er trägt sie für meinen Schutz.“

„Benötigen Sie denn so was?“

„Bis jetzt war es nicht nötig. Aber man sichert sich lieber im Voraus ab. Stört es Sie?“

„Nein.“ Auch wenn ich versuche meine Unsicherheit zu verbergen, so klinge ich nicht sehr überzeugend. Ich kann meinem Chef nicht in die Augen sehen und blicke daher aus dem schwarz getönten Fenster. Der Rolls Royce, dessen gemütlichen Polster und jeglichen Komfort, welches dieses Schiff auf vier Rädern bietet, ich kaum wahrnehme, rollt leise über die Londoner Strassen.

Die Trennscheibe zwischen Fahrer und Fond ist geschlossen und somit der Chauffeur weder zu sehen noch zu hören. Es ist still im Auto. Nur mein schneller Atem ist zu hören. Ich bete, dass Damian das heftige Pochen meines Herzens nicht bemerkt, das kurz vor einer Panikattacke steht. Ich versuche mich zu beruhigen, aber das ist nicht so einfach, wie man sich das manchmal wünscht.

Verzerrte Erinnerungsfetzen, die noch kein Jahr alt sind, schleichen sich in meinen Kopf und drängen sich langsam immer weiter nach vorne.

Ich dachte ich wäre über das Schlimmste hinweg, doch soeben werde ich eines Besseren belehrt, während sich mein Puls immer mehr beschleunigt.

„Jessica?“

Leise dringt mein Name in mein Ohr. Langsam, wie in Zeitlupe, drehe ich mich zu ihm um. Er sieht mich besorgt und ratlos an.

„Jessica?“ Nie hat mein Name so schön geklungen, wie aus seinem Mund. Es klang beschützend und vielversprechend. „Ist alles in Ordnung? Sollen wir umdrehen oder anhalten?“ Seine tiefe, starke Stimme legt sich wie eine feste Umarmung um mich, in die ich mich gerne fallen lassen würde. Noch nie in meinem Leben habe ich mir etwas sehnlicher gewünscht, als von diesem Man gehalten zu werden. Ich verspüre den Wunsch zu weinen. All den unvergossenen Tränen freien Lauf zu lassen und trotzdem kämpfe ich gegen dieses mächtige Verlangen an und blinzle sie zurück.

Seine Augen bohren sich in meine. Unfähig etwas zu sagen oder zu tun, erwidere ich seinen Blick in der gleichen Intensität, wie er mich betrachtet. Eine gefühlte Ewigkeit sehen wir uns an, ohne dass irgendwer irgendwas unternimmt, bis er eine Hand nach mir ausstreckt und mich ohne Vorwarnung an sich zieht. Ich lasse es einfach geschehen und lege meinen Kopf an seine harte Brust. Er schliesst seine muskulösen Arme um mich und zieht mich noch näher an sich. Ein lautes, befreiendes Wimmern dringt aus meiner Kehle, das ich nicht aufhalten kann. Sowie die Tränen, die nun über meine Wangen laufen.

Über mehrere Monate hinweg durfte mich kein Mann mehr berühren. Nicht einmal mein Vater. Warum muss es ausgerechnet mein Chef sein, der mich halten darf? Der mich fest an sich drückt und ich dabei seinen beruhigenden Herzschlag hören kann? Warum fühlt sich seine Hand auf meinem Rücken, die mich sanft streichelt, so unglaublich beschützend an?

Als ich mich wieder gefangen habe, löse ich mich vorsichtig aus seinen Armen. Er reicht mir ein weisses Taschentuch womit ich die salzige Spur meiner Tränen auf dem Gesicht wegwischen kann. Unfähig ihn anzusehen, blicke ich verlegen auf meine Hände, die gefaltet auf meinem Schoss liegen, dazwischen das zerknüllte Taschentuch.

„Geht's wieder?“

„Ich denke schon.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

„Wollen Sie weiterhin mit mir essen gehen oder wäre es Ihnen lieber, wenn wir Sie nach Hause bringen?“

Mein Magen knurrt verdächtig laut und wir brechen beide in ein herzhaftes Lachen aus.

„Ich nehme das als Antwort.“ meint er, als wir uns wieder erholt haben.

Er stellt mir keine Fragen. Sieht mich nicht bemitleidend an. Sondern sitzt nur ruhig neben mir, so als wäre vorhin gar nichts gewesen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, auch wenn mir ganz bewusst ist, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen wird, an dem er mich über meine Vergangenheit ausfragen wird.

Damian

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