Читать книгу Die bekanntesten Kinder- & Jugendbücher - Magda Trott - Страница 41
Kapitel 8.
Sei treu und wahr
ОглавлениеMit Tränen in den Augen betrachtete Pommerle die schöne Puppe. Schrecklich sah sie aus! Das weiße Kleid beschmutzt, die Haare zerrauft, sogar der eine Arm war ausgerissen. Gerade dieses Puppenkind hatte Pommerle stets mit besonderer Liebe gehütet. Weder Ida noch Karoline gingen schonend mit den Spielsachen um. Manches Stück war von den ungeschickten Händen der beiden Mädchen zerbrochen worden, und oft genug hatte Pommerle den Kindern Vorwürfe darüber gemacht. Heute morgen wurde es von Ida gebeten, die schöne große Puppe in den Garten zu bringen. Es war geschehen, dann war Pommerle von der Mutter abberufen worden und fand bei der Rückkehr diese Verwüstung vor.
Weder von Ida noch von Karoline war etwas zu sehen. Die beiden waren anscheinend davongelaufen, hatten die Puppe achtlos ins nasse Gras geworfen, nachdem sie ihr den einen Arm ausgerissen hatten. Der erste Gedanke des kleinen Mädchens war, die Mutter aufzusuchen, um ihr von dem Unglück zu erzählen. Aber der Plan wurde nicht ausgeführt. Die Mutti hatte erst ganz kürzlich der klagenden Tochter gesagt, daß es nicht richtig sei, wenn Pommerle jede Untugend seiner kleinen Gäste berichte. Es solle die Kinder selber zur Ordnung anhalten und auf die Spielsachen achthaben.
»Da soll ich nun achtgeben«, schluchzte Pommerle vor sich hin, »und soll Nachsicht üben, und was holen soll ich auch noch. – Ich gebe meine Puppe nicht mehr. Sie können mit Steinen spielen, denen können sie den Arm nicht ausreißen. – Du armes, liebes Kindchen, nun bist du krank, mußt zum Puppendoktor. Aber durchhauen will ich sie, wenn sie wiederkommen. – Die Ida macht alles kaputt!«
Einen kleinen Tröster hatte Pommerle in seinem Leid, das war Schnapp, der Hund, den Pommerle eines Tages heimgebracht hatte, weil man das Tierchen wegen seiner Häßlichkeit ertränken wollte. Nun war Schnapp durch die gute Pflege im Benderschen Hause gar nicht mehr so struppig, sein Fell glänzte, denn Pommerle bürstete den geliebten Schnapp alltäglich.
»Siehst du, Schnapp, du hast Prügel gekriegt, wenn du was kaputt machtest, nun bist du erzogen. Aber die Ida und die Karoline sind nicht erzogen. Sie sind ungezogen. Sieh doch, lieber kleiner Schnapp, unser Kindchen ist krank.«
Schnapp rieb seine Schnauze an dem Puppenkind, er schien Pommerles Jammer zu verstehen. Mit seinen guten treuen Augen blickte er zu dem Kinde auf, und als Pommerle noch immer schalt, bellte Schnapp kräftig mit.
Eine halbe Stunde später kamen Ida und Karoline in den Garten zurück. Sie waren erhitzt vom raschen Laufen. Unordentlich hingen beiden die Haare um den Kopf. Idas Kleid wies außerdem einen langen Riß auf.
»Der Schnapp, der Schnapp!« rief Ida, brach von einem Strauch einen langen Zweig ab und ging damit neckend auf den Hund los. Zunächst knurrte das Tier nur unwillig, als aber Ida dem Schnapp immer wieder mit dem Zweig einen Schlag versetzte, kläffte sie der Hund ungnädig an.
»Du freches Vieh!«
Pommerle kam aus der Laube, noch war sein Gesichtchen zornig gerötet. Es hielt Ida die Puppe hin.
»Was hast du mit meinem Kinde gemacht?«
»Ich? – Gar nichts!«
»Du hast meine Flora ins nasse Gras geworfen und ihr dann noch einen Arm ausgerissen. Du hast auch mein Schiff zerbrochen und den Kaufladen. Ich gebe dir nie wieder meine Puppe.«
»Ich hab' gar nichts gemacht!«
»Wer hat ihr denn dann den Arm ausgerissen?«
»Das wird wohl der Hund gewesen sein.«
Pommerle stutzte. Fragend richtete es die Blicke auf Schnapp. Hatte der Hund nun verstanden, daß man etwas Schlimmes über ihn sagte, oder war es der häßliche Ton, in dem Ida diese Worte gesprochen hatte, kurzum, er sprang auf Ida zu und bellte sie heftig an. Das war für Pommerle der Beweis, daß sich der Schnapp Verleumdungen nicht gefallen ließ. Außerdem war es kaum denkbar, daß Schnapp und die Flora zusammen gerauft hatten. Wie oft schon hatte der liebe kleine Hund neben der Puppe gesessen und sie behütet!
»Ich glaub' dir nicht. – Du hast neulich auch gesagt, daß die Anna das Schiff zerbrochen hat. Die Anna hat es aber gesehen, daß du es warst. – Du lügst!«
»Hab' dich nicht so wegen der dummen Puppe. Meine Puppe hat überhaupt keine Arme mehr, und ich spiele doch mit ihr.«
»Deine Mutter kann den Puppenarm wieder anmachen«, meinte jetzt Karoline. »Wir haben mit der Puppe gespielt, dabei ist der Arm losgegangen.«
»Wenn man etwas in Händen hat, was einem anderen Menschen gehört, muß man ganz besonders vorsichtig sein, sagt der Vati. Und daß du lügst, – das ist besonders schlimm. Mädchen, die lügen, mag keiner leiden.«
»Ich habe nicht gelogen.«
»Ja, du hast sogar schon oft gelogen. Der Jule sollte dir den Stein vom Rübezahl geben. Jedesmal, wenn du lügst, fliegt dir dann der Stein ins Gesicht. Aber – das schadet dir gar nichts! Wer lügt, muß bestraft werden.«
Ida hielt sich beide Hände an die Ohren und begann ein Lied zu singen. Dabei wanderte sie im Garten umher. An den Johannisbeersträuchern machte sie halt und steckte einige Beeren in den Mund. Karoline dagegen versuchte Pommerle zu besänftigen.
»Mit dir spiele ich gern«, meinte Pommerle, »denn du bist nicht so, aber die Ida muß sich bessern. Ich kann kein Kind leiden, das lügt.«
Zwischen den beiden Mädchen war der Frieden bald wieder hergestellt, und erneut begann man zu spielen. Pommerle schlug vor, es wolle die Lehrerin sein, Karoline, Flora und Schnapp wären die Schüler. Über Schnapp hatte man seine helle Freude. Jedesmal, wenn er von der Lehrerin gefragt wurde, setzte er sich auf die Hinterbeine und bellte freudig. So tönte aus der Laube lautes Lachen, das schließlich auch Ida herbeirief.
»Ich will mitspielen.«
»Ja«, sagte Pommerle mit blitzenden Augen. »Ich bin die Lehrerin, und jetzt haben wir Schule.«
Ida mußte sich als letzte setzen, dann hielt Pommerle einen Vortrag über die Ostsee, über Schweden und das Riesengebirge.
»Schnapp, jetzt sage mir, welche Farbe hat die Ostsee?«
»Wau, wau!« bellte der Hund.
»Ach, du süßes Tierchen, du kommst Erster. ›Blau‹ hat er gesagt, ›blau, blau!‹ Du bist das klügste Hündchen auf der ganzen Welt! Paßt auf, er weiß noch mehr. – Schnapp, sage mir, wie macht es der liebe Gott, wenn er böse ist?«
Nach diesen Worten krabbelte Pommerle dem Hund vorsichtig mit den Fingerchen auf der Nase herum, und sogleich begann Schnapp düster und grollend zu knurren.
»Hört ihr«, jauchzte Pommerle, »wie es donnert! – Ach, Schnapp, du lieber Schnapp, du bist immer ein sehr kluger Hund gewesen. Denkt nur, er hat vom Hausboden, als die Katzenmutter weggefangen worden war, die kleinen Kätzchen zu sich ins Körbchen getragen und wie eine gute Mutter gepflegt.«
»Ich werde ihm mal auf den Schwanz treten, was er dann sagt.«
Pommerle schaute Karoline grimmig an, dann sagte es: »So, ich bin eure Lehrerin, da will ich dir gleich mal einen Vers vorsagen, den du bis zur nächsten Stunde auswendig wissen mußt. Paß gut auf: Keinem Tierchen tu' ein Leid, sieh, in seinem schlichten Kleid hat's doch Gott im Himmel gern. – Ein schlichtes Kleid hat mein Schnapp freilich nicht, er hat ein schönes Kleid. Aber den Vers lernst du bis morgen.«
»Und was soll ich lernen?« rief Ida. »Ich komme gar nicht dran.«
»Du?« sagte Pommerle. »Für dich weiß ich auch ein Gedicht, das schreibe ich dir sogar auf. Das kannst du dir übers Bett hängen. Paß auf!«
»Na los, so sage doch dein Gedicht.«
Pommerle richtete die blauen Augen fest auf Ida und begann eindringlich und langsam:
»Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr,
Laß nie die Lüge deinen Mund entweihn!
Von alters her im deutschen Volke war
Der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein.
Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran,
Zuerst ein Zwerg, ein Riese hintennach,
Doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an,
Und eine Stimme ruft in dir: Sei wach!«
Pommerle hatte die beiden letzten Worte so laut gerufen, daß Schnapp laut zu bellen begann.
»Da hast du es, er meint auch, du sollst wach sein. Das Gedicht kannst du dir merken! Wir wollen alle den höchsten Ruhm haben, und wenn du ein deutsches Kind sein willst, mußt du getreu und wahr sein. Du wohnst in Breslau, du bist also auch deutsch, und ob man in einem Kellerloch oder in einem hübschen Haus mit Garten oder gar in einem goldenen Schloß lebt, es ist alles einerlei. Lügen dürfen alle nicht. Und wenn du noch mal lügst, – dann – dann – na, dann werde ich mir auch schon Rat wissen.«
Ida war ein wenig verlegen geworden. Sie griff ins grüne Rankenwerk der Laube und riß ein Blatt nach dem anderen ab.
Pommerle schlug die Hände zusammen. »Nu machst du schon wieder dummes Zeug. Denkst du, in den Blättern und Blüten ist kein Leben? So was kommt doch auch aus der Erde heraus, wächst, wird immer größer. Das sind doch alles Blumenkinder, die man nicht entzwei machen darf. Es tut ihnen doch auch weh!«
Ida ließ ein spöttisches Lachen hören.
»Wenn ihr immer in einem schönen grünen Garten lebtet und nicht in einem finsteren Kellerloch, wo es häßliche Schnecken gibt, würdet ihr sehen, wie das alles aus der Erde herausgekrochen kommt. Alle kleinen Pflänzchen wachen im Frühling aus ihrem langen Schlaf auf und gucken die Sonne an. – Sie freuen sich dann, daß sie nun wieder groß und kräftig werden dürfen, aber – wenn ihr dann kommt und darauf tretet, wie du das gemacht hast, Ida, ist das genau so, als wenn einem Menschen ein großer Ziegelstein auf den Kopf fällt, und er muß sterben. Das tut sehr weh. Aber ich glaube, ihr wißt das noch nicht, daß die kleinen Blümchen alle leben. Nun werdet ihr sicher kein Pflänzchen mehr zertreten, weil ihr nun wißt, daß in allen frisches Leben ist.«
»Du kannst so schön erzählen, Hanna. Ich werde kein Blümchen mehr absichtlich zertreten.«
»Hahaha«, lachte Ida laut, »als ob so 'ne Blume merkt, wenn ich sie abreiße. Es gibt ja genug davon, und deine Mutter hat auch Blumen abgeschnitten und in 'nen Topf gestellt.«
»In dem Topf werden sie auch gepflegt. Die Blumen freuen sich, wenn sie durch ihre Schönheit den Menschen Freude bereiten können. Ich habe auch schon Blumen abschneiden dürfen und zu Leuten getragen. Aber dann trauern die Blümchen nicht, dann sind sie froh, daß sie glücklich machen können.«
Karoline schaute voller Andacht auf Pommerle. Alles, was die Kleine sagte, war ihr neu. Noch niemals hatte ihr jemand so schöne Dinge von den Blumen erzählt.
»Aber das Obst dürfen wir doch abreißen und essen.«
»Ja«, sagte Pommerle, »das ist ja auch nur das, was uns die Sträucher schenken. Das ist so, als wenn wir unseren Eltern 'ne Handarbeit machen. Der Baum und der Strauch meint: Ihr habt uns soviel Gutes getan, nun müssen wir euch dafür etwas geben. Dann kriegt er Beeren und Früchte, die die Menschen essen können. Dann freut sich der Baum, wenn es uns schmeckt.«
»Warum dürfen wir denn dann nicht vom Pfirsichbaum essen?«
»Weil es die Mutti verboten hat.«
»Ich hab' noch nie einen Pfirsich gegessen, und ich möchte so gern einen Pfirsich essen.«
»Du kannst Johannisbeeren, Kirschen und Erdbeeren essen.«
»Wenn ich mir aber doch einen Pfirsich nehme?«
»Dann bist du ein elender Dieb! Du hast im Garten so viel zu essen, daß du Leibweh bekommen kannst. Die Pfirsiche braucht die Mutti, und wenn sie einmal sagt, es soll nicht davon gegessen werden, dann essen wir eben nicht davon. Der Jule hat auch gern einen Pfirsich essen wollen, aber er hat den Baum nur angesehen. Wenn die Mutti die Pfirsiche abgenommen hat, wird sie dir auch einen schenken.«
Gerade dieses ausgesprochene Verbot war es, das Ida immer wieder veranlaßte, begehrliche Blicke auf den Baum mit den köstlichen Früchten zu werfen. Wahrscheinlich war gerade dieses Obst ganz besonders schmackhaft. Warum sollte sie nicht einmal kosten? Es waren doch genug Pfirsiche an den Zweigen. Schließlich würde es niemand merken, wenn sie alltäglich einige herunterholte und ganz heimlich verspeiste.
»Wollen wir mal schütteln, ob was abfällt? Das ist doch nicht verboten.«
»Wir sollen den Pfirsichbaum nicht anrühren. – Nu komm weg! Wenn wir ihn nicht mehr sehen, denken wir nicht mehr dran.«
Aufs neue begann das Spiel der Kinder, doch Ida hatte nicht mehr die richtige Aufmerksamkeit dafür. Ihre Gedanken waren bei dem Baum mit den verbotenen Früchten. Nach kurzer Zeit erklärte sie, das Spielen sei langweilig, man wolle sich lieber im Garten verstecken. Pommerle möge sich in der Laube gegen die Wand stellen, man würde rufen, wenn es soweit wäre.
Ahnungslos ging Pommerle auf den Vorschlag ein. Während Karoline sich hinter einem großen Fliederbusch verbarg, eilte Ida zum Pfirsichbaum. Leider konnte sie die Zweige mit den Früchten nicht erreichen. Sie holte sich daher einen Stock und schlug unsanft auf die Äste ein, daß mehrere Früchte herunterfielen. Hastig stopfte sie sich die Kleidertasche voll und verbarg sich ganz hinten im Hof. Hier konnte sie ungestört essen.
Pommerle machte sich auf die Suche. Karoline war bald gefunden, Ida fehlte.
»Schnapp, lieber Schnapp, wo ist sie hingelaufen?«
Der Hund sprang dem Hofe zu. Pommerle eilte hinter ihm drein. Da schoß Ida hervor, wollte zu der Anschlagstelle laufen, um sich frei zu schlagen, aber Schnapp kam ihr so unglücklich zwischen die Füße, daß Ida über ihn stolperte und der Länge nach hinfiel. Sie stürzte so heftig, daß die Pfirsiche, die noch in ihrer Tasche waren, völlig zerdrückt wurden und der Saft der Früchte aus dem Kleide lief. Im ersten Augenblick dachte das Kind nicht an diesen Unfall. Karoline war es, die die feuchten Stellen bemerkte.
»O je, was kommt denn da für ein Brei aus deiner Tasche?«
Pommerle, das den Duft der Pfirsiche kannte, wußte sogleich, was geschehen war.
»Du garstiges Mädchen! So ist es recht, – du hast Pfirsiche genommen! So ist's gut, das ist die Strafe!«
»Ich hab' mir das Knie aufgeschlagen.«
»Hab' ich dir nicht gesagt, daß wir keine Pfirsiche nehmen dürfen? So ein Leckermaul! Die Nase hättest du dir zerschlagen sollen. – Pfui, schäme dich, ich spiele überhaupt nicht mehr mit dir!«
»Mein Knie blutet!«
»Nein«, sagte Pommerle energisch, »ich kann nicht einmal Barmherzigkeit mit dir haben. Der Vati sagt, alles wird bestraft!«
»Der dumme Hund, den verprügle ich!«
»Untersteh dich, der Hund hat deine Frechheit herausgebracht!«
»Es blutet so sehr!«
»Dann geh ins Haus und wasch dir das kaputte Knie ab. Ich helf' dir nicht, denn du bist ein Dieb, und mit einem Dieb habe ich kein Erbarmen.«
Ida begann laut zu weinen. Pommerle jedoch stand unerbittlich neben ihr und schalt erneut auf Ida. Deren Weinen wurde lauter und immer lauter, so daß Frau Bender aufmerksam wurde. Sie ließ die Näharbeit liegen und eilte hinaus in den Garten.
»Was ist denn geschehen? Warum weinst du so sehr, Ida?«
»Weil – – weil – –«, rief Pommerle. Dann legte es die kleine Hand fest auf den Mund. »Nun kannst du es selber sagen; ich will nicht petzen.«
»Der dumme Hund ist mir in die Beine gelaufen, er wollte mich beißen. Da bin ich gefallen.«
»Das ist ja wieder gelogen«, brauste Pommerle auf. »Ach, Mutti, ich möchte dir so gerne alles erzählen.«
»So mag uns Karoline sagen, was geschehen ist. Zuerst wollen wir ins Haus gehen und das unsaubere Knie abwaschen und verbinden.«
Frau Bender führte die hinkende Ida fort, während Pommerle den Schnapp liebkoste.
»Du bist gerade, als wärst du vom lieben Gott geschickt, der das Gute belohnt und das Böse bestraft. – Es schadet ihr nichts, wenn es ihr weh tut!«
Frau Bender hatte es für richtig gefunden, Pommerle über den Vorfall nicht zu befragen. Sie wußte wohl, daß ihre wahrheitsliebende Tochter Anstoß daran nahm, daß in Ida gar viele schlechte Eigenschaften wohnten. Wie war das Kind doch zu bedauern! Der Vater tot, die Mutter tagsüber auf Arbeit, niemand kümmerte sich um die vielen Kinder, die wild und verwahrlost heranwuchsen. Da war keine Hand, die das keimende Unkraut aus den Kinderherzen jätete, niemand, der ihnen sagte, wohin es führen müsse, wenn man sich nicht bemühe, Lug und Trug zu meiden. Frau Bender nahm die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, sehr ernst. Es galt nicht nur, den beiden Schützlingen während vier Wochen kräftiges Essen und gesunde Luft zu geben, es sollten auch in die Herzen der beiden Kinder gute Keime gelegt werden. Das war natürlich nicht einfach, es war auch nicht so rasch zu erreichen, wie es die gutherzige Professorengattin sich wünschte.
Die sehr freundlichen Ermahnungen, die Frau Bender Ida zuteil werden ließ, wurden wohl angehört, doch schien es, als fielen sie nicht auf fruchtbaren Boden. Wie anders war Karoline veranlagt! Sie würde von dem Ferienaufenthalt manches Wertvolle mit heimnehmen. Frau Bender merkte, daß sich Karoline bemühte, ihrem Pommerle ähnlich zu werden, und das war ihr ein Trost für die vielen Mißerfolge, die sie bei Ida hatte.
Da in Hirschberg zahlreiche Familien waren, die Kinder zu sich genommen hatten, fragte Frau Bender bei jenen, die diesen Familienzuwachs erhalten hatten, um Rat. Sie hörte die verschiedensten Äußerungen. Einige waren hochbeglückt über die Kinder; von Tag zu Tag erholten sich ihre kleinen Gäste mehr und mehr. Angst und Scheu wichen von ihnen, und gar oft zeigte es sich, daß in den Ärmsten der Armen große innere Werte schliefen. Wie glücklich machte es, solchen Kindern vier Wochen lang Freuden schenken zu dürfen. Welch herrliche Idee war es, diese kümmerlichen Kinder aus dem Elend herauszuholen und in die Sonne zu führen. Ein Werk echt christlicher Nächstenliebe, ein Werk, das aus mitfühlendem Herzen geboren war.
Es gab aber auch andere, die den Tag der Abreise der Kinder ersehnten. Mit erschreckender Deutlichkeit zeigte es sich bei manchen, daß die Kinder, die in Verwahrlosung aufgewachsen waren, von allem Guten und Edlen keine Ahnung hatten. Hier genügten keine vier Wochen, um die Samenkörner in die jungen Herzen zu legen und keimen zu lassen. Monate hätten darüber hingehen müssen, um diese unglücklichen Kleinen aus dem seelischen Elend herauszuziehen. Aber ging nicht der Ruf durch das Land, daß man in Zukunft gerade auf die Familie das Augenmerk richten wolle? Klang es nicht von Ost nach West, von Nord nach Süd, daß man in der Familie die Keimzelle zur Erneuerung des Volkes zu suchen habe?
»Wie gern möchte man auch seelisch helfen«, sagte Frau Bender im Kreise ihrer Bekannten, »doch fürchte ich, ich gebe meinem Schützling, wenn er uns wieder verläßt, nichts Dauerndes mit. Mein Pommerle sieht alles mit anderen Augen, das Kind ist entrüstet, wenn Ida lügt und etwas Verbotenes nimmt, wenn es unordentlich mit dem Eigentum anderer umgeht. Niemand ist da, der in Breslau die kleinen Mädchen zur Ordnung anhält, wenn die Mutter das tägliche Brot herbeischaffen muß. Abends ist sie viel zu müde, um nach dem Rechten zu sehen. Ich wußte genau, daß sich manche von uns eine große Last auflud, als sie die Kinder der Ärmsten ins Haus nahm. Aber ich glaube, darum haben wir es besonders gern getan. Wir wollen doch alle mithelfen.«
»Ihr Pommerle ist solch ein prächtiges Kind, das einen guten Einfluß auf die beiden Mädchen ausüben wird, auch wenn sie nur vier Wochen hier sind.«
»Ja, um mein Pommerle brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Die Kleine hat ein so richtiges Gefühl für das Gute und Schlechte, daß Böses nicht an sie herankommt. Ich bin dem lieben Gott von Herzen dankbar, daß er uns die Kleine in den Weg führte. Wieviel Freuden wären meinem Manne und mir versagt geblieben ohne unser Sonnenscheinchen. Ich habe stets Eltern beneidet, die sich um eine Schar lieber Kinder sorgen durften. Uns sind sie versagt geblieben, darum hielten wir es für unsere Pflicht, einem armen, elternlosen Kinde eine neue Heimat zu geben.«
»Es ist ganz eigenartig, liebe Frau Bender, daß Sie mit Ihrem Pommerle niemals Ärger haben.«
Die Professorengattin lachte. »Da kennen Sie mein kleines, temperamentvolles Mädelchen schlecht. Gar manches muß ich rügen, besonders jetzt, während des Besuches. Da hat sich mein Pommerle nicht immer von der liebenswürdigsten Seite gezeigt. Wie oft mußte ich schon dazwischentreten, sonst wären die kleinen Finger meines Töchterchens mehrfach an Idas blondem Schopf hängengeblieben. Doch Pommerle hat eben das Gute, daß es stets in ehrlicher Entrüstung aufbraust; da ist es schlecht zu halten.«
Frau Bender hatte nicht zuviel gesagt. Als sie abends von ihrem Kaffeekränzchen heimkam, stand auf Pommerles Gesichtchen wieder die tiefe Falte. Die Blicke, die es auf Ida warf, waren nicht gerade freundlich zu nennen. Aber die Mutter hütete sich, vor allen Kindern zu fragen; sie wußte, daß sich bei Pommerle die Worte überstürzen würden, denn in dem kleinen Kinderherzchen schien es heute zu kochen.
In der Küche wurde Anna, das Hausmädchen, von Frau Bender befragt.
»Ja, ja, gnädige Frau, vorhin ist es recht temperamentvoll hergegangen. Ida hat den Schnapp mit einem Stein werfen wollen, da ist unser Pommerle gekommen und hat das Mädchen hin und her geschüttelt, daß der Ida Hören und Sehen vergangen sind. Ich konnte Pommerle nicht ganz unrecht geben. Gesagt habe ich nichts.«
Frau Bender hielt es für angebracht, am nächsten Morgen ihrem Töchterchen wieder einmal eine kleine Ermahnung zu geben. Der Frieden zwischen den Kindern mußte wiederhergestellt werden.
Zu einer Stunde, in der Frau Bender mit Pommerle allein war, zog sie ihr Kind zärtlich an sich.
»In acht Tagen ist mein kleines Mädchen wieder allein, dann muß unser Besuch zurück nach Breslau.«
»Na, die werden ja auch vergehen. Acht Tage sind nicht gar zu lang.«
»Aber Pommerle! Die kleinen Mädchen sind doch so glücklich, daß sie in der frischen Luft sein können. Ida hat daheim so viel zu tun, sie muß die jüngeren Geschwister besorgen, das Zimmer aufräumen, denn die Mutter hat dazu keine Zeit.«
»Arbeit schadet keinem Menschen.«
»Ich weiß nicht, mein Kind, ob es dir gefallen würde, wenn Anna eines Tages fortginge, und du jeden Tag das Geschirr abwaschen müßtest und, ehe du zur Schule läufst, die Brötchen vom Bäcker holtest. Auch die Schuhe müßte sich mein Kleines dann selbst putzen, die es so gern der Anna zuschiebt.«
»Na, Mutti, wir werden doch unsere gute Anna behalten!«
»Gewiß, ich wollte dir auch nur damit sagen, daß du mit Ida freundlich und lieb sein sollst. Du bist doch ein verständiges Mädchen, du mußt begreifen, daß ein Kind, für das kein Vater sorgt, das eine Mutter hat, die sich kaum um das Haus kümmern kann, das Leben schwarz und dunkel findet. Niemand kann der Ida sagen, was gut, was böse ist. Wenn sie also wirklich einmal etwas Unrechtes tut, muß man sie mit lieben Worten darauf aufmerksam machen, muß ihr aber nicht gleich an den Kragen gehen und sie schütteln.«
»Ich habe ihr viele liebe Worte gesagt, schließlich krieg' ich doch auch mal eine Wut in den Leib. Aber – ich werde halt heute wieder gut mit ihr sein, wenn's mich auch manchmal in der Kehle drückt. Dann möchte ich die Ida anbrüllen, Mutti, dann wünschte ich, daß sie vor Schreck auf den Rücken fällt. – Aber ich werd' halt dran denken, daß sie keine so gute Mutti hat, die ihr immer sagt, was sie machen soll.«
Zwei Tage lang ging es leidlich, obwohl Pommerle manchmal ein recht finsteres Gesicht zeigte. Frau Bender lobte die Kleine.
»Weißt du, Mutti, ich habe heute früh im Bett lange darüber nachgedacht, daß es mit der Ida doch nicht so richtig sein muß. Ich habe früher auch keine Mutti gehabt, aber ich habe nie einen Hund mit 'nem Stein geschmissen.«
»Du hast aber noch einen Vater gehabt, der gut achtgab, daß du ein gutes Mädchen wirst.«
»Die Ida hat doch auch einen Vater gehabt.«
»Ja, Pommerle, der hatte den ganzen Tag fleißig zu arbeiten.«
»Mein Ostseevater hat auch gearbeitet.«
»Dann sei froh, mein Kleines, daß in deinem Herzchen soviel Gutes wohnt. Ich hoffe, daß du dich noch die letzten acht Tage mit Ida und Karoline sehr gut verträgst.«
Pommerle gab sich redliche Mühe und zeigte die größte Selbstüberwindung. Nur dem Jule klagte es mitunter sein Leid. Der sprach freilich mit Begeisterung von Rudolf, der ihm soviel Gänge abnahm und ihm auch in der Werkstatt manchen guten Dienst geleistet hatte.
»Das wird mal ein Meister, sage ich dir, Hanna, vor dem kann sich die ganze Welt verstecken. Der ist noch viel klüger als Meister Reichart.«
An einem der nächsten Vormittage, als Pommerle in die Küche gelaufen kam, um sich ein Glas Wasser zu holen, drohte Anna dem Kinde mit dem Finger. Pommerle machte ein erstauntes Gesicht.
»Was willst du denn?«
»Du wirst schon wissen, was ich meine, Pommerle. Schön ist es nicht, daß du das Verbot der Mutti mißachtest.«
Pommerle kniff die Augen zusammen. »Ich – weiß nicht recht, was du meinst, Anna. – Es kann schon sein, daß es nicht schön ist. – Was hab' ich denn verbockt?«
»Hat dir die Mutti nicht verboten, von dem Pfirsichbaum zu essen.«
»Das hat sie.«
»Wenn wir heute die Früchte abnehmen, wird die Mutti merken, daß viele fehlen. Sie wird recht traurig sein, daß du heimlich die Pfirsiche genommen hast.«
»Na, das ist doch doll!« brauste das Kind auf. »Die Mutti hat gesagt, Pfirsiche sollen wir nicht essen, da habe ich auch keine gegessen.«
»Aber Pommerle!«
»Ich hab' keine gegessen!«
»Überlege es dir nochmals recht genau. Als du gestern abend schlafen gegangen bist, hast du fünf Stück gegessen.«
»Du sollst auch nicht lügen, Anna, – ich habe keine Pfirsiche gegessen.«
Anna stutzte. Die Entrüstung des Kindes war zu ehrlich, als daß sie sie für Verstellung ansehen durfte. Doch wie kamen die Kerne unter Pommerles Bett? Beim Aufräumen heute früh hatte Anna die Kerne gefunden. Konnte es möglich sein, daß die verschlagene Ida die Reste in Pommerles Zimmer geworfen hatte?
»Ist Ida oder Karoline gestern noch bei dir gewesen?«
»Nein, Ida ist schnell noch mal in den Garten gelaufen, sie sagte, sie wolle noch eine Nase voll frischer Luft mit ins Bett nehmen.«
»Wie kommen dann die Pfirsichkerne in dein Zimmer? Ich habe sie heute früh gefunden!«
Einen Augenblick überlegte das Kind, dann knallte die kleine Faust auf den Küchentisch nieder.
»Die Ida hat schon mal Pfirsiche geklaut, dann ist sie hingefallen. Anna, die Ida ist ein Dieb!«
Just in diesem Augenblick betrat Ida die Küche.
»Du hast Pfirsiche gegessen«, schrie Pommerle heftig ihre Spielgefährtin an, »dann hast du die Kerne zu mir in die Stube geschmissen!«
»Ich hab' keine Pfirsiche gegessen.«
»Doch, du hast Pfirsiche gegessen«, klang ein schüchternes Stimmchen hinter Ida. »Gestern abend, im Bett.«
Es war Karoline, die schon gestern abend der Schwester Vorwürfe über die Unfolgsamkeit gemacht hatte.
Schließlich erschien Frau Bender.
»Ich komme soeben aus dem Garten; mit Betrübnis stelle ich fest, daß sehr viele Pfirsiche genommen wurden. Anscheinend wurden sie mit einer Stange abgeschlagen, denn es liegen noch zahlreiche Früchte unter dem Baum. – Wer von euch hat genascht?«
Es blieb mäuschenstill. Pommerle wandte sich mit einem Ruck Ida zu.
»Na, willste denn nichts sagen?«
»Ich hab' nichts genommen.«
Pommerle schnaufte. Ungeduldig trat es von einem Fuß auf den anderen.
»Der – der Jule ist gestern noch im Garten gewesen. Vielleicht hat der die Pfirsiche genommen.«
Das war zuviel für Pommerle. Soeben hatte Karoline bestätigt, daß Ida gestern abend Obst gegessen hatte, und jetzt kam der arme Jule noch in den Verdacht, ein Dieb zu sein.
»Du sollst nicht lügen, du bist ein scheußliches, ein gräßliches Kind!«
Pommerle war auf Ida eingedrungen und versetzte der Aufweinenden eine gehörige Tracht Prügel. Als Frau Bender dazwischentreten wollte, rief die Kleine erregt:
»Laß, laß, Mutti, der Vati hat gesagt, schlechten Menschen tut 'ne Tracht Prügel gut. – Der Jule hat nichts genommen, – der Jule ist gar nicht im Garten gewesen. Du sollst nicht lügen, – du dummes Mädel aus dem Kellerloch! Geh nur bald wieder zurück in deinen Keller, dort kannst du den Leuten was vorlügen. – Da – – da haste noch eine! – So, und nu noch eine! Die Kerne hat sie in mein Zimmer geworfen. Dafür kriegste noch eine!«
»Pommerle!«
»Wer lügt, kriegt Prügel! – Der Jule hat die Pfirsiche nicht genommen!«
Schließlich ließ Pommerle von ihrem Opfer ab. Die Tränen liefen ihm über die Wangen vor Erregung und Zorn, daß sein lieber Jule so schmählich verdächtigt worden war.
»Geh in dein Zimmer, Pommerle, mit dir werde ich später reden.«
»Mutti, – du brauchst mir nicht böse zu sein, daß ich die Ida gehauen habe. Es tut mir gar nicht leid! Die Grete Bauer hat auch mal Prügel gekriegt, weil sie log. Dann hat sie nicht mehr gelogen. – Pfui, du Pfirsichdieb!«
»Geh hinaus, Pommerle!«
»Mutti – –« es klang recht jämmerlich. Als aber Pommerle den mahnenden Blick der Mutter sah, schlich es in sein Zimmer. Neben ihm saß Schnapp. Der schaute das traurige kleine Mädchen gar treuherzig an. »Ja, ja, Schnapp, das Leben ist schwer. Da sollen wir uns bemühen, gut zu sein, und dann schmeißen sie uns die Pfirsichkerne ins Zimmer. – Schnapp, ich habe dich ja viel lieber als die Ida. Dich gebe ich nicht her, aber die Ida mag ruhig in vier Tagen heimfahren.«
Ida bekam eine ernstliche Verweisung von Frau Bender. Sie weinte sehr und versprach sich zu bessern. Doch Frau Bender fürchtete, daß die guten Vorsätze nicht gerade ernst gemeint waren.
Ida bekam Stubenarrest, Karoline durfte zwei Pfirsiche essen.
»Ach, gnädige Frau«, meinte Anna, »ich kann es unserem Pommerle nicht verdenken, daß es der Ida Prügel versetzte. Ich war ja selbst recht ärgerlich auf das Kind.«
»Trotzdem will ich Pommerle ermahnen, es muß sich besser beherrschen lernen.«
In Pommerles Zimmer saß die Kleine, den geliebten Hund auf dem Schoß, als die Mutter eintrat.
»Ich weiß schon, liebe Mutti, was du meinst. Aber ich hatte doch so 'ne Wut im Leibe! Sei nicht böse. Dem guten Jule hat sie doch auch was angehängt. – Mutti, wenn du furchtbar böse auf mich bist, dann denk' doch dran, was der Bürgermeister von mir gesagt hat: Ich bin wie ein leuchtendes Beispiel.«
»Aber heute nicht, Pommerle.«
»Mutti, dann will ich mir Mühe geben, an einem anderen Tage wieder zu leuchten. Weißt du, du hast auch einmal zum Vati gesagt, du hättest an einem Tag so eine schlechte Stimmung. Die habe ich heute gehabt, – die hab' ich von dir gekriegt. Wenn die Ida erst wieder fort ist, leuchte ich noch viel heller als vorher.«
Da konnte Frau Bender nichts anderes tun, als ihr reuevolles Mädchen ans Herz zu nehmen und ihm einen verzeihenden Kuß auf die Lippen zu drücken.
Der Tag der Abreise der beiden Breslauerinnen rückte immer näher.
»Dich möchte ich noch hierbehalten, Karoline, aber die Ida kann wegfahren.«
Es kam aber ganz anders, als Pommerle wünschte. Die wohlverdienten Prügel, die die ältere der beiden Schwestern von Pommerle erhalten hatte, hatten nur den einen Erfolg gehabt, daß Ida aufs neue sann, wie sie Hanna ärgern könnte. Noch vor der Heimreise wollte sie ihr einen Streich spielen. Ida wußte, daß Pommerle an jedem Morgen und jedem Abend in die Kommodenschublade schaute, einen Stein herausnahm und ihn von allen Seiten betrachtete. Sie hörte von der Schwester, daß dieser Stein ein Geschenk des mächtigen Rübezahl sein sollte und fragte Pommerle darüber aus.
»Es war gar kein Rübezahl«, meinte die Kleine, »doch der Jule meint, es könnte mal sein, daß aus einem Stein Gold würde. Weil es der Mann nun gesagt hat, so guck' ich halt an jedem Tage mal nach, ob er vielleicht doch Gold geworden ist. Er blinkert schon ein bißchen. Guck' mal her!«
Ida lachte Pommerle aus, doch Hanna nahm es nicht weiter übel. Die Mutti hatte ja selbst gesagt, daß sich dieser Stein niemals in Gold verwandeln werde. Trotzdem wollte sie ihn gut verwahren.
Am Tage vor der Abreise der Kinder bemerkte Pommerle plötzlich, daß sein Rübezahlstein fehlte. Schon eine Stunde später sah sie ihn in Idas Händen.
Nicht um ihn zu stehlen, nur um Pommerle zu ärgern, hatte Ida den Stein an sich genommen, warf ihn in die Luft, fing ihn auf und rief Pommerle übermütig zu:
»Er wird ja doch nicht zu Gold, doch ich behalte ihn!«
»Der Rübezahl hat mir den Stein geschenkt, er ist mein Eigentum. Gib ihn mir!«
Ida stürmte in den Garten, Pommerle lief der Flüchtigen nach. Da schwang sich Ida leichtfüßig auf die Schaukel, setzte sie in Bewegung, so daß Pommerle ihr nicht nahekommen konnte.
»Hole dir doch den Stein! – So komm doch!«
Die Schaukel schwang immer heftiger, da – ein Schrei, – im nächsten Augenblick sah Pommerle Ida stürzen. Regungslos blieb das Kind liegen.
Die Kleine eilte ins Haus, rief nach der Mutter, nach Anna, die sofort kamen, um die bewußtlose Ida aufzuheben und ins Haus zu tragen. Das Mädchen war beim Sturz von der Schaukel auf die Gartenbank geschlagen und hatte sich am Kopf anscheinend schwer verletzt. Über das Gesicht sickerte Blut.
»Laufen Sie rasch zum Arzt, Anna, er soll sofort kommen«, ordnete Frau Bender an. Pommerle stand schreckensbleich neben der Bewußtlosen. Vergessen war aller Grimm, den es gegen Ida im Herzen hegte, nur unendliches Mitleid mit der Blassen griff im Herzen des Kindes Platz.
»Nun kann sie morgen nicht heimfahren«, weinte Karoline.
»Wein' mal nicht gar so sehr«, meinte Pommerle und legte zärtlich den Arm um die Jüngere, »wir werden sie gut pflegen. Ich habe meinen Schnapp auch gepflegt und auch den kleinen Sperling. Sie sind beide wieder gesund geworden. Die Mutti kann so schön gesundmachen. Wir geben Ida Schokolade, und ich erzähle ihr schöne Geschichten. Dann wird die Ida bald wieder besser.«
Der Arzt kam und stellte einen Beinbruch und eine Gehirnerschütterung fest. An eine Reise nach Breslau war nicht zu denken.
»Wir behalten Ida natürlich so lange hier, bis sie ohne jede Gefahr die Heimreise antreten kann«, meinte Frau Bender.
»Das kann Wochen dauern.«
»Es macht nichts. Vielleicht ist es für das Mädchen gut, wenn es noch länger in unserem Hause bleibt.«
Pommerle und Karoline erhielten den Befehl, im Hause sehr leise zu sein, denn Ida sei schwer erkrankt.
»Es ist gewiß recht traurig«, meinte Pommerle leise zu Karoline, »doch wenn sie mir den Stein nicht fortgenommen hätte, wäre sie nicht auf die Schaukel gestiegen und nicht heruntergefallen.«
»Und ich habe ihr heute früh gesagt, wenn sie soviel lügt, wird sie der liebe Gott eines Tages sehr strafen.«
Sinnend blickte Pommerle vor sich hin. Es erinnerte sich an den Spielgefährten in Neuendorf, der auch log. Ihn hatte die Strafe ereilt. Wahrscheinlich war der liebe Gott auch auf Ida böse geworden und hatte sie von der Schaukel fallen lassen.
Nach eifrigem Suchen wurde auch im Garten der Rübezahlstein gefunden. Am Abend, als Jule kam, als man ihm die traurige Kunde mitteilte, meinte er:
»Das hat der Rübezahl gemacht. Warum glaubt ihr nicht daran, daß er es war, der den Stein verschenkte! – Ich weiß es ganz gewiß, eines Tages wird der Stein doch zu Gold. – Heb' ihn dir nur gut auf, Pommerle.«
Und Pommerle verwahrte den Stein auch weiterhin sorgsam in seiner Kommode.