Читать книгу Die bekanntesten Kinder- & Jugendbücher - Magda Trott - Страница 25
Kindertränen
ОглавлениеUnter fröhlichem Lachen und Lärmen strömten die Kinder aus dem Schulhaus. Wieder einmal Ferien! Herbst- oder Kartoffelferien! – Besonders Pommerle strahlte, war ihm doch vom Onkel für die Herbstferien wieder ein kleiner Ausflug ins Gebirge versprochen worden.
Nur schade, daß der Spielgefährte, der Jule, diesmal nicht dabei sein konnte! Jule war seit dem ersten September bei Meister Reichardt in der Lehre, um das Tischlerhandwerk zu erlernen. Da konnte er nicht mehr fort. Er kam auch jetzt nicht mehr so häufig ins Haus des Professors, weil er tagsüber beschäftigt war. Seine Verpflegung erhielt er beim Meister, nur des Abends ging er heim.
Seit einigen Tagen war das aber auch anders geworden. Jules Mutter, die viel kränkelte, war wieder einmal ins Krankenhaus gekommen. Man sagte, es gehe ihr gar nicht gut, und Jule war daher vollständig zu Meister Reichardt übergesiedelt.
Ferien! – Pommerle packte die Schultasche an beiden Riemen und wirbelte sie in der Luft herum. Die fellbesetzte Klappe löste sich, und im nächsten Augenblick lagen Bücher, Hefte und Federkasten auf der Straße verstreut.
»O je!« sagte Pommerle erschrocken.
»Ist das eine Art, die Bücher herumzuwerfen?«
Ein vorübergehender Herr musterte das Kind vorwurfsvoll durch die Brillengläser. »Was stehst du müßig herum? Sammle die Sachen wenigstens auf!«
Schuldbewußt und niedergeschlagen machte sich Pommerle ans Werk. Es war doch zu schlimm, daß man immer, wenn man sich über etwas gar so sehr freute, gleich etwas Unangenehmes zu spüren bekam. Es war doch gewiß ein erfreuliches Ereignis, daß Ferien waren und daß man wieder ins schöne Riesengebirge wandern durfte.
Pommerle verzog das Gesichtchen wehleidig, als es sah, daß einige Hefte starke Spuren von Straßenschmutz trugen. Das war nun wieder einmal Kinderpech. Die Tante würde sehr ärgerlich darüber sein. In Zukunft wollte Pommerle ein wenig vorsichtiger mit seinen Schulsachen umgehen.
Nun ging es in schnellem Laufe heim. Pommerle öffnete die Gartenpforte und wollte schnell ins Haus huschen, als es seinen Namen hörte.
»Pommerle!«
Das kleine Mädchen blieb stehen. Hinter der großen Hecke drüben schaute der Kopf Jules hervor. Das Antlitz des kleinen Mädchens strahlte. Es freute sich immer, wenn es den älteren Gespielen sah.
»Jule!« rief es erfreut.
»Sei still, komm hierher, mich darf keiner sehen.«
Gehorsam huschte Pommerle hinter die Hecke und schaute fragend den Knaben an.
»Kannst du heute nachmittag mit mir in den Wald gehen? Oder zu den Bobersteinen? Wir können aber nicht zusammen hingehen, ich habe dir was zu sagen.«
»So sag es doch gleich, Jule.«
»Nein, das ist zu lang.«
»Warum stehst du denn hinter der Hecke?«
Jule scharrte mit dem Fuße im Kies herum. »Das erzähle ich dir alles später. Kommst du?«
»Ich muß zuerst die Tante fragen. Wenn ich darf, komme ich.«
»Nee, fragen darfst du nicht, sie brauchen es nicht zu wissen, daß ich da bin.«
»Warum sollen sie es nicht wissen, Jule?«
»Das erzähle ich dir später.«
Pommerle überlegte. »Wir haben heute Ferien bekommen, da darf ich vielleicht nachmittags weit spazierengehen.«
Ein langgezogener Seufzer kam über Jules Lippen. »Du hast Ferien, und ich muß immerzu arbeiten, immerzu, von früh bis abends. Dann zankt der Meister, und – und – nun kommt auch noch die andere, die wird auch immerfort aufpassen und – wenn ich doch nichts mehr recht mache – wenn ich doch kein richtiger Tischler werde – du, Pommerle, heute nacht ist mir der Rübezahl erschienen.«
»Der Rübezahl?«
»Er hat mir gesagt, ich würde mal ein reicher Mann werden. Dann hat er mich auf einen hohen Berg geführt und an ein großes Wasser. Na, kurz heraus, Pommerle – ich will nach Amerika!«
»Was willst du denn in Amerika?«
»Ich habe es auch vom Meister gehört, er hat erzählt, dort sind viele Leute reich geworden, dort liegt das Geld nur so herum.«
Pommerle hob aufmerksam den Kopf. »Das wird sein wie im Hausberg. Dort kann man sich auch die Taschen vollstopfen.«
Jule neigte seine Lippen zu Pommerles Ohr.
»Ich will heute nacht auch nach dem Hausberg gehen. Wenn mir der Rübezahl versprochen hat, daß ich reich werde, zeigt er mir vielleicht den Eingang.«
»Heute nacht? Jule, fürchtest du dich denn nicht?«
»Natürlich fürchte ich mich, sehr sogar! Aber ich will nicht länger bei Meister Reichardt bleiben. Ich will nach Amerika, und dazu brauche ich Geld.«
Pommerle faßte nach Jules Hand. »Bleib doch lieber hier, Jule. Amerika soll so weit weg sein.«
»Nein, ich bleibe nicht«, erwiderte der Bursche und stampfte trotzig mit dem Fuße auf den Boden. »Ich gehe auch nicht mehr zum Meister zurück. Einen faulen Schlingel hat er mich geheißen. Nun kommt auch noch seine Tochter, die soll ebenfalls auf mich aufpassen. In der Werkstatt soll sie sitzen. Nein – nein – nein.« Jules Stimme wurde immer weinerlicher. »Ich gehe nach dem Hausberg, hole mir Geld und fahre nach Amerika.«
»Wollen wir nicht zuerst mal den Onkel fragen?«
»Na, das wäre ja noch schöner! Du darfst keinem Menschen etwas davon sagen. Wenn ich erst drüben in Amerika bin, schicke ich dir viel Geld, dann kommst du nach.«
»Und Onkel und Tante auch?«
»Nein, wir zwei ganz allein. Mach doch kein so dummes Gesicht, Pommerle. Der Rübezahl ist mir heute nacht erschienen.«
»Das hast du geträumt, Jule.«
»Nun ja, Träume gehen doch in Erfüllung.«
»O nein«, lachte Pommerle schallend auf. »Ich habe auch geträumt, es ist ein großer Fisch gekommen, der hat meine Puppe gefressen und den schönen Gummifrosch. Dann habe ich nachgesehen, und da war alles noch da. Der Onkel sagt, die Träume sind nur Geschichten, die uns der Himmel im Schlafe schickt, daß wir uns in der Nacht nicht langweilen.«
»Ach was«, meinte Jule unwillig. »Der Rübezahl meint es gut mit mir. Ich gehe nach Amerika.«
»Der Rübezahl«, meinte Pommerle nachdenklich, »der Rübezahl ist doch nur ein Sagenmann. Vor vielen hundert Millionen Jahren mag er ja in den Bergen herumgestiegen sein. Dann ist er gestorben und zur Sage geworden.«
»Unsinn!« brauste der Jule auf. »Wirst ja sehen, wie mir der Rübezahl hilft.«
Nachdenklich schaute das kleine Mädchen vor sich nieder. Wenn der Jule nicht mehr zu seinem Meister zurückgehen wollte, würde sich der Meister sehr wundern und ihn suchen lassen. Pommerle hatte sich auch einmal im Gebirge verlaufen. Da hatten viele Menschen nach ihm gesucht. Der Meister würde dann in großer Angst sein.
»Geh doch lieber zu deinem Meister zurück, Jule. Dann wirst du ein tüchtiger Tischler und auch sehr reich. Der Meister Reichardt ist doch auch reich.«
»Mit dir ist heute gar nichts los. Wenn du eben nicht mitmachst, bleibst du hier. Du hast immerfort Ferien, aber ich soll nur arbeiten. Und wenn ich doch nichts recht mache –«
Der jämmerliche Ton, in dem diese Worte gesagt wurden, schnitt Pommerle ins Herz.
»Mir machst du alles recht, Jule. Und wenn du eben nach Amerika willst, dann geh nur hin. Aber kommst du bald wieder?«
»Das weiß ich nicht.«
»Deine Mutter kann doch aber nicht allein hierbleiben?«
Ein Schatten glitt über das Gesicht des Knaben. »Die Mutter ist immerzu krank. Mit der kann ich nicht viel reden. Sie ist nicht daheim, ich wohne jetzt beim Meister, und – da ist doch keiner, mit dem ich so reden kann wie mit dir.«
»Komm mit zum Onkel oder zur Tante, Jule. Vielleicht schenkt sie dir ein blankes Fünfmarkstück, daß du nach Amerika fahren kannst. Dann brauchst du nicht heute nacht zum Berg zu gehen.«
»Ich habe es dir doch schon mal gesagt, daß deine Tante nichts wissen darf.«
Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, noch immer sprach Jule von seinen abenteuerlichen Plänen. Bis plötzlich Pommerle vom Flur des Hauses die Stimme der Tante hörte.
»Wenn ich nur wüßte, wo das Kind bleibt!«
»Jule, ich muß nun gehen, sie warten schon mit dem Mittagessen. Jule, lieber Jule, komm doch mit!«
»Du darfst nichts sagen, daß ich hier war, keiner darf es wissen.«
Dann war der Platz hinter der Hecke leer, Jule war davongelaufen.
Pommerle befand sich in einem Zwiespalt. Es vertraute so gern der Tante alles an, was es auf dem Herzen hatte. Doch der Jule hatte verboten, von der Zusammenkunft zu reden. Nun fragte die Tante sogar noch, warum sich das Kind heute so sehr verspätet habe.
Pommerle stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte der Tante ins Ohr: »Ich darf es keinem sagen, daß ich mit einem Jungen im Garten gewesen bin. Er hat mir gesagt, ich muß stille sein.«
Es dauerte gar nicht lange, da ahnte Frau Bender, wer dieser Knabe gewesen sei. Sie fragte Pommerle nicht weiter darüber aus, wunderte sich auch nicht über dieses Zusammentreffen, da sie glaubte, daß Jule in seiner Mittagsstunde auf Pommerle gewartet und mit ihm geplaudert habe. Erst am Abend, als das Kind immer wieder fragte, ob es gefährlich sei, nachts am Hausberg spazierenzugehen, wurde Frau Bender aufmerksam.
»Ich glaube nicht, daß jemand nachts am Hausberg spazierengeht.«
»Doch, Tante, heute nacht geht einer dort spazieren.«
»Wer denn?«
Wieder überlegte Pommerle. Das hatte der Jule nicht verboten zu erzählen. Aber ehe die Antwort kam, tönte die dunkle Stimme eines Mannes durch das Haus. Frau Bender wurde aufmerksam.
Das war doch Meister Reichardt! Sie ging hinaus und ließ den Tischler eintreten.
»Ich wollte nur fragen, gnädige Frau, ob sich der Jule heute hier sehen ließ. Der Junge ist mir heute früh fortgelaufen, hat sich zum Mittagessen nicht eingestellt und ist auch nach Feierabend nicht zurückgekommen. Seine Kammer ist leer.«
»Der Jule ist heute mittag in unserem Garten gewesen.«
»So, ich habe ihn heute früh wegen einer Unvorsichtigkeit ausgescholten. Schon gestern hat er allerlei Dummheiten gemacht. Er ist ja ein ganz guter und anstelliger Bengel, aber wenn er seinen Eigensinn bekommt, ist nichts mit ihm anzufangen. Wo mag er nur hingelaufen sein?«
Pommerle hörte die Worte des Meisters. Sein Herz klopfte bis in den Hals hinauf. Durfte es den Jule verraten? Sollte es sagen, daß der Jule heute nacht in den Hausberg gehen wollte, um Geld zu holen und nach Amerika zu fahren? Noch schwieg der Kindermund.
»Ich denke, Meister Reichardt, der Jule wird sich zum Abend wieder einfinden. Sollte er zu uns kommen, werden wir ihn sofort zu Ihnen bringen.«
Abends, kurz vor zehn Uhr, Pommerle lag schon lange in seinem Bettchen und schlief, schickte Meister Reichardt nochmals zu Professor Bender, um nach Jule zu fragen. Aus dem Krankenhaus war die Botschaft gekommen, daß sich der Zustand der Mutter Jules plötzlich verschlimmert habe. Der Knabe sollte hinkommen.
»Wo mag der Bengel nur stecken?« sagte Professor Bender. »Ich kann dem Meister keine Auskunft geben.«
»Vielleicht wäre es gut«, meinte die gutherzige Frau Bender, »wenn ich zu Frau Kretschmer hinginge.«
Mutter Kretschmer, wie man sie in Hirschberg nannte, hatte jahrelang Zeitungen ausgetragen und war fast allen gut bekannt. Sie war immer eine stille und ruhige Frau gewesen, die sich und ihr Kind mühsam durchbrachte. Sie empfand für Benders herzliche Dankbarkeit, weil sich der Professor immer des Julius angenommen hatte, und weil er es auch gewesen war, der dem Knaben die Lehrstelle verschafft hatte.
»Wenn es mit Mutter Kretschmer so schlecht geht, will ich heute noch nach ihr sehen.« Schon zog sich Frau Bender den Mantel an und verließ nach wenigen Minuten die Villa. Sie bat noch, man solle den Jule sofort nachschicken, falls er sich heute abend doch noch sehen lasse.
Mit Mutter Kretschmer ging es zu Ende. Wohl hörte sie noch die freundlichen Worte, die Frau Bender an die Sterbende richtete, wohl blickten die halbgebrochenen Augen nochmals suchend nach der Tür.
»Der Jule –«
»Der Jule wird bald hier sein, Mutter Kretschmer«, tröstete Frau Bender. »Bleiben Sie ganz ruhig liegen, ich bin bei Ihnen und verlasse Sie nicht.«
»Verlassen Sie auch den Jule nicht, er soll ein ordentlicher Mensch, ein tüchtiger Handwerker werden – er soll seine Mutter lieb behalten.«
»Nicht so viel reden, Mutter Kretschmer. Der Jule wird gewiß ein braver Mann werden. Sie dürfen jetzt nicht so viel reden, recht ruhig liegenbleiben.«
Eine zitternde Hand tastete sich zu der Frau Benders.
»Mein Jule, mein lieber, guter Junge!«
Zehn Minuten später war das Lebenslicht der alten Frau erloschen. Friedlich ruhte Mutter Kretschmer in den Kissen, Frau Bender drückte der Entschlafenen die Augen zu. Wie schmerzlich würde es für Jule sein, wenn er hörte, daß die Mutter in ihrer letzten Stunde immer wieder nach dem Sohne ausgeschaut hatte, der nicht gekommen war.
Am Morgen des nächsten Tages fragte man bei Meister Reichardt an, ob sich der Jule eingefunden habe. Niemand hatte ihn gesehen. Pommerle hörte auch davon, es vernahm auch, daß Frau Kretschmer gestorben sei, und eine unerklärliche Angst legte sich auf das Herz des Kindes.
»Er hat mir gesagt, ich darf nichts verraten, aber er ist gestern nacht in den Hausberg gegangen, um Geld zu holen. Er will nach Amerika gehen.«
Professor Bender und seine Frau forschten weiter, und Pommerle erzählte nun alles. Tiefe Trauer bemächtigte sich Frau Benders. An dem Tage, an dem der Knabe sich mit schlechten Gedanken trug, an dem er seinem Lehrmeister ausreißen wollte, war seine Mutter gestorben. Noch in ihrer letzten Stunde hatte sie gehofft, daß der Jule ein tüchtiger Mensch, ein fleißiger Handwerker werden würde. Nun war sie tot, und wenn der Jule wiederkam, hatten sich die Lippen seiner Mutter für immer geschlossen. Niemals würde er mehr ein liebevolles Wort aus Muttermund hören.
Aber auch Pommerle war tief niedergeschlagen. Dem Jule war die Mutter gestorben. Das war dasselbe wie damals, als ihm der Vater genommen war. All der Schmerz und das Leid, das Pommerle damals durchlebt hatte, erwachte erneut in dem Kinderherzen. Pommerle ging in sein Zimmerchen, legte sich die Puppe auf den Schoß, nahm den Gummifrosch in den Arm; dann tropfte Träne auf Träne aus den Kinderaugen.
»Vater, Vater! Jule, nun hast du keine Mutter mehr und keinen Vater, nun ist sie tot, die gute Mutter Kretschmer. Ich möchte an die Ostsee!«
Professor Bender entdeckte am Mittag den Jule, der sich gerade nach dem Geräteschuppen des Benderschen Hauses schlich. Dort wollte der übermüdete Knabe ausruhen. Schweigend nahm der Professor den Knaben am Arm, führte ihn ins Haus, hinein in sein Zimmer.
Frau Bender wurde erst aufmerksam, als sie wildes Kinderweinen hörte. Sie horchte, kam näher und hörte den Jule.
»Tot ist sie!«
Da ging sie hinein ins Zimmer, nahm den Knaben in die Arme und drückte ihn fest an sich.
»Nun laß dir sagen, mein liebes Kind, was mir deine Mutter in ihrer letzten Stunde zuflüsterte. Sie hat sehr nach dir verlangt, nach ihrem lieben, guten Jule. Wärest du Meister Reichardt nicht fortgelaufen, hättest du ihr zum Abschied die Hand drücken dürfen. Aber du warst nicht da. Jule, deine tote Mutter erwartet von dir, daß du ein tüchtiger Mensch, ein fleißiger Handwerker werden sollst.«
»Ich will zur Mutter!« Das war nicht mehr der fünfzehnjährige Lehrling, es war ein hilfloser Knabe, der plötzlich erkannte, daß ihm der gestrige Tag das Beste, was es auf der Erde für ihn gab, geraubt hatte. »Ich will zur Mutter!«
»Du wirst zuerst etwas essen, Jule, dann gehen wir zusammen hin.«
Aber der Knabe aß nichts. Die Tränen strömten ihm über die Wangen. Er versuchte, zwar einige Bissen hinunterzuwürgen, es ging nicht. Nochmals schaute Frau Bender nach Pommerle. Auch hier ein weinendes Kind.
»Komm zum Onkel, mein Pommerle. Der Jule geht jetzt mit mir zu seiner Mutter.«
»Ich möchte zum Vater!«
»Sei vernünftig, mein liebes Kind, der Onkel wartet schon auf dich.«
Sie ging und barg das verweinte Köpfchen an der Brust des treuen Beschützers. – –
Da stand nun der Jule vor der entschlafenen Mutter, würgte und schluckte die immer neu hervorbrechenden Tränen herunter.
Endlich mahnte Frau Bender leise:
»So, mein liebes Kind, nun gib noch einmal deiner Mutter die Hand, ihre letzten Worte waren ein Segen für dich, ihr letzter Wunsch war der, daß du gut und brav werden sollst. Vor einiger Zeit hast du Professor Bender versprochen, du wolltest ein braver Handwerker werden. Du hast dein gegebenes Wort bisher schlecht gehalten, Jule. Ich denke, nun wird es anders werden. Ich weiß, daß die Lehrzeit eine schwere Zeit ist. Besonders für dich, der du daran gewöhnt bist, frei herumzustreifen, für dich ist das Stillsitzen eine schwierige Aufgabe. Aber schau die Lehrzeit mit frohen Augen an, denke an deine gute Mutter, denke auch daran, daß sie segnend auf dich herniederblickt. Nun sieh mich einmal an, Jule, und sage mir ehrlich: Wirst du wieder zu Meister Reichardt zurückkehren und fleißig sein?«
»Ich will ein tüchtiger Handwerker werden!« stieß Jule unter heftigem Schluchzen hervor. Dann wandte er sich wieder der toten Mutter zu, und wieder klang es leise und kläglich: »Ja, ich will ein tüchtiger Handwerker werden.«
Drei Tage später trug man Mutter Kretschmer zu Grabe.
Jule war merkwürdig gefaßt. Nur von Zeit zu Zeit kam ein Schluchzen aus seiner Brust. Aber wenn er dann die liebevollen Hände Frau Benders fühlte, klammerte er sich fest an sie, als könne sie ihm ein wenig das Verlorene ersetzen.
Meister Reichardt hatte Jule ohne jeden Vorwurf wieder aufgenommen. Der Tod der Mutter hatte einen tiefen Eindruck auf den Knaben gemacht. Jule nahm sich nach Kräften zusammen. Er war anfangs sehr still und in sich gekehrt, mitunter kam es vor, daß er ganz plötzlich das Handwerkszeug fortwarf und aus der Werkstatt lief. Einmal war ihm der Meister nachgegangen, hatte den weinenden Knaben im Hofe gefunden und war schweigend wieder zurückgegangen. Es war wohl am besten, wenn Jule diese seelischen Erschütterungen allein durchkämpfte.
Professor Bender hatte die Vormundschaft über den Knaben übernommen. Es war mit Meister Reichardt ausgemacht worden, daß Jule die Sonntage im Benderschen Hause verbrachte.
Pommerle schien sich noch inniger an Jule angeschlossen zu haben. Die Kinderaugen hingen mit rührender Zärtlichkeit an dem großen Spielgefährten, und manches Stück Schokolade, mancher Apfel wurden ihm zugesteckt; dann freute sich Pommerle, wenn über Jules Gesicht ein Lächeln ging.
Waren die beiden Kinder zusammen, sprachen sie oft von den toten Eltern.
»Keiner ist mehr da«, sagte Jule, »der so lieb zu mir spricht wie sie. Sie hat mich so oft gestreichelt. Sie hat mich ihr Julchen genannt, nun ist sie tot.«
»Ich will dich immer Julchen nennen und dich immerzu streicheln, Jule. Ich will so gut zu dir sein wie deine Mutter.«
»Ja, aber deswegen bist du doch nicht meine Mutter. Jetzt weiß ich erst, wie gut sie war. Ich war auch oft häßlich zu ihr. Wenn sie nochmals wiederkäme, ich wollte niemals garstig zu ihr sein.«
An einem der nächsten Sonntage legte Pommerle vor den Freund ein aufgeschlagenes Buch hin.
»Ich habe ein schönes Gedicht gefunden.« Dann lasen sie zusammen die Verse:
»Wenn du noch eine Mutter hast,
So danke Gott und sei zufrieden,
Nicht jedem auf dem Erdenrund
Ist dieses hohe Glück beschieden.«
Pommerle erschrak, als Jule in dem schönen Gedicht nicht den Trost fand, den es erwartet hatte. Im Gegenteil, Jule legte die Arme auf die Tischplatte und begann heftig zu weinen.
Immerfort strichen die Kinderhände über sein Haar, immerfort klang es zärtlich von Pommerles Lippen:
»Julchen, aber Julchen, weine doch nicht, ich habe doch auch keine Mutter, und mein Vater ist auch gestorben. Julchen, Julchen, ich hole dir ein Stück Schokolade.«
So trugen in den nächsten Wochen zwei Kinder gemeinsam ein Leid. Allmählich legte sich der große Schmerz in Jules Herzen, nur stille Wehmut blieb darin zurück.
Da der November noch schöne Tage brachte, kündete Professor Bender seinem Mündel und seiner Pflegetochter an einem Freitagabend an, daß man morgen nachmittag nochmals in die Berge wolle. Meister Reichardt hatte sich bereit erklärt, Jule schon am Sonnabend gegen Mittag zu beurlauben; man wollte erst am Sonntagabend wieder zurückkehren, konnte also eine größere Wanderung unternehmen.
Jules Gesicht strahlte auf, als er von diesem Plan hörte.
»Na, Jule, freut es dich?« fragte Professor Bender.
Statt einer Antwort preßte der Knabe heftig die Hand seines Vormundes. Er hatte es keinem verraten, daß er große Sehnsucht im Herzen trug, wieder einmal in die Berge zu gehen, eine Wanderung zu machen.
»Da du in den letzten Wochen so brav gearbeitet hast, mein Junge, gibt es eine Belohnung. Dann schmeckt die Arbeit wieder doppelt gut.«
Auch Pommerle machte Luftsprünge vor Freude.
»Gehen wir hoch 'rauf, bis auf die Schneekoppe?«
»Nein, mein kleines Mädelchen, das geht jetzt nicht. Das können wir nur im Sommer machen. Trotzdem wirst du viel Schönes zu sehen bekommen.«
»Aber auf einen hohen Berg gehen wir doch, Onkel?«
»Ein gutes Stück steigen wir aufwärts, so weit wir kommen.«
»Es wäre schön, wenn wir auf einen ganz hohen Berg gingen.«
»Warum denn, Pommerle?«
»Ich denke mir, Onkel, daß der Jule sich dann besser mit seiner Mutter unterhalten kann, die oben im Himmel ist. Wenn er ganz laut zu den Wolken hinaufschreit, daß er so fleißig ist, wird sie es schon hören.«
»Das braucht Jules Mutter nicht erst zu hören, das sieht sie.«
»Wenn ich an der See bin, Onkel, dann höre ich durch das Wasser den Vater sprechen. Dann rauschen die Wellen, und ich höre alles, was er mir sagt. Vielleicht hört der Jule seine Mutter auch auf dem hohen Berge.«
»Wenn man seinen Vater und seine Mutter im Herzen hat, mein geliebtes Kind, hört man ihre Stimmen im Waldesrauschen, an der See, im Winde und überall. Und der Jule hat sein totes Mütterchen fest und tief im Herzen.«
»Und ich meinen Vater.«
»Ja, Pommerle, und so soll es immer bleiben. Du kennst ja das Gebot, das uns sagt, du sollst Vater und Mutter ehren, daß es uns wohlergehe. Auch wenn Vater und Mutter tot sind, muß man sie ehren und lieben, wie es der Jule jetzt zeigt, indem er so fleißig und ohne zu murren arbeitet.«
Pommerle nickte dazu.