Читать книгу Die bekanntesten Kinder- & Jugendbücher - Magda Trott - Страница 24

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Für den schönen Herbstnachmittag war von acht Schülerinnen der vierten Klasse die Verabredung getroffen worden, am zeitigen Nachmittag in den Wald zu gehen, um Herbstblumen zu pflücken. Man hatte gehört, daß morgen der Klassenlehrer Seiffert seinen Geburtstag feierte, deshalb wollten einige der Schülerinnen ihm einen hübschen Blumenstrauß bringen. Selbstverständlich hatte sich die kleine Hanna Ströde, die man in Hirschberg unter dem Namen Pommerle gut kannte, ebenfalls bereit erklärt, mitzugehen. Der Lehrer Seiffert wußte immer gar schöne Geschichten zu erzählen und wurde deshalb von Pommerle schwärmerisch verehrt.

Die Pflegeeltern des kleinen Mädchens hatten nichts dagegen, obwohl Frau Professor Bender sorgenvoll zum Himmel hinaufschaute.

Die Sonne schien zwar schön; aber dennoch hatte Frau Bender schwere Bedenken, ob das Wetter den ganzen Tag über so bleibe.

»Ich fürchte, Pommerle, es gibt heute noch Regen. Geht nicht zu weit, damit ihr nicht naß werdet. Auf der Wiese am Hausberg findet ihr noch mancherlei Blumen. Beeilt euch, damit ihr gegen sechs Uhr wieder daheim seid.«

»Die Hübner Emma hat auch schon gesagt, daß wir am Hausberg noch schöne Blumen finden werden, liebe Tante, aber die Uhse Minna möchte nicht gern zum Hausberg gehen. Sie hat noch immer Angst.«

»Angst? – Wovor fürchtet sich die Minna, Pommerle?«

»Im Hausberg soll noch immer der Kilian sitzen. Ich glaube es aber nicht, Tante. Die Uhse Minna meint aber, der Kilian sei doch im Berge und rumort darin herum, weil er 'raus will.«

Frau Professor Bender überlegte einige Augenblicke. Es gab von dem Hausberg, der sich unweit der Stadt Hirschberg erhob, eine Sage, die sie aber nicht mehr kannte. Pommerle schien das besser zu wissen, obgleich das Kind erst seit knapp zwei Jahren in Schlesien lebte.

»Was will denn der Kilian im Hausberg, mein Kind?«

»'raus möcht' er, aber er kann nicht. Eines Tages, als er mal spazierenging, sah er im Berg ein großes Loch. Dort ist er 'reingegangen. Da hat er einen Haufen Gold und Silber gefunden. Er hat sich alle Taschen vollgestopft, ist wieder aus dem Berg herausgelaufen und hat dann furchtbar fein gelebt. Immer nur Flundern gegessen und Champagner dazu getrunken. Aber nach einigen Tagen hat er das ganze Gold aufgegessen gehabt. Da ist er wieder zum Hausberg gegangen. Wieder war das große Loch da, und dann hat er sich noch mal einen Haufen Gold und Silber geholt. Lauter blanke Fünfmarkstücke. Dann hat er wieder furchtbar fein gegessen, jeden Tag ist er ins Kino gegangen, da hat er bald wieder kein Geld gehabt. Als er dann zum drittenmal in das dunkle Loch ging, gab es einen Krach, der Berg schob sich zusammen; und nun ist der Kilian in dem Berg und kann nicht 'raus. Da hat die Uhse Minna Angst, daß uns auch mal was zustoßen könnte. – Nicht wahr, liebe Tante, der Kilian sitzt doch nicht in dem Hausberge? Das erzählen die Leute nur so.«

»Hast recht, Pommerle, das ist eine Sage, weiter nichts.«

»Wenn ich mal solch ein großes Loch in einem Berge sehen würde, ich ginge auch hinein. Oh, ich holte mir dann auch alle Fünfmarkstücke heraus, die dort liegen, und dann – –«, das Kindergesicht nahm einen verklärten Ausdruck an, »dann kaufte ich mir auch viele Flundern und ein Auto. Dann würde ich schnell mal wieder an die Ostsee fahren. Dort schenkte ich der Elli Götsch und der Grete Bauer eine Perlenkette, und dem Otto Jäger kaufte ich ein Paar hohe Wasserstiefel. – Ach, das wäre fein!«

»Es geht auch ohne die Fünfmarkstücke, Pommerle. Du hast ja alles, was du brauchst, mein Kind.«

»Aber wenn ich viele Fünfmarkstücke hätte, wie der Kilian, würde ich mir doch ein Auto kaufen und immerfort Flundern essen.«

»Du bekommst morgen auch Flundern, kleines Mädchen. Sei hübsch zufrieden, Pommerle, man muß nicht immer mehr verlangen, als man hat. Zufriedenheit ist das beste Gut. Wenn man zufrieden ist, fühlt man sich glücklich und froh.«

Pommerle schlang beide Arme um den Hals der Tante. »Oh, ich bin ja zufrieden, aber – viele blanke Fünfmarkstücke möchte ich doch gern haben.« –

Als sich die acht Mädchen am Nachmittag versammelten, um gemeinsam die Wanderung anzutreten, kam die Rede natürlich wieder auf den sagenhaften Hausberg. Die blonde Minna meinte, man höre den Kilian im Berge rufen und schreien. Es sei doch besser, man ginge ein Stück weiter, denn es wäre schrecklich, wenn der Kilian plötzlich, rot vor Wut, aus dem Berge gesprungen käme. Er wäre sicherlich fürchterlich anzusehen, weil er schon über tausend Jahre darin säße und sich in der Zeit nicht ein einziges Mal gewaschen hätte.

Minna wußte schließlich alles so schaurig darzustellen, daß selbst dem mutigen Pommerle das Herz zu klopfen anfing; scheuen Blickes ging man eilig am Hausberg vorüber und weiter, um an anderer Stelle Wiesenblumen für den Lehrer zu pflücken.

Man fand nichts Rechtes. Die Blumen, die jetzt noch blühten, erschienen den Kindern nicht geeignet. Es sollte doch etwas Besonderes sein. Pommerle meinte daher, es wäre wohl besser, wenn man den Strauß aus den Blumen herstellte, die noch im Garten des Onkels blühten.

Emma Hübner wehrte ab. Der Lehrer habe doch selbst einen Garten mit Blumen, ihm wäre ein Strauß aus Wiesenblumen gewiß lieber.

Weiter und weiter lief die kleine Schar, bis Pommerle plötzlich stehenblieb und mit heller Stimme rief:

»Seht doch die vielen Preiselbeeren. Wir schenken ihm Preiselbeeren!«

Dieser Vorschlag fand sogleich begeisterte Zustimmung. Blumen hatte der Lehrer im Garten, aber Preiselbeeren würde er sich sicherlich nicht pflücken. Außerdem hatte er erst kürzlich gesagt, daß er Preiselbeeren zu Eierkuchen sehr gern äße.

Kaum fünf Minuten später waren die acht Kinder dabei, die roten Beeren abzupflücken. Da man keine Behälter mitgenommen hatte, wurden einfach Mützen und Hüte benutzt, und bald war Pommerles Baskenmütze fast bis zur Hälfte mit roten, schönen Beeren angefüllt.

»Oh, wird ihm das schmecken!« sagte Pommerle, die Beeren betrachtend und einige davon in den Mund schiebend. »Wird er Freude daran haben! Nun kann er eine Woche lang jeden Mittag Eierkuchen und Preiselbeeren essen.«

Mit größtem Eifer wurde weitergepflückt, bis plötzlich eins der Mädchen rief:

»Jetzt fängt es an zu regnen!«

Niemand hatte es bemerkt, daß sich der Himmel mit dunklen Wolken überzogen hatte.

»Paßt mal auf, gleich pladdert es los«, sagte Minna. »Was machen wir nun? Wir werden naß wie die Katzen.«

»Wir laufen im Galopp nach Hause«, meinte Pommerle.

»Das ist viel zu weit!«

»Dann gehen wir eben zum Harfen-Karle.«

Pommerle horchte auf. Das war ihm ein ganz neuer Name. Vom Harfen-Karle hatte es noch nie etwas gehört.

»Wo ist er?«

»Der hat dort drüben ein kleines Häusel, darin wohnt er schon immer. Im ganzen Hirschberger Tal kennt man ihn.«

»Was macht er denn?«

»Er ist alt.«

»Er muß doch aber was tun«, meinte Pommerle.

»Nein, der tut nichts, er sitzt immer nur in der Sonne.«

»Und was macht er, wenn's regnet?«

»Dann sitzt er in der Stube.«

Nachdenklich blickte Pommerle nach der Richtung hinüber, in der das kleine Häuschen des Harfen-Karle stehen sollte. Aber es gab kein langes Überlegen mehr, denn der Regen setzte plötzlich mit ungeahnter Heftigkeit ein. Zwei der Kinder liefen voran, die anderen folgten, ohne lange zu überlegen.

Schließlich sah man auch am Waldrande ein kleines Haus, mehr eine Hütte, die einen recht dürftigen Eindruck machte.

Pommerle blieb stehen. »Wohnt dort der Harfen-Karle?«

»Ja, komm nur schnell, ich bin schon ganz naß!«

Pommerle war die letzte, die das Häuschen erreichte. Zögernd blieb das kleine Mädchen stehen. Die anderen Kinder waren bereits in den Hausflur getreten. Pommerle hörte eine fremde Stimme, die gar freundlich klang. Da folgte es den anderen und sah sich bald einem großen, hageren Mann gegenüber, den Pommerle erstaunt musterte. Viele Haare hatte der alte Mann nicht mehr auf dem Kopfe, aber die wenigen, die noch vorhanden waren, hingen in dünnen Strähnen bis auf die Schultern herab. Dazu kam ein langer, weißer Bart. Der alte Mann trug einen grauen Kittel, der fast bis auf die Erde hinunterreichte.

Und dann die Hände! – So lange, dünne Finger hatte Pommerle noch nie gesehen. Die Mitschülerinnen hatten bereits davon erzählt, daß sie beim Beerenpflücken vom Regen überrascht worden wären. Sie baten den Harfen-Karle, solange hierbleiben zu dürfen, bis der Regen nachgelassen habe.

So gut es ging, machte man es sich in der verräucherten Stube bequem. Die Kinder hockten an dem großen Ofen, um den eine Holzbank aufgestellt war.

»Meine Enkeltochter kommt erst am Abend heim, ich kann euch schlecht helfen, Kinder; aber trocknen könnt ihr euch hier.«

Vor Pommerle machte der Alte halt. »Dich kenne ich ja noch gar nicht, Kleine. – Wie heißt du?«

»Hanna Ströde, aber alle nennen mich Pommerle.«

»Ströde – ich kenne doch im Hirschberger Tal alle Leute, aber eine Ströde kenne ich nicht. – Wo wohnst du denn?«

»In Hirschberg, beim Onkel Professor Bender.«

»Bist du zu Besuch dort?«

»Nein, Harfen-Karle, ich bin immer dort. Ich bin aus Pommern gekommen. Mein Vater ist schon lange im Himmel. Da hat mich der Onkel Professor mitgenommen, und nun soll ich immer in Hirschberg bleiben.«

»Richtig! – So was habe ich ja auch gehört. Also das kleine Pommerle bist du. – Gefällt es dir in Hirschberg?«

»O ja. Der Onkel und die Tante sind sehr gut.«

»Und dann unsere schönen Berge. – Bist in eine gar hübsche Gegend gekommen, kleines Pommerle. Seit zweiundneunzig Jahren lebe ich hier. Ich habe viel gesehen –«

»Hast du auch Pommern gesehen und die Ostsee?«

»Nein, ich bin immer nur in den schlesischen Bergen gewesen, in dem schönsten Lande, das es in der ganzen Welt gibt.«

»Oh, die große Ostsee und Pommern sind auch sehr schön.«

»Harfen-Karle«, rief eins der Kinder, »möchtest du uns nicht was spielen und singen?«

»Spiele und singe nicht mehr vor Leuten, bin ein alter Mann.«

»Ach, Harfen-Karle, der Großvater sagt, du hast immer so schön gespielt und gesungen. Sieh mal, dort steht doch noch deine Harfe. Ach, lieber Harfen-Karle, spiele uns doch ein Lied!«

»Hab' viele tausend Lieder gespielt und gesungen, in der Hampelbaude, in der Peterbaude und in allen den anderen Bauden, die ihr ja auch kennt. Aber jetzt ist der Harfen-Karle ein alter Mann, der nicht mehr recht kann.«

Mit ausgestrecktem Finger wies Pommerle auf die große Harfe, die an der Wand lehnte.

»Kannst du darauf spielen?«

Der Alte nickte. »Über siebzig Jahre habe ich darauf gespielt und tue es jetzt auch noch; aber es will nicht mehr recht gehen.«

Immer stärker schlug der Regen gegen die kleinen Scheiben.

»Der Rübezahl ärgert uns wieder mal«, meinte Minna. »Er hat es nicht gern, wenn man ihm die roten Beeren abpflückt, er will alles für sich behalten.«

»Dabei soll es doch gar keinen Rübezahl geben«, sagte Pommerle, »er ist auch nur so ein Sagenmann, genau wie der Kilian.«

Ein Sturm der Entrüstung brach los. Alle Kinder meinten, daß es ganz gewiß den Rübezahl gäbe, gar zu oft habe man ihn schon gesehen. Pommerle erinnerte sich selbst an seine Begegnung mit dem vermeintlichen Rübezahl. Doch hatte es sich später herausgestellt, daß jener Mann nicht der Berggeist, sondern ein freundlicher Tourist gewesen war, der ihm damals in seiner Not geholfen hatte.

»Bei euch in Pommern gibt es natürlich keinen Rübezahl, der lebt doch nur hier in seinen Bergen. Ihr habt eben nicht so was Schönes dort.«

»Wir haben die Stine«, rief Pommerle, »die Stine kann noch viel mehr als euer Rübezahl!«

»Dann ist die Stine auch nur eine Sagenfrau!«

Pommerles Augen glühten auf. »Die Stine ist gar keine Sagenfrau, die Stine wohnt bei uns im Wasser, sie weiß alles ganz genau. Der Vater hat gesagt, sie ist da, und dann ist sie auch da!«

Die schlesischen Mädchen verteidigten ihren Berggeist. Man kam ziemlich hart aneinander, bis Pommerle schließlich klein beigab und erklärte:

»Na, vielleicht ist er doch keine Sage, der Rübezahl. Ich werde ihn mal rufen, vielleicht kommt er. Aber dann muß er mir viele blanke Fünfmarkstücke und ein Schloß schenken.«

Der alte Harfner hatte die Unterhaltung der kleinen Mädchen schweigend mit angehört. Er setzte sich jetzt mitten unter die Kinderschar und sagte langsam:

»Was nützt euch alles Geld und ein Schloß. Ich habe es auch nicht und bin mein Leben lang glücklich und zufrieden gewesen.«

»Wenn man viel Geld hätte, könnte man noch glücklicher sein«, meinte Minna.

Da stand der alte Harfner auf, ging in die Zimmerecke und holte die Harfe hervor. Die Kinder schlugen begeistert in die Hände.

»Willst du uns was singen?«

Der Alte nickte. Er nahm die Harfe zwischen die Knie. Da wurde es mäuschenstill in dem Raum. Pommerles Augen hingen wie gebannt an den langen, dünnen Fingern, die in die Saiten griffen und ihnen gar liebliche Töne entlockten. Und jetzt begann der Alte zu singen. Wohl war seine Stimme heiser und brüchig, aber es klang doch noch ganz gut.

»Ich bin gar sehr ein armer Mann

Und bleib's gewiß auch immer.

Allein ich will nicht schrei'n und klag'n,

Den andern geht's viel schlimmer.

Ich bin gesund und wohlgemut,

Und das ist wohl das größte Gut.

Zur Arbeit, nicht zum Müßiggang,

Hat mich der Herr geschaffen,

Drum will ich auch mein Leben lang

Die Kräft' zusammenraffen.

Ich bin gesund und wohlgemut,

Und das ist wohl das größte Gut.«

Noch einmal einige schöne Akkorde; dann erhob sich der Alte und stellte die Harfe wieder in die Ecke.

Die Kinder waren mäuschenstill geworden. Soeben noch waren tausend Wünsche von ihren Lippen gekommen, Wünsche nach Geld und Gut, nach Schlössern, schönen Kleidern und anderen Dingen; nun hatte ihnen der alte Harfner davon gesungen, daß man auch in der Armut glücklich und zufrieden sein könne, wenn man nur gesund sei und frohen Mut habe.

Pommerle hörte plötzlich wieder die Stimme der Tante. Heute mittag, als sie ihr vom Hausberg erzählt hatte, hatte die Tante auch gesagt, daß Zufriedenheit das höchste Gut sei, was man sich wünschen könne. Pommerle nahm sich vor, nicht wieder begehrlich nach blanken Fünfmarkstücken auszuschauen. Der alte Mann hatte davon gesungen, daß es anderen noch viel schlechter gehe. Pommerle hatte mit seinen neun Jahren schon manchen Blick ins Elend tun dürfen.

»Ich bin gesund und wohlgemut,

Und das ist wohl das größte Gut.«

Leise wiederholte Pommerle die beiden letzten Zeilen des Liedes. Diese Worte wollte es sich gut merken. Und wenn der Jule, der Spielgefährte, der seit wenigen Wochen bei Meister Reichardt in der Lehre war, wieder einmal ein so mürrisches Gesicht machte, wollte ihm Pommerle von diesem Lied erzählen. Wie war es doch gleich gewesen?

»Zur Arbeit, nicht zum Müßiggang,

Hat mich der Herr geschaffen.«

Ob der alte Mann auch heute noch arbeitete? Die anderen hatten doch gesagt, er säße immerzu in der Sonne. Pommerle hatte plötzlich für den Harfen-Karle ein brennendes Interesse gewonnen. Er war zweiundneunzig Jahre alt, also viel, viel älter als der Onkel Professor.

Währenddessen waren die anderen Kinder wieder in lebhaftem Gespräch mit dem Harfner. Staunend hörte Pommerle an, daß der Alte fast täglich in den Wald ging und Beeren und Kräuter suchte.

»Der Onkel sucht auch Grünzeug«, rief Pommerle begeistert aus.

»Weiß ich, kleines Pommerle, aber ich suche Kräuter und Wurzeln für die Apotheke. So ein alter Mann, wie ich, der weiß, was den Menschen gut tut, was ihnen hilft, wenn sie krank sind. Bin in meinem langen Leben nicht oft krank gewesen, und wenn es mal geschah, habe ich mir immer selber zu helfen gewußt. Der Wald ist der größte Wunderdoktor der Welt.«

»Was holst du denn im Walde?« forschte Pommerle interessiert.

»Allerlei Kräuter, aus denen man guten Tee kocht, wenn du Halsschmerzen oder Bauchweh oder sonst etwas hast. Und manches Kraut ist giftig. Das Gift bekommen dann solche Leute ein, die schwere Leiden haben. Aber das versteht ihr kleinen Kinder heute noch nicht, das lernt ihr erst viel später. – Kommt mal her, ich will euch mal meine Vorräte zeigen.«

Dann sahen die Kinder etwas ganz Neues. In Blechdosen, Tüten, kleinen Kästchen und anderen Behältern lagen getrocknete Blätter und Wurzeln. Die verschiedensten Düfte entströmten diesen Behältern. Ungezählte Fragen wurden laut, und mitunter lachte die kleine Schar ungläubig, wenn der alte Harfner berichtete, daß man aus dieser trockenen Pflanze ein schlimmes Gift bereite, durch das die Menschen sterben und auch gesund werden könnten.

Am aufmerksamsten hörte wohl Pommerle zu. Der Onkel hatte ihm schon manche Pflanze gezeigt. Es kannte auch die verschiedenen Namen der Gewächse; aber diese Kräutersammlung hier war ihm etwas ganz Neues.

»Kann der Onkel auch mal zu dir kommen und sich hier belernen?«

Der Harfner lachte. »Dein Onkel ist ein gar kluger und gelehrter Mann, der weiß das alles längst.«

Pommerle schüttelte den Kopf. »Von den kleinen Kräuterchen, die so giftig sind, die die Menschen tot und lebendig machen, weiß er gewiß nichts. – Darf der Onkel mal herkommen?«

»Natürlich, Pommerle.«

»Und der Jule auch?«

»Wer ist denn der Jule?«

»Nun, der Kretschmer Jule, mein Freund.«

»Den Kretschmer Jule kenne ich genau, auch dessen Mutter. Sie ist schon lange recht krank, wird wohl bald zu Ende mit ihr gehen.«

»Muß sie sterben?«

»Wird wohl nicht anders möglich sein.«

»Kannst du ihr nicht von der giftigen Wurzel was eingeben, daß sie wieder gesund wird?«

»Wird nicht mehr viel helfen, kleines Pommerle.«

»Ich denke, die giftige Wurzel hilft immer? Ich will den Jule mal herschicken. – Dann singst du dem Jule auch das Lied vor, von der Zufriedenheit, die das höchste Gut ist, und daß wir nicht zum Müßiggang geschaffen sind. – Willst du das tun?«

»Das kann geschehen, Pommerle. Aber der Jule ist doch jetzt bei einem Lehrherrn, er soll ein tüchtiger Tischler werden.«

»Er hat gemeint, es macht ihm keinen Spaß. Er möchte lieber für den Onkel viel Steine und Blumen sammeln.«

»Der Jule ist ein Taugenichts, wenn er nicht arbeiten will.«

»Nein«, sagte Pommerle energisch, »der Jule ist kein Taugenichts, der Jule arbeitet jetzt den ganzen Tag, und vorher hat er auch gearbeitet. Der Jule ist mein bester Freund, der Jule wird bald ein Meister, und später, wenn wir beide groß sind, heiratet mich der Jule.«

»Ich kenne den Kretschmer Jule recht gut, kleines Mädchen. Will ihm nur wünschen, daß die Mutter wieder gesund wird.«

Endlich hatte der Regen nachgelassen. Emma mahnte zum Aufbruch. Es war bereits sechs Uhr vorüber, die erste Dämmerung senkte sich hernieder.

Man nahm die mit Beeren gefüllten Hüte und Mützen. Pommerle zögerte ein Weilchen. Es hatte ihm beim Harfen-Karle sehr gut gefallen. Das kleine Mädchen hätte dem alten Mann gar gern eine Freude gemacht. Ob sie die Beeren teilte und dem alten Mann die Hälfte schenkte?

Pommerle reichte dem Alten abschiednehmend die Hand und hielt ihm die Mütze hin.

»Ich möchte dir ein paar Beeren schenken. Willst du sie haben? Aber nicht alle, ich habe sie für den Lehrer gepflückt.«

»Ich danke dir, kleines Pommerle, ich habe selbst meine Beeren. Nimm sie nur wieder mit. Bist ein gar liebes Mädchen.«

Pommerle war recht glücklich, daß es die gefüllte Mütze behalten durfte. Rasch folgte es den anderen, und dann ging es im Sturmschritt heim.

Der starke Regen, der niedergegangen war, hatte die Straße unterhalb des Hausberges stark aufgeweicht. Die Kinder mußten oftmals über Wasserpfützen springen, um weiterzukommen. Plötzlich stieß Pommerle einen lauten Ruf aus:

»Ein ganz kleiner Piepmatz!«

Völlig durchnäßt, mit herunterhängenden Flügeln, hüpfte am Wege ein Sperling dahin. Er mußte von einem Ast heruntergefallen sein und war unfähig, wieder aufzufliegen.

»Wenn er hierbleibt, frißt ihn die Katze, oder es holt ihn ein Raubvogel. Wir müssen ihn in einen Strauch setzen.«

»Nein«, meinte Pommerle, »dann friert er oder fällt wieder herunter. Wir müssen ihn zuerst trocknen.«

Mit raschem, aber vorsichtigem Griff hatte Pommerle das Vöglein gefangen. Die gefüllte Mütze mit den Beeren stand mitten auf der Straße.

»O je, wie es zittert! Es wird sich erkälten.«

Noch immer hielt Pommerle das Vöglein zwischen beiden Händen. Der Sperling piepte gar ängstlich.

»Kleiner Piepmatz, fürchte dich nicht, ich tue dir wirklich nichts. Ich bin doch keine Katze!«

»Wir müssen es warm setzen«, sagte eins der Mädchen.

Man überlegte. Das war nicht so einfach, denn die Kleider der Kinder waren noch immer feucht.

»Einer von euch nimmt meine Mütze mit den Beeren, und ich trage den Vogel zwischen beiden Händen heim. Dort setze ich ihn in ein Körbchen, daß er trocknet, und morgen hat er sich wieder erholt.«

»Wenn du ihn immerzu in den Händen hältst, brichst du ihm ein Bein oder einen Flügel ab«, meinte Minna. »Mein Bruder hat es auch mal so gemacht. Du mußt den Vogel ins Warme setzen.«

Ida erklärte sich bereit, das Vöglein in die Manteltasche zu stecken, doch Pommerle wies voller Entrüstung dieses Ansinnen zurück.

»Dann zerdrückt ihr ihn ja.«

»So laß den dummen Vogel sitzen«, rief eine andere. »Wir müssen weiter.« Und schon setzte sich die Schar in Bewegung.

Noch immer stand Pommerle ratlos mit dem Vögelchen in beiden Händen da.

»Nehmt doch meine Mütze mit!«

Die anderen hatten Eile, heimzukommen; die gefüllte Mütze mit den Beeren blieb mitten auf der Straße stehen. Es dauerte auch nur wenige Minuten, da sah sich Pommerle allein auf der Straße.

»Fürchte dich nicht, kleiner Piepmatz, ich verlasse dich nicht.«

Wenn es nur einen Behälter gehabt hätte, etwas Warmes, daß es den Vogel hineinsetzen könnte. Pommerle sah ratlos an sich herab. Es befühlte mit den Händen sein Röckchen, aber das war viel zu naß. Der kleine Vogel mußte trocken sitzen.

»O je, wie er zittert – er wird sich noch zu Tode zittern.« Pommerle war recht unglücklich. Einen Augenblick dachte es daran, die Beeren auszuschütten und das Vöglein in die Mütze zu setzen. – Aber da kam ihm plötzlich ein rettender Gedanke: »Kleiner Piepmatz, brauchst nicht mehr zu frieren, jetzt habe ich ein schönes Häuschen für dich!«

Pommerle lehnte sich an einen Baum, schnürte rasch den einen Schuh auf, zog ihn aus, faßte hinein und stellte erfreut fest, daß der Schuh innen warm war.

»So, kleiner Piepmatz, nun hast du ein feines Häuschen, darin tut dir keiner was.«

Vorsichtig ließ das kleine Mädchen das Vöglein in den Schuh schlüpfen, hauchte vorher noch einige Male hinein. Das Vöglein saß ganz still in seinem dunklen Häuschen.

»Na, ist es schön warm?«

Nur ein leises Piepen war die Antwort. Als Pommerle den Fuß aufsetzte, schrak es ein wenig zusammen. Es hatte mit dem Strumpf gerade in eine kleine Wasserpfütze getreten. Aber was schadete das! Das Vöglein saß doch warm. Rasch griff Pommerle nach der Mütze, stellte den schmutzigen Schuh auf die Beeren, dann eilte es auf einem Schuh und einem Strumpf hinter den anderen Mädchen her. Es gelang ihm zwar nicht mehr, die Gefährtinnen einzuholen, zumal Pommerle mehrmals stehenblieb und bei dem Sperling anfragte, ob er sich auch wohlfühle.

Als es die ersten Häuser von Hirschberg erreicht hatte, traf Pommerle auf der Straße eine ältere Frau. Diese schlug die Hände zusammen, als sie das Kind kommen sah.

»Wie siehst du denn aus, du Schmutzfink? Warum ziehst du denn den Schuh nicht an?«

Pommerle hob das Gesichtchen mit den strahlenden Blauaugen, durch seine Stimme klang unterdrückter Jubel.

»Weil ein liebes Vöglein drinnen wohnt.«

»Kind, du wirst dich erkälten, der ganze Strumpf ist naß und beschmutzt.«

Andere kamen und sahen dem kleinen Pommerle nach, manch einer lachte belustigt.

»Die Kleine aus dem Pommerlande hat doch immer allerlei Schnurren im Kopfe!«

Endlich war die Villa des Onkels erreicht. Pommerle lief sogleich in die Küche, in der das Hausmädchen und Frau Bender mit dem Abendessen beschäftigt waren.

»Endlich bist du wieder da, Pommerle – aber was ist denn das?«

Behutsam stellte Pommerle den Schuh vor die Tante hin. »Ein kleines Vögelchen ist drin. Nun müssen wir es warm setzen, daß es sich nicht erkältet.«

Frau Bender wollte ein wenig schelten; aber als sie die Liebe sah, mit der die Kleine das nasse Tierchen betreute, schwieg sie. Pommerles gutes Herz, seine große Liebe zu den Tieren, zeigte sich heute wiederum. Außerdem war das kleine Mädchen das Barfußgehen von früher her gewöhnt. Der kleine Spaziergang ohne Schuh würde ihm nichts schaden.

»Jetzt bringe dich auch in Ordnung, Pommerle, inzwischen habe ich das Vöglein versorgt.«

Sehr rasch stellte sich das kleine Mädchen wieder in der Küche ein. Die gute Tante hatte inzwischen den Sperling in ein Körbchen gesetzt, mit einer Decke zugedeckt und meinte, es sei nun das richtigste, man lasse das Tierchen in Ruhe.

»Sobald er wieder trocken ist, lassen wir ihn fliegen.«

»Wollen wir ihm nicht etwas zu fressen geben?«

»Er ist viel zu verängstigt, Pommerle, jetzt frißt er nichts. Er fühlt sich jetzt schwach und braucht nur Ruhe.«

Pommerle eilte schon wieder davon, um wenige Augenblicke später mit einer Flasche Kölnischen Wassers wieder zu erscheinen.

»Nur mal riechen soll es dran. Wenn es schwach ist, tut es ihm gut.«

»Laß das Vöglein hübsch in Ruhe, mein Kind.«

»Aber die Frau Möller hat auch neulich dran riechen müssen, als sie schwach war.«

»Das ist etwas ganz anderes, der Vogel braucht nur Ruhe.«

Als Frau Bender nach einer Weile wieder in die Küche kam, saß Pommerle noch immer neben dem Körbchen.

»Wir wollen den Vogel jetzt zudecken, daß er nicht umherflattert; dann wollen wir Abendbrot essen. Morgen früh ist dann das Tierchen wieder gesund. – So, nun komm zu Tisch, der Onkel wartet schon.«

»Und ich habe noch so viel zu erzählen. – Tante, kennst du den Harfen-Karle?«

»Freilich kenne ich den alten Mann.«

Während des Essens berichtete Pommerle von seinen heutigen Erlebnissen.

»Und da mußt du mal hingehen, Onkel, der hat 'ne Menge giftige Wurzeln und Blätter. Dann kannst du wieder ein Buch darüber schreiben.«

»Das können wir mal machen, Pommerle. Zum alten Harfen-Karle wollte ich schon lange mal gehen, bin nur noch nicht dazugekommen. Aber wir wollen ihn später einmal gemeinsam besuchen.«

Als man gegessen hatte, griff Pommerle nach den Tellern und Messern, räumte sie zusammen, so daß alles schon schön geordnet stand, als das Mädchen das Zimmer betrat. Erstaunt schaute Frau Bender auf die kleine Fleißige.

»Nanu, Pommerle, heute gar so emsig?«

Pommerle nickte, und dann begann es, allerdings in recht falschen Tönen, aber doch nicht ohne musikalisches Verstehen zu singen:

»Zur Arbeit, nicht zum Müßiggang,

Hat mich der Herr geschaffen.«

Mit leiser Zärtlichkeit strich Frau Bender dem Kinde über das Haar.

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