Читать книгу Die bekanntesten Kinder- & Jugendbücher - Magda Trott - Страница 29
O du fröhliche ..
ОглавлениеPommerle stand in der Küche neben Anna, dem Hausmädchen, und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Anna, strick' schnell!«
Die Nadeln klapperten in der Hand des gutmütigen Mädchens, das Pommerles Strumpf vorhatte und eiligst daran arbeitete.
»Kannst du nicht noch schneller machen? Der Jule wird gleich kommen, dann klingelt's, und wir gehen in die Weihnachtsstube.«
»Fertig wird der Strumpf doch nicht, Pommerle.«
»Aber es fehlt wenigstens dann nur ein Stückchen. Wenn du recht, recht schnell strickst, und wenn die Tante noch sehr viele Sachen in der Weihnachtsstube aufbaut, dann kannst du ihn vielleicht doch noch fertigmachen.«
»Wo denkst du hin, Pommerle! Es fehlt doch noch das ganze Stück für die Zehen. Ich bin noch nicht einmal oben beim Abnehmen.«
»Vielleicht könntest du ihn ein bißchen kürzer machen, er dehnt sich doch.«
»Nein, Pommerle, wenn man etwas schenkt, muß es ordentlich sein. Du erzählst dem Onkel von den Hündchen, die den fertigen Strumpf zerrissen haben, dann nimmt er es nicht übel.«
»Sabine hat auch so fleißig gestrickt. Oh, die Sabine bekommt auch von mir etwas sehr Schönes.«
»Wer weiß, ob sie sich darüber freuen wird?«
»Natürlich freut sie sich darüber! Jule würde sich auch über eine Mundharmonika mächtig freuen. In den Ohren hat die Sabine keinen Schaden. Sie hört alles, wenn sie tüchtig bläst. Oh, sie wird sich mächtig freuen!«
»Ja, ja, es ist ein Glück, daß wir heute Weihnachtsabend haben. Seit du diese entsetzliche Mundharmonika gekauft hast, hat man im Hause keine ruhige Minute mehr.«
»Ich will sie holen«, lachte das Kind. »Ich blase, und du strickst. Der Jule hat doch gesagt, mit Musik geht alles besser. – Kannst du mir nicht ein bißchen sagen, was die Tante hinter der Tür alles für mich aufbaut?«
»Eine Rute.«
»Hahaha«, lachte Pommerle, »eine Rute ist doch nur für ganz kleine Kinder!«
»Einen großen Zettel in großem Rahmen, so wie ein Bild. Das sollst du dir über dein Bett hängen. Auf diesem Zettel steht: ›Sei ordentlich‹.«
»O je«, meinte Pommerle kleinlaut, »ich denke, ich bekomme doch noch was anderes. Weißt du, Anna, was ich furchtbar gern haben möchte? Einen Roller.«
»Was willst du denn damit anfangen? Jetzt liegt doch draußen alles voll Schnee. Da kannst du den Roller gar nicht brauchen.«
»Ich fahre damit durch die Stuben.«
»Na freilich, da werde ich dich jagen. Ein Roller ist doch nichts für die Zimmer.«
»Wenn ich ihn erst habe, werden wir uns schon darüber einigen«, meinte die Kleine. »Anna, bist du nun bald fertig?«
Die Klingel schlug an.
»Das ist der Jule!« rief Pommerle erfreut, eilte in den Hausflur hinaus, um zu öffnen.
Es war wirklich der Jule. Pommerle stemmte die Arme in die Hüften und schaute den Spielgefährten lange an. Jule hatte sich heute sehr fein gemacht. Am heutigen Heiligen Abend war um fünf Uhr Schluß mit der Arbeit gewesen. Zur Bescherung war der Jule zu Benders eingeladen; nun war der junge Lehrling gekommen und glühte vor Erwartung. Daß er von Benders beschenkt werden würde, stand natürlich fest, sonst hätte man ihn doch nicht eingeladen.
»Oh, bist du fein!« staunte das kleine Mädchen.
Den dunkelblauen Anzug trug der Jule freilich nicht oft. Das war sein bestes Stück, das mußte geschont werden. Sogar einen Schlips hatte er umgebunden, genau so wie der Onkel.
»Du gefällst mir«, sagte Pommerle. »Au, Jule, ich habe dir was Feines zu Weihnachten gemacht.«
»Und ich schenke dir das Allerschönste, was es gibt.«
»Was denn?«
»Es sieht grau aus.«
»Einen Handball?«
»Nein. – Es hat Beine und einen Schwanz.«
»Wird wohl eine Maus sein«, meinte Anna. »Der Jule hat doch nichts als Flausen im Kopfe.«
»Sag' doch, was schenkst du mir?« drängte Pommerle.
»Ich schenke es nur dir«, meinte Jule. »Ich möchte es eigentlich gern selber behalten, aber es geht nicht. Ich muß es fortgeben. Der Meister hat einen Hund, und der kann das, was ich dir schenke, nicht leiden.«
»Schenkst du mir – schenkst du mir dein Grauchen?« Pommerle zitterte vor Erregung. Der Jule hatte eine große, graue Katze, oh, eine so wunderschöne Katze. Als seine Mutter noch lebte, hatte er schon immer von dem Grauchen erzählt. »Schenkst du mir das Grauchen?«
»Ja, nicht gern, aber ich schenke es dir doch, weil du es eben bist. – Schenkst du mir auch was?«
»Ja, auch was Graues.«
»Was ist es denn?«
»Ich verrate gar nichts, es ist doch eine Überraschung. Aber wenn du tüchtig an die Hände frierst, wird es dich wärmen.«
»Ach so«, meinte Jule gedehnt, »Handschuhe ziehe ich aber nie an, daraus mache ich mir nichts.«
»Ach was, Handschuhe, es ist was viel Schöneres.«
»Dann werden es eben Strümpfe sein.«
»Aber, Jule, die zieht man doch nicht über die Hände. – Anna, strick' schnell, es wird gleich losgehen mit der Bescherung.«
Jule stellte sich neben Anna, schaute dem fleißig strickenden Mädchen zu.
»Sie soll es noch fertigmachen«, sagte Pommerle. »Ich möchte so gern, daß es fertig wird, aber es fehlt das untere Ende.«
»Steck doch einen anderen Strumpf durch«, meinte Jule.
»Wie denn?«
»Wenn ich die Strümpfe sehr zerrissen hatte und dann alle Zehen 'rausguckten, habe ich ein anderes Paar daruntergezogen. Da sah man nicht mehr, daß Löcher darin waren.«
»Anna, wollen wir uns ein Paar Strümpfe holen und sie durchstecken?«
»Das ist ja alles Unsinn«, meinte Anna. »Wir werden doch den guten Onkel nicht zum Heiligen Abend betrügen.«
»Geht's denn noch immer nicht los?« fragte der Jule ungeduldig. »Ich denke, ihr wolltet um sechs Uhr bescheren. Nun ist es schon sechs.«
»Komm, wir wollen mal klopfen gehen.«
Beide schlichen an die geheimnisvolle Tür. Pommerle klopfte zuerst leise, dann immer lauter an.
»Nun ist es sechs Uhr, nun muß es losgehen!«
»Nur Geduld«, klang es von innen heraus. »Ist der Jule schon da?«
»Ich warte schon so lange!«
»Nun, dann wartest du eben noch ein Weilchen, Jule. Singt inzwischen noch einige Weihnachtslieder, daß ihr sie nachher auch gut könnt.«
»Komm nur«, meinte das Kind seufzend. »Es nützt nichts. Wir wollen uns vor die große Uhr in der Wohnstube setzen und auf die Zeiger aufpassen. Dabei wollen wir was singen. – Anna, du strickst doch recht fleißig?«
Hand in Hand gingen die beiden Kinder ins Wohnzimmer hinüber und stellten sich vor die große Uhr, die schon fünf Minuten über sechs zeigte.
Pommerle lief ungeduldig im Zimmer umher. Die Ungeduld wuchs mehr und mehr. Schließlich begann es doch zu singen: »O du fröhliche, o du selige. – Jule, du sollst mitsingen!«
Gemeinsam begann man das Lied von vorn. Aber schon nach der ersten Zeile hielt Pommerle inne. »Was hast du denn eben gesungen, Jule?«
»Nun, das Weihnachtslied.«
»Sing doch mal allein.«
Da sang der Jule los: »O du fröhliche, o du selige, gabenbringende Weihnachtszeit.«
Das Kind lachte. »Du kannst ja nicht mal das Weihnachtslied. Ach, Jule, bist du dumm!«
»Wenn es nun nicht bald losgeht, trage ich meine Geschenke wieder nach Hause. – Weißt du was, Pommerle, bei mir ist eben jetzt Bescherung. Ich hole dir das Grauchen.«
»Wo ist es denn?«
»Nun, das habe ich auch schon der Frau Professor gebracht. Jetzt sitzt es auch in der Weihnachtsstube. Aber sie soll es mir wieder 'rausgeben.«
»Und meine Pulswärmer liegen auch auf deinem Platz.«
»Ach so, Pulswärmer. – Na ja, die kann ich gut brauchen.«
Gerade als die große Standuhr ausholte, um die erste Viertelstunde nach sechs zu schlagen, ertönte die Glocke, die die beiden Kinder und Anna, das Hausmädchen, in die Weihnachtsstube rief. Auch Frau Krause, die Aufwärterin, hatte sich inzwischen eingefunden, denn auch für sie war im Benderschen Hause ein Gabentisch aufgebaut worden.
Jule und Pommerle stießen mit den Köpfen in der Tür heftig zusammen, jeder wollte zuerst im Zimmer sein.
Da stand der große Weihnachtsbaum mit seinen strahlenden Lichtern, im Gold- und Silberschmuck. Zwischen den Zweigen leuchteten rote Äpfel und braune Pfefferkuchen. Während Jule mit den Augen seinen Platz suchte, stand Pommerle wie gebannt in den Anblick des schönen Baumes versunken. Was war das für eine Pracht! Sogar in diesem Augenblick dachte es kurz an Sabine. Sie sagte zwar, sie könne durch das Herz sehen, aber es war wohl doch nicht möglich, daß sie den Weihnachtsbaum in all seinem strahlenden Glanz erkannte.
Aber die Gedanken des Kindes wurden sehr bald abgelenkt durch das Freudengebrüll, das der Jule ausstieß.
»Oh, juhu – fein – das ist 'ne Kiste! Oh, Hurra! Jetzt geht es in die weite Welt. Gehört es wirklich mir? Mir ganz allein? Oh – oh – uff!«
Jule stand vor einem Fahrrad. Er strahlte vor Glück und Wonne. Es war kein neues, blitzblankes Rad, man sah es ihm an, daß es wohl schon oftmals benutzt worden war; aber der Jule kniete neben dem Rad nieder, streichelte die Speichen, die Pedale, alle Stangen; und ehe Professor Bender, der lächelnd dem Treiben des Knaben zusah, es hindern konnte, hatte sich der Jule aufgeschwungen. Er wollte sicherlich nicht fahren, aber in seiner Freude trat er auf die Pedale. Im nächsten Augenblick fuhr Jule geradeswegs in den Weihnachtsbaum hinein.
Herr und Frau Bender sprangen rasch hinzu, um ein Unglück zu verhüten. Es lief auch alles gut ab, obwohl der Baum bedenklich schwankte. Aber der Jule lag auf der Erde. Er war sichtlich erschrocken.
»Aber, Jule, was machst du denn?«
Der Knabe konnte vor Verwirrung nicht antworten. In seinen Gedanken tobte der Sturm der Freude: »Ich habe ein Rad, ich habe ein richtiges Fahrrad!«
Pommerle stand vor seinem Gabentisch und war ebenfalls überwältigt von all den schönen Geschenken. In einem Körbchen lag ganz ruhig eine große, graue Katze. Es schien, als ließe sie sich durch all den Glanz und Lärm nicht stören.
»Grauchen, mein liebes Grauchen!«
Doch lange konnte sich Pommerle mit dem Tier nicht aufhalten, denn vor dem Tische stand etwas, das dem Kinde ebenfalls helles Jubelgeschrei entlockte: der Roller.
»Oh – uh – herrlich!«
Und plötzlich rollte auch Pommerle durch das Zimmer und wurde noch im letzten Augenblick von den Armen des Onkels aufgehalten, sonst wäre der Weihnachtsbaum abermals in Gefahr gekommen.
»Darf ich jetzt gehen?« fragte Jule.
»Aber, Jule, wir haben noch nicht einmal ein Weihnachtslied gesungen.«
Er stand an seinem Rade und hielt es mit beiden Händen fest. Er schien wohl zu fürchten, daß man ihm diesen kostbaren Schatz wieder entreißen könnte.
»Nun wollen wir zuerst ein schönes Lied singen.«
»Darf ich dazu das Grauchen in den Arm nehmen?«
»Laß die Katze nur im Körbchen liegen, sie ist zu schwer für dich.«
Frau Bender setzte sich ans Klavier; man begann zu singen: »Stille Nacht, heilige Nacht.« Andächtig sang Pommerle mit, aber die erste Strophe war noch nicht beendet, als Jule schon wieder mit dem Rade gegen die Tür fuhr. Er hatte nochmals einen kleinen Aufschwung gewagt und bekam selbst einen Schreck, als das Fahrrad mit ihm davonlief.
Professor Bender hob warnend den Finger. Da stellte Jule beschämt das Rad an seinen Platz zurück.
Nachdem das Lied beendet war, meinte der Jule:
»Ich habe nun zuviel der Güte genossen, ich glaube, ich muß nun heim.«
»Nein, Jule, nachher essen wir alle zusammen Abendbrot.«
»Ich habe gar keinen Hunger, ich bin mächtig satt.«
»Ganz gleichgültig, wir bleiben heute abend zusammen.«
Dann kam Pommerle mit seinen Geschenken. Bei der Tante war es sehr stolz. Strahlend überreichte es ihr die neuerstandene kleine Kommode. Dann kam der Onkel an die Reihe. Erst gab Pommerle den einen Strumpf, dann hielt es den zweiten hin, wobei es den Arm über die Nadeln deckte.
»Einer sieht wie der andere aus, Onkel. Begucke dir nur den anderen recht genau.«
Der gutmütige Professor stellte sich auch tatsächlich so, als sähe er die Nadeln darin nicht. Er hatte von der Hundetragödie gehört und wußte um des Kindes Kummer.
Die Kleine hing geschickt den noch unfertigen Strumpf über die Tischkante, legte den anderen darauf und flüsterte Anna glückselig an:
»Du, er hat nichts gemerkt!«
Dann brachte Frau Bender für Pommerle einen reizenden geflochtenen Nähkorb.
»Sieh her, mein liebes Kind, den schenkt dir Sabine. Sie hat ihn selbst geflochten – für dich.«
»Oh, ist der herrlich! Nun kann ich den ganzen Tag nähen. Und wenn ich mit meinem schönen Roller einen Ausflug mache, setzen wir uns dann ins Grüne und nähen. – Wie schön wird das sein! Der Jule fährt auf dem Rade – und ich auf dem Roller immer neben ihm her.«
Jule hantierte schon wieder bedenklich mit seinem Fahrrad herum. Mit dem einen Fuß stand er ständig auf dem Pedal.
Professor Bender trat zu dem Knaben.
»Dein Meister hat mir in letzter Zeit viel Gutes von dir gesagt, mein lieber Junge. Da habe ich mir gedacht, daß ich solch einem braven Lehrling auch einmal eine recht große Freude machen will. Wie du siehst, ist das Rad nicht neu. Es ist mein eigenes Rad. Auf ihm habe ich so manchen schönen Ausflug unternommen. Es ist nicht so modern ausgestaltet wie die Räder, die die heutige Jugend fährt, aber das ist auch nicht nötig, Jule. Dir wird auch dieses Rad viele frohe Stunden bereiten. Kannst du dir erst dein Geld selber verdienen, dann darfst du dir ein schönes modernes Rad kaufen. Vom selbstverdienten Geld, mein Junge! Ich hoffe, daß du auch mit dem alten Rade zufrieden bist.«
Der Jule wußte nichts darauf zu antworten. Er war etwas verlegen, er war aber auch überglücklich, und, ohne zu wissen, was er tat, saß er schon wieder oben. Er fuhr den armen Herrn Professor kräftig an, daß dieser beinahe gestürzt wäre, wenn er sich nicht an der Lenkstange festgehalten hätte.
»Jule, Jule, du bist unverbesserlich! Aber das sage ich dir, wenn du mir im Zimmer etwas entzweifährst, nehme ich dir das Rad in den Weihnachtsfeiertagen fort.«
Erschrocken ließ der Jule das Rad los.
»Pommerle, um Himmels willen!«
Das Kind war mit dem Roller in den großen Spiegel gefahren, aber glücklicherweise nicht in die Scheibe, sondern nur an den Rahmen.
»Nun ist's genug«, sagte Frau Bender. »Roller und Rad werden nicht mehr angerührt. Wir gehen jetzt hinüber zum Essen. Aber vorher wird noch ein Weihnachtslied gesungen.«
Da klang das schöne Lied vom »Tannenbaum« auch schon durch das Zimmer. Der Jule hatte wenig Interesse für den geschmückten Baum, er blickte verzückt nach seinem Rade, während Pommerle glücklich das Grauchen und die neue Puppe abwechselnd streichelte. Der Jule mußte mehrfach ermahnt werden, mitzusingen. Das Fahrrad füllte seine Gedanken vollständig aus.
Dem Jule wollte es heute nicht recht schmecken, obwohl er Besseres erhielt als das, was er bei Meister Reichardt vorgesetzt bekam.
»Ob der Meister nicht auf mich warten wird?« sagte er. Der Meister wartete bestimmt nicht. Aber der Jule wollte zu gern das Rad probieren. Das Stillsitzen bei Tische war fürchterlich. Und plötzlich begann er unter dem Tisch taktmäßig zu treten. Er bildete sich ein, er sitze auf seinem wunderschönen Rade. Schneller, immer schneller.
Bum – bum – bum. Der erregte Jule schlug mit den arbeitenden Knien gegen die Tischplatte und kam durch diese Geräusche erst wieder zur Vernunft. Er wurde dunkelrot vor Verlegenheit.
»Ist das aber ein komischer Tisch«, meinte er, »so niedrig.«
Benders sagten nichts dazu. Nur als Pommerle plötzlich mit den Händen vom Teller ein Stückchen Fleisch nahm und in die Tasche verschwinden ließ, fragte die Tante:
»Was machst du denn da, Pommerle?«
»Ich will dem Grauchen nachher den Weihnachtsbraten bringen.«
»Und da steckst du das fettige Fleisch in die Kleidertasche?«
Das Kind holte das Stückchen Fleisch wieder heraus und legte es auf den Teller. »Nun ja, Grauchen kann auch vom Teller essen.«
Abermals schlug des Jules Knie dröhnend gegen den Tisch.
»Ich kann wirklich nicht mehr essen«, meinte der Knabe. »Ich bin bis oben in den Hals hinein vollgestopft.«
Aber er mußte warten, bis man fertig gegessen hatte.
»Nun möchte ich gehen, es wird sonst zu spät.«
»Meinetwegen, nun gehe«, meinte Professor Bender. »Wenn du den heutigen Abend nicht mit uns verleben willst, so gehe heim. Aber nicht mehr zu lange auf den Straßen bleiben und niemanden umfahren.«
Die Kinder drängten zurück ins Weihnachtszimmer. Professor Bender folgte ihnen, denn er hatte Sorge um den Weihnachtsbaum, den Spiegel und die anderen Möbel.
Jule griff nach seinem Rade. »Guten Abend.«
Er ging zur Tür.
»Was soll denn mit deinem bunten Teller werden, Jule?«
»Ach so –«
»Und mit den Pulswärmern und den Strümpfen? Und das Buch siehst du wohl auch nicht?«
»Das hole ich mir morgen ab. – Nun muß ich aber gehen.«
Er hatte die Zimmertür weit geöffnet und schob das Rad hinaus.
»Jule«; klang es hinter ihm her.
»Das hole ich mir alles morgen!« Der Knabe stand schon im Hausflur.
»Komm noch einmal zurück, Jule. Hast du nicht etwas vergessen, mein Kind?«
»Ich habe doch schon gesagt, daß ich mir das andere morgen hole.«
»Nein, Jule, du hast noch etwas anderes vergessen.«
Die Augen des Knaben glitten über den Gabentisch hinweg. Verständnislos schaute er auf den Professor.
»Ach, Jule, du bist doch ein recht undankbarer Knabe. Haben wir dir heute eine Freude gemacht?«
»Na und ob!«
»Und was tust du nun?«
»Ich fahre den ganzen Abend auf den Straßen spazieren«, klang es beglückt zurück.
»Ich lasse dich aber nicht eher fortgehen, Jule, bis dir eingefallen ist, was man tut, wenn man von einem anderen Menschen beschenkt wurde.«
Der Jule schlug plötzlich die Augen zu Boden. Dann faßte er nach der Hand des Professors und sagte stotternd:
»Wenn ich mich eben so furchtbar freue, habe ich an nichts anderes gedacht. Ich danke Ihnen auch sehr schön, Herr Professor, Ihnen auch – na, wo ist denn die Frau Professor? Und dir, Pommerle, danke ich auch. Das Pommerle hat sich ja auch noch nicht bedankt für das Grauchen.«
Das Kind eilte herbei und umschlang den Spielgefährten.
»Wenn auch das Grauchen jetzt bei uns wohnt, Jule, soll dir doch davon die Hälfte gehören. Ach, ich freue mich so!«
»Und ich danke auch schön für die Pulswärmer. Aber nun muß ich fort. Ich danke Ihnen wirklich sehr, Herr Professor. Und morgen komme ich wieder, da fahre ich her. – Ich danke Ihnen, daß ich fahren darf. Ja, wirklich, ich danke Ihnen. – Na, wo ist denn die Frau Professor? Ich will doch endlich losfahren!«
Tante Bender nahm den hochgeschossenen Lehrling in die Arme, klopfte ihm zärtlich auf die Schulter und sagte:
»Möge dir das Rad viel Freude machen, Jule. Nur sei nicht zu übermütig und nimm auf die Fußgänger auch Rücksicht. Betrage dich so, daß das Rad sich deiner nicht zu schämen braucht.«
»Ich werde immer ganz laut klingeln!«
Dann war der Jule fort. Er fuhr schon durch den Vorgarten, mußte an der Gartenpforte freilich absteigen, und ehe er die Straße erreicht hatte, vernahmen Benders noch laute Rufe, die stieß der Jule aus; er mußte seiner großen inneren Freude erst einmal Luft machen. Daß er an diesem Abend noch etwa zwanzigmal am Hause des Professors vorüberfuhr, das wußten Benders freilich nicht, und jedesmal, wenn er die Villa sah, riß der Jule die Mütze vom Kopf, schwenkte sie gegen das Haus und rief:
»Ich danke, ich danke!«
In der Weihnachtsstube war es durch das Fortgehen Jules stiller geworden. Professor Bender und seine Frau saßen auf dem Sofa und riefen ihr Pflegetöchterchen herein.
»Jetzt setze dich einmal zu uns, Pommerle. Der Onkel will dir von einer großen Weihnachtsfreude erzählen, die er uns allen dreien macht. Du wirst es noch nicht recht verstehen, aber du bist ein kluges Mädchen, du mußt jetzt gut aufpassen.«
»Bekomme ich noch was?«
»Ja, Pommerle, wir bekommen eine kleine Tochter, und du bekommst einen Vati und eine Mutti.«
»Einen Vati? – Einen Vater?« fragte das Kind mit bebender Stimme.
»Dein Vater und deine Mutter sind oben im Himmel. Da wurde uns ein Englein auf die Erde gesandt, gerade jetzt, zum Weihnachtsfeste, mit der Nachricht: ›Onkel Bender und Tante Bender, ihr seid immer so allein, und das Pommerle ist auch so allein und hat keine Eltern. Wollt ihr nicht die neuen Eltern vom Pommerle sein?‹«
Das Kind schaute von einem zum anderen.
»Wenn wir nun wollen, so können wir dich, kleines Pommerle, von jetzt ab als unser richtiges Kindchen annehmen. Bis jetzt bist du bei uns immer nur als unser Pflegetöchterchen gewesen. Sage mal, möchtest du nicht gern wieder einen Vati und eine Mutti haben?«
»O ja!«
»Dann wollen wir von heute an dein Vati und deine Mutti sein, nicht mehr Tante und Onkel, sondern dein zweiter Vater und deine zweite Mutter.«
»Solche Stiefeltern, wie sie die Ilse hat?«
»Eltern, die treu für dich sorgen wollen, mein Kind, die alle Elternrechte über dich haben. Das kannst du noch nicht verstehen. Aber das eine sollst du wissen, daß du in uns nun wieder deinen Vater und deine Mutter sehen sollst. Nun sage, mein liebes Kind, willst du uns von nun an ›Vati‹ und ›Mutti‹ nennen?«
»Vati – Mutti«, sagte Pommerle leise und überlegend, und nach einer Pause nochmals: »Vati – Mutti!« Und plötzlich schlang das Kind seine kleinen Arme um Tante und Onkel: »Vati – Mutti!« rief es laut. »O ja, ich will wieder einen Vati haben und eine Mutti, wie sie die Sabine hat. Sie hat mir gesagt: Kinder, die noch Eltern haben, die sind furchtbar glücklich. – Bleibt ihr nun immer mein Vati und meine Mutti, bis ich groß und alt bin?«
»Solange wir leben, wollen wir es dir sein.«
»Und der Jule?«
»Der Jule ist unser junger Freund, für den wir nach Möglichkeit sorgen wollen, Pommerle.«
»Vati – Mutti –, nun habe ich zu Weihnachten neue Eltern bekommen. Ich denke, das ist sehr schön. – Ach, Tante, daß du jetzt meine Mutti bist, ach, Tante, das ist herrlich!«
Gegen zehn Uhr mahnte Frau Bender zum Schlafengehen.
»Darf ich das Grauchen mitnehmen?« fragte Pommerle.
»Wir wollen das Grauchen nicht daran gewöhnen, daß es in deinem Zimmer schläft. Grauchen würde sich nicht glücklich fühlen, Grauchen bekommt ein schönes Lager, ganz nach seinem Geschmack.«
»Na ja«, meinte Pommerle, »da brauche ich in der Nacht nicht Angst zu haben, daß es das Kopfkissen zerreißt. – Oh, Tante Mutti, ich bin ja so glücklich! Ich habe nun einen Roller, ein Grauchen, eine Mutti, eine neue Puppe und einen Vati! Habe ich aber viel bekommen, viel mehr, als ich mir gedacht habe. Aber weißt du, Tante, ich habe doch immer ein bißchen gehofft, daß ich den Roller bekomme. Sage mal, freust du dich eigentlich über die Kommode?«
»Aber natürlich, die will ich mir nach den Feiertagen auf den Nähtisch stellen.«
»Freust du dich auch, Onkel Vati, über die neuen Strümpfe?«
»Ja, die werde ich sehr bald anziehen.«
»Warte lieber damit noch ein wenig, Onkel Vati. Erst wenn es ganz kalt geworden ist, kannst du sie anziehen.«
Als Pommerle im Bettchen lag, nahm es sich vor, recht bald den zweiten Strumpf für den neuen Vati fertigzustricken. Und noch im Einschlafen murmelte der kleine Mund:
»Ich bin ja so glücklich!«