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Auswirkung der technologischen Disruption auf die Menschen

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Um die Andersartigkeit der gegenwärtigen Revolution zu verstehen, muss man mit dem grundlegenden Ethos der Tech-Industrie beginnen: der Zerschlagung von trägen Dinosauriern mit ihren Altlasten an gewachsenen Strukturen und überholten Prozessen – durch mehr Effizienz, mehr Möglichkeiten, und das zu niedrigeren Kosten. Und um es klar zu sagen: Aufgeblähte Dinosaurier, die schlechte Qualität und schlechten Service zu hohen Preisen liefern, verdienen jegliche Zerschlagung.

Im Kampf um die Vorrangstellung identifizierte die Tech-Branche jedoch schon sehr früh Lohnkosten als einen der größten Effizienz-Killer ihrer Wettbewerber. Deshalb meidet sie Gewerkschaften um jeden Preis. Viele Start-ups vergüten geleistete Arbeit in einer Mischung aus niedrigen Gehältern und Aktienoptionen, die vielleicht irgendwann einen signifikanten Wert erreichen – oder auch nicht. Die Idee der Rente wurde (zumindest in den Vereinigten Staaten) auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt. Und der weit verbreitete Einsatz von Leiharbeitern, (Schein-)Selbständigen und anderen Vertretern der Gig Economy ohne jede soziale Absicherung stützte das Geschäftsmodell vieler Tech-Riesen.

In der Frühphase des Technologie-Booms war es leicht, sich von all den neuen Spielzeugen blenden und ablenken zu lassen, die wir bekamen. Und von all den frischgebackenen Millionären, von denen einige ehemalige Sekretärinnen und Kantinen-Mitarbeiter waren, die das Glück hatten, zur richtigen Zeit von der richtigen Tech-Firma eingestellt zu werden. Aber jetzt erleben wir, dass die Rechnungen fällig werden, insbesondere im Hinblick auf die sogenannte Gig-Economy.

Uber beispielsweise ist ein Unternehmen, das eng mit willkommener Disruption in Verbindung gebracht wird. Schätzungen nach finden mittlerweile etwa 75 Prozent der Landbeförderungen von Geschäftsreisenden über sogenannte Mitfahrer-Apps statt.1 Wenig überraschend entzog dies vielen traditionellen Taxifahrern, Minicab-Fahrern und Chauffeur-Diensten die Existenzgrundlage, als Uber, Lyft und andere Dienste quasi wie Pilze aus dem Boden schossen und sich steigender Beliebtheit erfreuen. Ja, natürlich war die Taxibranche der alten Schule kein Hort der Tugend, insbesondere in den großen Metropolen wie New York City und Chicago. Sie war berüchtigt für ihre Korruption und den schlechten Kundenservice und bedurfte dringend einer Transformation. Doch die Einführung der disruptiven, digitalen Technologie in Form von Smartphone-fähigen Taxi-Apps hatte katastrophale Auswirkungen auf die Beschäftigten der etablierten Branche. 2018 konnten in New York die Selbstmorde von mindestens sechs Taxifahrern innerhalb eines halben Jahres auf den sinkenden Wert der Taximedaillons und die dadurch erodierenden Einnahmen zurückgeführt werden. Zumindest teilweise kann das mit der steigenden Beliebtheit der Mitfahrer-Apps begründet werden.2

Im Februar 2018 erschoss sich ein 61-jähriger Taxifahrer vor dem Rathaus in Lower Manhattan.3 Stunden zuvor hatte Doug Schifter in einem Facebook-Beitrag seine bedrohliche finanzielle Situation beschrieben. Er führte aus, dass er manchmal mehr als 100 Stunden pro Woche arbeiten musste, um über die Runden zu kommen. Schifter warf Politikern vor, zugelassen zu haben, dass die Straßen der Stadt mit Uber-Autos überflutet wurden, was sich nicht zuletzt auch negativ auf das Verkehrsaufkommen auswirkte.

Ich werde nie vergessen, wie zwei meiner bei Uber arbeitenden Freunde reagierten, als ich beim Abendessen ihre Meinung wissen wollte über diese Selbstmorde und die Arbeitsbedingungen der Uber-Fahrer, die allmählich öffentlich bekannt wurden: »Das ist sehr traurig, aber das ist der Preis für den Fortschritt. Das Taxigewerbe braucht eine Disruption und wir zwingen die Leute ja nicht, für uns zu fahren.« Leider musste ich im Laufe der Jahre so viele Variationen dieser Worte hören, als Flucht vor jeder Verantwortung und Rechtfertigung von Schmerz im Namen des technologischen Fortschritts. Ich habe das so oft und von Mitarbeitern so vieler verschiedener Tech-Firmen gehört, dass ich mich nicht mehr an alle erinnern kann.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Gig-Economy zig Millionen neue Arbeitsmöglichkeiten, zusätzliche Einnahmequellen und dringend benötigte Flexibilität geschaffen hat. In Entwicklungsländern kann das auch vorteilhaft sein, wie zum Beispiel in Indien. Laut der Zeitschrift Foreign Policy führte sie zu »gestiegenen Einkommen, mehr Arbeitsplätzen, weniger Korruption und schließlich einer Formalisierung auf dem Arbeitsmarkt«.4

Unzweifelhaft ist aber auch, dass Arbeitsverhältnisse in der Gig-Economy im Allgemeinen kurzfristig, unsicher, belastend, schlecht bezahlt und prekär sind, mit nur wenigen Arbeitnehmerrechten oder Arbeitsschutzmaßnahmen. De facto sind die Mitarbeiter auf sich alleine gestellt durch das Modell der geringfügigen/freiberuflichen Beschäftigung – das sich als »flexibel« und arbeitnehmerfreundlich darstellt. Favorisiert wird dieses Modell unter anderem von Unternehmen wie Uber, Lyft, Instacart, Deliveroo, Postmates und TaskRabbit. Die Kosten für Altersvorsorge, Krankengeld, Elternzeit und Krankenversicherung werden beim Staat abgeladen, zumindest dort, wo es noch ein vom Steuerzahler finanziertes soziales Netz gibt. Und obwohl diese »neue Normalität« zunehmend auf Proteste von Arbeitnehmern stößt5 – und von Aufsichtsbehörden, politischen Entscheidungsträgern und in Gerichtssälen auf der ganzen Welt kontrolliert wird: Die Gig-Economy ist, in der einen oder anderen Form, gekommen, um zu bleiben.

Im Ergebnis haben die Tech-Giganten das Äquivalent zum Feudalismus im digitalen Zeitalter geschaffen. Ein hierarchisches Sozialsystem im mittelalterlichen Europa mit Lehnsherren, Vasallen und Leibeigenen. Dieses Mal beruht der Reichtum jedoch auf Daten und nicht auf Land. Im Valley entsprechen Adel und Klerus (Gründer und Risikokapitalgeber) den Herren und Eigentümern aller von ihnen überwachten Daten, sie umgeben sich in der Regel nur mit den königlichen Ministern und mächtigen Kaufleuten (Führungsteam und Spitzenkräfte aus Produktentwicklung und Technik). Die Vasallen (Angestellte, die nicht im technischen Bereich tätig sind) werden als wichtig, aber nicht als kritisch und irgendwie ersetzbar angesehen. Am unteren Ende der Pyramide befinden sich die Leibeigenen und Bauern, die in dieser Analogie, anstatt das Land zu bearbeiten, für Uber oder Lyft fahren, oder für Amazon packen oder Mahlzeiten für Deliveroo oder DoorDash ausliefern, oder noch schlimmer, für Hungerlöhne in Ausbeutungsbetrieben arbeiten (siehe Abbildung 4.1).

Es gibt Führungskräfte in diesen Firmen, die damit prahlen, »genau zu wissen, wie es ist«, für eine Mitfahrer-App zu fahren, da sie dies vor einiger Zeit einen Tag lang gemacht haben. Meiner Meinung nach haben sie nicht die geringste Ahnung davon, was es wirklich bedeutet, jeden einzelnen Tag genug Arbeit zu brauchen, um die Familie ernähren oder das Benzin für die nächste Woche bezahlen zu können. Die Ausbreitung von COVID-19 verschärfte die Lage noch. Viele Beschäftigte in der Gig-Economy können es sich einfach nicht leisten, ihre Arbeit einzustellen. Sie sind weder durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall noch durch andere Sozialleistungen abgesichert. (Es sei darauf hingewiesen, dass, während ich dies schreibe, Amazon, Instacart, DoorDash, Uber und Lyft ihren Gig-Arbeitern für bis zu maximal zwei Wochen Krankengeld angeboten haben, wenn sie nachweisen können, dass sie entweder an COVID-19 erkrankt oder unter Quarantäne gestellt waren.)


Abb. 4.1: Mittelalterlicher Feudalismus vs. Einhorn-Feudalismus

Diese neue Ära der unerbittlichen Unsicherheit und Unbeständigkeit betrifft Dutzende Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die in diesem neuen Feudalismus feststecken. Für sie wird es immer schwieriger, nicht nur eine Familie zu gründen oder ein Haus zu kaufen, sondern einfach über die Runden zu kommen. Beunruhigende Geschichten über das Leben von Lebensmittel-Lieferanten, Nachtkuriere oder Lagerarbeiter und Arbeiter in Logistikunternehmen sind im Überfluss vorhanden. Am schlimmsten ist die Situation für einfache Arbeiter, falls eine Steigerung überhaupt möglich ist. Im Jahr 2019 kam die von Vox Media betriebene technische Website The Verge in den Besitz von Dokumenten, aus denen hervorgeht, dass Amazon in den Logistikzentren ein System zur Überwachung der Produktivität und Qualität der Mitarbeiter einsetzt, »das automatisch Abmahnungen generiert, wenn Ziele nicht erreicht werden«.6

Noch beunruhigender ist, dass das System sogar Arbeitsunterbrechungen (»time off task«, bekannt auch unter der im Deutschen zynisch klingenden Abkürzung TOT) aufzeichnet. Auch hier werden automatisch Abmahnungen und sogar Kündigungen generiert, wenn Mitarbeiter zwischen dem Scannen einzelner Pakete offensichtlich zu viel Zeit benötigen. Beschäftigte vermeiden deshalb mittlerweile Toilettenpausen, so die Webseite. Ebenfalls dort veröffentlicht wurde die Stellungnahme eines Amazon-Anwalts. Er räumte ein, dass zwischen August 2017 und September 2018 in einem einzigen Betrieb »Hunderte« Beschäftigte von Amazon entlassen wurden, weil sie die Produktivitätsziele nicht erreicht hatten.7

Das ist noch nicht alles. Eine detaillierte Recherche des Medienunternehmens BuzzFeed mit dem Titel »The Cost of Next-day Delivery«8 (Kosten der Zustellung am nächsten Tag) zeichnet ein erdrückendes Bild über den Druck, der auf die für Subunternehmen arbeitenden Paketzusteller von Amazon ausgeübt wird. Häufig wird von ihnen erwartet, dass sie »auf Anweisung von Disponenten pro Schicht Hunderte von Paketen zu einem Pauschalpreis von rund $160 pro Tag ausliefern. Oftmals werden sie dazu gezwungen, auf Mahlzeiten, Toilettenpausen und jede andere Form von Ruhepausen zu verzichten. Sie werden davon abgehalten nach Hause zu gehen, bis das allerletzte Paket ausgeliefert ist.« Buzzfeed fand heraus, dass die Fahrer oft mehr als 250 Pakete pro Tag zustellen müssen, was bei einer Acht-Stunden-Schicht weniger als zwei Minuten pro Paket ausmacht. »Amazon geht noch weiter als die Gig-Economy-Firmen, die darauf pochen, ihre Fahrer seien freie Mitarbeiter und hätten keine Rechte als Arbeitnehmer«, hieß es in dem Beitrag. »Indem Amazon jedoch Verträge mit Drittfirmen abschließt, bei denen die Fahrer beschäftigt sind, hat das Unternehmen endgültig die Verbindung zu den Zustellern seiner Pakete gekappt.«

Dadurch entfällt für Amazon jegliche gesetzliche Haftung bei Unfällen. Als beispielsweise ein Fahrer in Chicago kurz vor Weihnachten 2016 eine 84-jährige Frau angefahren und getötet hat, sagten die Anwälte von Amazon in der Gerichtsverhandlung: »Die etwaigen Schäden wurden ganz oder teilweise von Dritten verursacht, die nicht unter der Leitung oder Kontrolle von Amazon.com standen.«9

In dem Bericht heißt es weiter, dass »laut öffentlichen Unfallberichten der letzten fünf Jahre Amazon-Zusteller in Hunderte von Unfällen verwickelt waren. Amazon selbst wurde in mindestens 100 Fällen direkt als Beklagte genannt … darunter waren mindestens sechs Todesfälle und zahlreiche Schwerverletzte.« Dies führe zu einer hohen Dunkelziffer, da viele Unfälle, an denen Fahrer von Subunternehmen beteiligt sind, somit ohne eine Verbindung zu Amazon in die Statistik eingehen.

Niedergetrampelt von Einhörnern

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