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Pommerle wandert durch Rübezahls Reich

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Inhaltsverzeichnis

Freudestrahlend, voll froher Erwartungen hatte man in Hirschberg am Sonnabend mittag die Bahn bestiegen, um zunächst nach Warmbrunn zu fahren, weil Professor Bender dort einen kurzen Besuch zu machen hatte.

Pommerle und Jule wanderten mit der Tante durch den Ort. Bei dieser Gelegenheit begegneten ihnen mehrfach Damen und Herren, die in Rollstühlen saßen und von ihren Angehörigen gefahren wurden. Pommerle blickte den Kranken lange nach. Frau Bender mußte dem Kinde die Erklärung geben, daß man hier in Warmbrunn viele Leidende sehen könne, die das ganze Jahr über die heilkräftigen Bäder aussuchten, um von ihren Leiden befreit zu werden.

Man sah sich auch die großen Badeanstalten an, die das Kind voller Ehrfurcht betrachtete. Immer wieder hatte die kleine Wißbegierige allerlei Fragen zu stellen, Pommerle wollte wissen, woher es käme, daß man durch Bäder gesund werde. Es war für Frau Bender mitunter nicht ganz leicht, den Wissensdurst des kleinen Mädels zu stillen.

Es dauerte nicht lange, so gesellte sich der Professor wieder zu den Seinen. Mit der Talbahn ging es weiter nach Hermsdorf, von dort begann die Fußwanderung, denn man wollte über Agnetendorf nach Schreiberhau. Für heute war allerdings nur Agnetendorf das Ziel, dort wollte man übernachten.

Rüstig schritt man aus. Jule und Pommerle gingen strammen Schrittes vor Professor Bender und seiner Gattin her. Das Kind war nicht so gesprächig wie bisher. Es sah noch immer die Rollstühle mit den Kranken vor sich. Plötzlich fing es laut an zu singen. Es waren immer wieder zwei Zeilen, zu denen sich Pommerle die eigene Melodie gemacht hatte.

»Ich bin gesund und wohlgemut,

Und das ist wohl das größte Gut!«

Nachdem das Kind die beiden Zeilen etwa zwanzigmal gesungen hatte, sagte Jule:

»Warum singst du denn immerfort dasselbe?«

»Weil ich so froh und wohlgemut bin, daß ich nicht im Rollstuhl zu sitzen brauche, und daß ich bis nach Agnetendorf und noch viel weiter laufen kann.«

Selbstverständlich kam gar bald die Rede der beiden Kinder auf den Harfen-Karl.

»Dich hat der Himmel auch zur Arbeit und nicht zum Müßiggang erschaffen«, meinte das Kind ernsthaft. »Wer ein Meister werden will, der fällt nicht vom Himmel.«

»Man kann auch wohlgemut sein«, meinte Jule nachdenklich, »wenn man nicht gesund ist. Meinst du nicht auch, Pommerle?«

»Nein«, klang es energisch zurück. »Dann hat man das größte Gut nicht. Wenn ich immerzu in einem Rollstuhl sitzen müßte, wäre ich nicht wohlgemut.«

»Aber unsere Sabine ist doch wohlgemut.«

»Wer ist die Sabine?«

»Die Tochter von meinem Meister. Sie ist noch nicht lange aus Breslau zurück. Sie ist viel in der Werkstatt und sieht mir beim Arbeiten zu. Eigentlich sieht sie nicht, denn sie hat keine Augen, sie ist blind.«

Pommerle blieb ruckartig stehen. »Keine Augen hat sie?«

»Augen hat sie schon, aber die sind blind.«

»Und nun kann sie gar nichts sehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Jule nachdenklich. »Sie sagt, sie kann nicht sehen, und die Meisterin sagt es auch. Aber wenn sie in der Werkstatt sitzt und zu mir herüberblickt, kommt es mir doch manchmal vor, als ob sie mir zuschaue.«

»Was macht sie denn, wenn sie da sitzt?«

»Sie kann hübsche Körbchen flechten, ganz kleine.«

»Wenn sie aber doch nichts sieht?«

»Sie meint, sie fühlt es. So was hätte sie in Breslau gelernt.«

Wieder wurde Pommerle nachdenklich. »Wenn sie aber doch gar nichts sieht, kann sie denn da froh und wohlgemut sein?«

»Sie sagt, sie ist zufrieden.«

»Ach, Jule, kann ich die Sabine nicht mal sehen?«

»Freilich, mußt mich mal besuchen kommen.«

Weiter gingen die Kinder. Pommerle hob die Augen zu den grünen Tannen und zum blauen Himmel auf. Dann drehte sie sich um und lief zur Tante. Weit breiteten sich die Kinderarme aus.

»Ach, liebe Tante, ich kann laufen, springen, ich kann alles sehen, den blauen Himmel, die Berge, den Wald und die liebe See. Aber die Sabine soll gar nichts sehen können. Ach, Tante, ich bin so froh und wohlgemut, daß ich das größte Gut habe!«

»Hast recht, mein liebes Pommerle.«

Darauf erkundigte sich das Kind sehr eingehend nach der blinden Sabine. Es war schwer, zu glauben und zu fassen, daß ein junges, sechzehnjähriges Mädchen gar nichts von der schönen Welt sehen sollte, daß es trotzdem zufrieden war und Körbchen flechten konnte.

»Wenn du ein sehr gutes Zeugnis im Schreiben heimbringst«, sagte der Professor, »gehen wir in den nächsten Tagen zu Meister Reichardt in die Werkstatt. Dort sollst du Sabine kennenlernen.«

»Stößt sie sich nicht furchtbar oft, wenn sie nicht sehen kann, wo sie geht?«

»Blinde lernen ihre Umgebung sehr schnell kennen. Zunächst muß sie sich freilich zurechttasten.«

Da Pommerle gar zu gern wissen wollte, wie es sei, wenn man gar nichts sähe, schloß es die Augen. Vorläufig hing es freilich noch am Arm der Tante, da ging alles ganz gut.

Aber schließlich überkam es das Verlangen, sich auch einmal zurechtzutasten. Benders, die von Pommerles Absicht nichts ahnten, gingen ruhig des Weges weiter, bis sie plötzlich durch einen Wehruf aufmerksam wurden. Pommerle war über eine Baumwurzel gefallen und lag auf der Erde. Es rieb sich das aufgeschlagene Knie.

»Ich möchte doch nicht die Sabine sein«, sagte es kläglich. »Ich bin froh, daß ich die Gesundheit und das höchste Gut habe. Ach, es muß schrecklich sein!«

Das Schicksal der Blinden beschäftigte die Kleine noch immer, als man bei einbrechender Dämmerung schließlich Agnetendorf erreichte und in einem Gasthause Wohnung nahm. Pommerle kam sich wieder sehr stolz vor, als der Kellner ihm den kleinen Rucksack abnahm und freundlich sagte:

»Ist das kleine Fräulein sehr müde?«

Strahlend wandte sich das Kind den Pflegeeltern zu. Hoffentlich hatten sie es gehört, daß dieser große Herr von einem Fräulein redete.

Der Sonntag war ebenso strahlend schön wie der gestrige Sonnabend. So machte man sich zeitig auf den Weg nach Schreiberhau. Hin und wieder machte Professor Bender die Kinder auf eigenartig gewachsene Bäume, verschiedene Moose und Steine aufmerksam. Jule hatte sich bereits wieder einen Vorrat davon in die Taschen gesteckt. Er hatte auch schon einen großen Busch Tannengrün abgebrochen, den er seiner Meisterin mitbringen wollte. Professor Bender meinte zwar, daß dazu auf dem Heimwege noch Zeit genug wäre. Aber der Jule hatte es wieder sehr eilig. Gar bald störte ihn allerdings dieses Gepäckstück.

»Du hast nichts in den Händen, Pommerle«, meinte er, »trage mir das Grün doch ein wenig.«

Bereitwillig griff das gutmütige Kind danach. Der Jule, frei jeder Bürde, spähte sogleich nach allen Seiten aus, um interessante Steine oder Moose zu finden.

Kurz vor Schreiberhau machte Professor Bender plötzlich halt und wies kopfschüttelnd auf einen Schuttabladeplatz.

»Wie unschön! Hier an der großen Verkehrsstraße solch eine häßliche Müllabladestelle. Können die Leute ihre zerbrochenen Töpfe und anderes Gerümpel nicht an einer versteckter liegenden Stelle abladen?« Dann ging er weiter.

Aber Jule und Pommerle schauten wie gebannt auf jenen Haufen. Welche Schätze lagen hier zusammengetragen! Besonders das Vorderrad eines alten Fahrrades zog Jule mit unwiderstehlicher Gewalt an. Pommerle dagegen starrte auf einen mit Blumen bemalten Emailleeimer, der zwar keinen Boden mehr hatte, dessen rote Blumen aber gar so verlockend leuchteten. Und dort noch etwas! Dort lagen, allerdings an einen alten Lappen festgenäht, sechs herrliche Sprungfedern, wie man sie daheim in einer Matratze hatte. Mit solch einer Sprungfeder hatten die Kinder oben an der See tagelang gespielt. Es war herrlich, wenn der dicke Draht auf und nieder wippte. Und hier lagen viele dieser Schätze achtlos hingeworfen.

»Wo bleibt ihr denn?«

»Oooh«, sagte Pommerle, »wir kommen gleich, wir haben aber erst noch so viel Schönes zu sehen!«

Benders gingen weiter. Sie achteten nicht auf die beiden Kinder, die auf dem Haufen umherstiegen und nach weiteren Schätzen suchten. Pommerle riß und zerrte an den Sprungfedern.

»Jule, du hast doch ein Messer. Sie sind so fest angebunden.«

»Was willst du denn mit dem ollen Zeug?«

»Mitnehmen.«

Bereitwilligst trennte Jule die Sprungfedern von den alten Gurten ab. Entzückt nahm sie Pommerle in Empfang. Jule stand noch immer neben dem Rade und erklärte seiner kleinen Freundin, daß er gerade dieses Rad ganz vortrefflich brauchen könne. Er bastle nämlich seit Wochen an einem eigenen Fahrrad. Es fehlten freilich noch allerhand Teile dazu, aber vielleicht fände er noch weitere Stücke in dem Haufen.

Mit Händen und Füßen ging es ans Wühlen. Dabei schnitt sich Jule an Glasscherben tüchtig in die Finger.

Aus größerer Entfernung ertönte wieder die Stimme Professor Benders. Er rief nach den Zurückgebliebenen.

»Wie schade«, meinte Pommerle, »wir hätten sicherlich noch viel Schönes gefunden!«

Den bodenlosen Eimer mit den roten Rosen hing es an den Arm, es war nicht ganz leicht, auch noch die vier Sprungfedern mitzunehmen. Hilfesuchend blickte Pommerle auf Jule.

»Die grünen Tannenzweige mußt du dir jetzt aber allein tragen.«

»Ich habe doch mein Rad.«

»Ich kann nichts tragen.«

Da fing Jule an, Pommerles Schätze ineinanderzuschachteln. Die Sprungfedern wurden in den Eimer gelegt, obenauf kam der Strauß.

»Nun ja«, meinte Pommerle gutmütig, »so geht es.«

Beide Kinder eilten hinter Benders her, die, als sie Jule und Pommerle so beladen erblickten, stehenblieben. Was schleppte denn das Kind für einen Eimer am Arm? Was rollte der Jule neben sich her?

Pustend und schnaufend kamen die Kinder heran.

»Tante, schau, was wir Schönes gefunden haben!«

»Aber, Pommerle, was willst du denn damit?«

»Sieh nur, so einen schönen Eimer! Au, das wird fein, den stelle ich in den Garten. Im Sommer, wenn die vielen Schnecken da sind, ist das ihr Schloß. Sieh doch nur die schönen Rosen, herrlich!«

»Und das da?«

»Das ist ein feines Spielzeug, Tante. Sollst mal sehen, wie schön wir damit spielen werden.«

»Aber, mein Kind, du kannst doch unmöglich mit dem Eimer und dem Müll im Gebirge herumlaufen. Wir haben noch einige Stunden zu wandern. Es geht nicht!«

»Ach, doch, Tante, es geht schon«, meinte Pommerle.

»Na, und du, Jule? Was willst du mit dem verrosteten Rade?«

Mit Eifer verteidigten die Kinder ihre Schätze. Pommerle erklärte immer wieder, daß es einen so schönen Eimer in ganz Hirschberg nicht gäbe. Es wolle den Eimer behalten.

»Ich verspreche dir, Pommerle, daß ich dir in Hirschberg einige Sprungfedern besorgen werde. Diese Dinger werden fortgeworfen und der Eimer dazu.«

»Mein schöner Eimer, mein Schloß für die Schnecken! – Ach, es ist recht traurig. Sieh doch die schönen roten Rosen.«

»Ich will dir daheim auch einen Eimer geben.«

Jule dagegen war nicht zu bewegen, das Rad liegen zu lassen. Er meinte, er müsse ein Fahrrad haben, und es fehlten nicht mehr viel Teile dazu.

»So willst du das Rad durch Schreiberhau und weiter durch das Gebirge rollen? Aber töricht ist es von dir, Jule.«

»Ich möchte doch aber das Rad behalten.«

Lachend gab der Professor nach. Pommerle warf noch einen schmerzlichen Blick auf den schönen Eimer und die Sprungfedern; dann nahm es Jules Tannenstrauß wieder auf und trug ihn, weil Jule mit dem Rade zu tun hatte.

Man hatte Schreiberhau verlassen, da näherte sich der Spielgefährte dem kleinen Pommerle.

»Hier gibt es wieder so viel schöne Steine. Willst du nicht mal für 'ne Weile das Rad nehmen? Es macht viel Spaß.«

Aber ehe Pommerle eine Antwort geben konnte, hatte ihm der Jule das Rad in die Hand gedrückt und war davongelaufen.

Professor Bender sah es. Zunächst sagte er nichts. Aber plötzlich schwenkte er vom Wege ab.

»Wohin gehen wir?« fragte Frau Bender.

»Jule muß wieder einmal einen kleinen Denkzettel haben. Er ist ein guter, aber ein recht selbstsüchtiger Junge.«

Pommerle quälte sich mit dem Strauß und dem Rade. Es hatte ein rotes Köpfchen bekommen, als man endlich vor einem mächtigen Granitfelsen stand. Hier machte Professor Bender halt.

»So«, meinte er freundlich, »hier wollen wir ein wenig rasten. Pommerle mag sich ausruhen, denn es ist vom Tragen erschöpft. Komm nur her, Jule, ich möchte euch hier eine kleine Geschichte erzählen. Dieser Fels heißt im Volksmunde ›Rübezahls Grab‹.«

Zögernd war Jule näher gekommen. Er warf einen besorgten Blick auf das krebsrote Pommerle und sagte leise:

»So, nun nehme ich wieder das Rad.«

Man saß auf den umherliegenden Steinen, und Professor Bender begann zu erzählen, daß eine Sage gehe, hier an dieser Stelle sei Rübezahl, der mächtige Berggeist, begraben.

Jule schüttelte unmerklich den Kopf.

»Wenn er noch gar nicht tot ist, kann er doch nicht begraben sein.«

»Rübezahl hat gesagt, er will niemals mehr die Menschen necken und ärgern, er will sich tief in die Erde verkriechen und für immer verschwinden, wenn er einmal einen Menschen träfe, der selbstlos, gütig und dankbar wäre. Kennst du die Geschichte, Jule?«

Der Knabe verneinte.

»Gut, so sollt ihr sie hören. Hier in Mariental lebte einmal ein alter Weber mit seiner Frau, die hatten nur einen Sohn, das war der Franz. Sie hatten aber eine arme Waise an Kindes Statt angenommen, ein liebes, gutes Mädchen, das den alten Leuten viel Freude machte. Nun kehrten Kummer und Not in der Familie des Webers ein, aber der Franz war ein wackerer Sohn. Er leistete Führer- und Trägerdienste. Früher waren nämlich die Wege im Riesengebirge nicht so gut wie heute, da brauchte man Leute, die Wege und Stege wiesen oder die Damen, die ins Gebirge hinauf wollten, in Sesseln trugen. Damit verdiente der Franz den Unterhalt zum Leben für sich und seine Eltern.

Aber im Winter glitt der Franz einmal aus und fiel den Berg hinab. Seit diesem Tage litt er an heftigen Brustschmerzen. Das war für die Familie ein großes Unglück, denn es fehlte der Verdiener.

Der Frühling kam, und noch immer war der Franz nicht gesund. Die Not wurde immer größer, aber wenn Franz versuchte, auch nur eine Kleinigkeit zu tragen, fing er an zu husten und brach bald ermattet zusammen.

Da war es eines Tages, im Sommer, als ein alter Führer in das Haus des Webers kam. Rösi, die Pflegetochter, trat ihm entgegen und fragte, was er wolle. Der Führer sagte, es sei ein reicher Graf mit seiner Tochter im Wirtshause angekommen, der wolle morgen früh nach dem Zackenfall hinauf, um die Sonne aufgehen zu sehen. Der Graf habe dreifache Bezahlung versprochen, wenn man seine Tochter in einem Sessel hinauftrage. Der Franz solle mit ihm kommen, denn solch eine gute Gelegenheit fände sich nicht oft.

Traurig erklärte Rösi, daß der Franz diese Arbeit nicht mehr übernehmen könne, denn er sei viel zu krank. Aber das tapfere Mädchen meinte:

›Peter, nehmt mich statt des Franz mit. Ich kann auch tragen. Wenn wir beide zusammen den Sessel mit der jungen Gräfin anfassen, ist es nicht so schwer.‹

Anfangs wehrte der alte Führer ab, aber Rösi bat ihn so herzlich, daß er nachgab.

›Ich ziehe die Kleider vom Franz an‹, sagte Rösi, ›dann merkt der Graf nicht, daß ich ein Mädchen bin.‹

Am frühen Morgen war sie pünktlich zur Stelle. Sie hatte die Kleider des Pflegebruders angezogen und sah gar schmuck darin aus. Der Peter glaubte anfangs selbst, daß es doch der Franz sei. Dann strich er dem tapferen Mädchen zärtlich über die Wange.

›Bist eine gar gute Pflegeschwester. Der Himmel wird es dir lohnen.‹

Dann wurde der Sessel für die junge Gräfin fertiggemacht, an zwei Stangen befestigt. Vorn sollte Rösi tragen, hinten der Peter.

Die Gräfin nahm Platz, dann ging es los. Bald zitterten dem guten Mädchen die Hände und Füße, das Blut pochte und klopfte ihm in den Schläfen von der großen Anstrengung.

Und als man endlich, nach einer guten Stunde, am Zackenfall ankam, war Rösi so ermattet, daß sie sich ins Moos warf. Vor ihren Augen tanzten und wirbelten die seltsamsten Gestalten. Bald war es ihr glühend heiß, dann klapperten ihr die Zähne vor Frost.

Sie erschrak, als plötzlich der Peter zu ihr kam und sagte, die Gräfin wolle noch bis zur nächsten Baude hinauf, vielleicht werde es noch gehen. Rösi nickte.

Aufs neue nahm man den Sessel und stieg bergan. Oben angekommen, fand sich ein anderer Führer, so daß man Rösi entlohnen konnte. Sie bekam noch ein besonders gutes Trinkgeld, dann wanderte sie wieder abwärts. Es war ihr aber unmöglich, Mariental zu erreichen. Hier an dieser Stelle, an der ihr jetzt steht«, sagte der Professor, »brach das junge Mädchen zusammen. Ein Blutstrom entquoll ihrem Munde – sie starb.

Aber der Berggeist hatte Rösi in all der Zeit beobachtet. Er hatte gesehen, was das junge Mädchen aus Liebe zu dem Pflegebruder leistete. Er kam dahergebraust, riß eine Wurzel aus der Erde und erweckte damit die tote Rösi. Dann hüllte er sie in seinen Mantel und trug sie ins Haus der Pflegeeltern, nachdem er vorher die Taschen des tapferen Mädchens mit Gold und Silber gefüllt hatte. Dann kehrte der mächtige Berggeist an diese Stelle hier zurück, rief seine Geister herbei und gebot ihnen, einen mächtigen Felsblock heranzuschaffen. Er werde für immer im Innern der Erde verschwinden, denn er habe erkannt, daß es noch gute und edle Menschen auf der Erde gäbe. Dann verschwand Rübezahl in der Erde, die Berggeister wälzten den mächtigen Stein auf die Stelle, der bis auf den heutigen Tag den Namen ›Rübezahls Leichenstein‹ führt.«

Zunächst sagte keiner ein Wort. Jule hatte den Kopf tief gesenkt, verstohlen schaute er auf Pommerle. Die Röte der Anstrengung war aus dem Gesicht des Kindes gewichen. Aber Jule fühlte sich trotzdem recht bedrückt. Er hatte der Spielgefährtin alle Lasten aufgeladen und war, ohne sich darum zu kümmern, nach Moosen und Steinen gelaufen. In Gedanken verglich er das Pommerle mit der tapferen Rösi. Es wäre furchtbar gewesen, wenn nun Pommerle auch vor Anstrengung gestorben wäre. Da Jule sich den Glauben an den Berggeist nicht nehmen ließ, war ihm diese Stelle, an der man gerade verweilte, recht unbehaglich. Der mächtige Rübezahl wußte alles, der hatte auch gesehen, daß das Pommerle den Strauß und das Rad bis hierher geschleppt hatte. Wenn jetzt ganz plötzlich der Felsblock zur Seite geschleudert wurde, wenn Rübezahl auftauchte und dem Jule heftige Vorwürfe machte, was dann?

»Ich denke, wir müssen nun weitergehen«, meinte Jule kleinlaut.

Professor Bender ahnte sofort, was den Knaben quälte. Er sah deutlich die Unruhe in den Augen seines Mündels.

»Nun ja«, meinte er, »wir können aufbrechen. Wir wollen ja noch ein gutes Stück weiter, und abends geht es wieder heim.«

Als Pommerle den kleinen Rucksack wieder aufschnallen wollte, nahm ihn Jule fort.

»Laß nur, ich werde ihn tragen.«

»Nein, laß nur.«

»Er ist viel zu schwer für ein kleines Mädchen.«

»Nichts da«, entschied der Professor. »Ein jeder trägt seine Last allein. Pommerles Rucksack ist ganz leicht, er macht ihm keinerlei Beschwerden.«

Nochmals warf Jule einen mißtrauischen Blick auf den großen Felsblock; doch der stand fest und rührte sich nicht. Dann griff er energisch nach dem Tannenstrauß und nach dem Rade, fragte schließlich noch Tante Bender, ob er ihr den Rucksack abnehmen sollte.

»Nein, Jule, du hast ja beide Hände voll.«

Als man aufbrach, war der Jule der erste, der den Platz verließ, auf dem »Rübezahls Leichenstein« stand. Bei der letzten Wegbiegung warf er nochmals einen Blick zurück. – Der Granitfelsen stand fest.

Je weiter man wanderte, um so lästiger wurde Jule seine Beute. Er schwankte einige Male, ob er den Tannenstrauß oder das Rad liegenlassen sollte. Vier volle Stunden rollte er es nun schon neben sich her. Gar zu gern hätte er wieder einmal bei Pommerle angefragt, aber er traute sich nicht recht. Er machte zwar mehrmals Andeutungen, daß er auch schon genau so müde sei wie die Rösi; doch Pommerle schien es nicht zu verstehen. Wenn sie ihn wenigstens für zehn Minuten ablösen wollte!

»Es macht großen Spaß, das Rad neben sich herzurollen. Findest du das nicht auch?« fragte Jule die Kleine.

»Wenn es aufwärts geht, muß man es tragen.«

»Es wird aber nachher wieder abwärts gehen. Du müßtest mal versuchen, was das für Spaß macht.«

Jule stellte das Rad quer vor Pommerle hin. Aber dieses Geräusch mochte wohl einige Krähen, die ganz in der Nähe saßen, erschreckt haben; flatternd flogen sie auf. Der Jule erfaßte das Rad, schaute mit ängstlichen Augen um sich. Er glaubte nichts anderes, als daß sich der Rübezahl auf ihn herniederstürze. Er war froh, daß sich nichts ereignete.

Da fragte er nicht mehr wegen des Rades an. Aber so manche leise Verwünschung kam über seine Lippen.

Am beschwerlichsten war es hinauf zum Zackenfall.

»So laß doch das Rad im Gebüsch liegen, Jule. Wir kommen denselben Weg wieder zurück.«

»Und dann hat es einer mitgenommen.«

»Es wird dir niemand das alte Rad fortnehmen, Junge.«

Jule gab nach. Er suchte einen dichten Busch aus, hinter dem er das Rad und den Strauß verbarg. Er atmete erleichtert auf, als das geschehen war.

Andächtig stand Pommerle an dem schönen Zackenfall, der in die tiefe, bewaldete Schlucht hinabbrauste. An der Hand der Tante stieg das Kind die vielen Stufen hinab, um den Fall auch von unten zu bewundern. Inmitten dieser herrlichen Landschaft überkam es wieder das Gefühl, daß es sehr glücklich sein könne, und mit dem Tosen des Wassers vermischte sich der Gesang des kleinen Mädchens:

»Ich bin gesund und wohlgemut,

Und das ist wohl mein größtes Gut!«

Man verweilte längere Zeit an dem Fall. Aber endlich drängte Professor Bender zum Heimwege.

»Wir müssen von Schreiberhau den Zug nach Hirschberg bekommen, denn morgen früh muß der Jule wieder an die Arbeit, und auch du, mein liebes Kind, mußt frisch sein, denn dann beginnt wieder das Tagewerk.«

In langer Reihe, einer in den Arm des anderen eingehängt, wanderte man abwärts.

»Jetzt singen wir ein fröhliches Wanderlied, jeder so gut er kann. Was wollen wir singen?«

»Ihr Kinderlein, kommet«, rief Pommerle begeistert.

»Das ist doch ein Weihnachtslied, Pommerle. Wir wollen lieber singen: ›Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.‹«

Alle sangen kräftig mit. Der Jule wohl am lautesten. Hier in seinen geliebten Bergen fühlte er sich so froh, so leicht.

So wanderten die vier abwärts. Drei-, viermal wurde das Lied gesungen. Nun lag Schreiberhau vor den Reisenden. Professor Bender wußte noch einige hübsche kleine Geschichten zu erzählen, auf dem Bahnhof nahm man noch einen kleinen Imbiß ein, dann brauste der Zug heran.

»Fein war es«, sagte der Jule strahlend.

»Und nächstens komme ich zu deinem Meister und der Sabine, und dann bringe ich ihr schönes Tannengrün und Blumen –«

Jule sprang von seinem Platz auf, drehte sich einige Male um sich herum, schaute in das Netz des Wagens, sah aber nur die Rucksäcke und stammelte:

»Mein Rad – meine Tannenzweige!«

Ja, an das Rad und an die Tannenzweige, die schön hinter einem dichten Busch verborgen worden waren, hatte beim Abmarsch keiner mehr gedacht.

»Mein Rad!« jammerte der Jule kläglich.

»Das ist nun freilich dahin«, meinte Professor Bender. »Fünf Stunden lang hast du dich damit herumgeschleppt. Ja, mein lieber Jule, man muß seine Gedanken schon beisammen haben.«

»Und der Meisterin wollte ich die Tannenzweige mitbringen.«

Jule war recht verstört. Kurz vor Hirschberg legte Pommerle den Arm um den Hals des Spielgefährten.

»Sei mal nicht traurig«, sagte es herzlich, »mein schöner Eimer mit den roten Rosen liegt auch im Gebirge. Wenn wir wieder mal ins Gebirge fahren, holen wir alles.«

»Ach«, meinte der Jule weinerlich, »das schöne Rad hat dann schon lange ein anderer genommen. – Ach, das schöne Rad!«

»Sei nur nicht traurig, Julchen, wenn ich erst groß bin, und wenn ich viel Geld habe, kaufe ich dir ein richtiges Rad.«

Aber dieser Trost nützte nicht viel. Jule blieb in sich gekehrt, und als Hirschberg erreicht war, lag noch immer der Kummer auf seinem Gesicht.

Pommerle dagegen war von dem Ausflug in die Berge vollauf befriedigt, obwohl es den herrlichen Eimer nicht mit hatte heimbringen dürfen. Am Abend umarmte es stürmisch den Onkel und die Tante.

»Oh, meine Ostsee ist sehr, sehr schön, aber das Gebirge ist auch sehr schön, und ihr seid so gut, gerade so gut wie mein Vater!«

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