Читать книгу Die bekanntesten Kinder- & Jugendbücher - Magda Trott - Страница 32

Wer nicht hören will, muß fühlen

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Inhaltsverzeichnis

»Der Meister hat mir von deinem Fleiß erzählt, lieber Jule. Und auch du, Pommerle, hast in dieser Woche in der Schule nur gute Arbeiten geschrieben. Da will ich euch für morgen eine ganz besondere Freude machen. Wir fahren morgen im Hörnerschlitten von der Prinz-Heinrich-Baude zu Tale. Es heißt also sehr frühzeitig aufbrechen, weil wir mit dem ersten Zuge bis nach Krummhübel fahren wollen. Nicht verschlafen, Jule!«

Pommerle hing am Halse des Vaters und drückte ihn stürmisch.

»Hörnerschlitten fahren!« jubelte sie. »Hast du gehört, Jule? Das geht noch viel schneller, als wenn ich mit dem Roller fahre!«

Der Jule verdrehte verzückt die Augen. Hörnerschlitten fahren war schon immer seine Sehnsucht gewesen. Leider hatte er dieses Vergnügen nicht oft genießen können, es war zu teuer, seine Mutter konnte dafür kein Geld ausgeben, und mitgenommen wurde er nur hin und wieder einmal von Holzfällern.

»Es wird wohl der letzte Sonntag sein, den wir benutzen können«, sagte Herr Professor Bender. »Es beginnt zu tauen. Aber oben auf dem Kamm geht es noch.«

Pommerle wiederholte mehrfach voller Entzücken: »Hörnerschlitten fahren. – Ach, wenn es doch recht bald morgen wäre!«

Man hatte leider noch den ganzen Sonnabendnachmittag vor sich. Das Kind schaute nach der Uhr.

»Es ist erst sechs. Oh, da müssen wir noch eine ganze Nacht schlafen. Dann erst geht es auf den Hörnerschlitten.«

»Hast du auch deine Tiere gut versorgt, Pommerle?«

»Nun freilich«, klang es strahlend zurück. »Zum Sonnabend bekommt jedes eine Extrafreude. Der Kaufmann schenkt mir immer was für die Lora.«

»Ja, ja, ich weiß«, sagte Herr Bender seufzend. »Wann wirst du denn nun die Hunde und Katzen verschenken, Pommerle?«

Der Blondkopf machte ein pfiffiges Gesicht. »Vielleicht gar nicht, Vati. Sie sind alle so hübsch.«

Ehe Professor Bender darauf eine Antwort geben konnte, klingelte das Telephon auf dem Schreibtisch.

»Laß mich doch mal horchen, Vati.«

»Nein, Pommerle, zuerst will ich wissen, wer da ist.«

Jule und Pommerle saßen flüsternd in der Zimmerecke. Von Zeit zu Zeit jauchzte es auf: »Hörnerschlitten!« Plötzlich zog der Jule die Augenbrauen hoch. Er achtete nicht mehr auf Pommerles Geflüster, er lauschte den Worten des Professors.

»Bestellen Sie, bitte, dem Herrn Geheimrat, daß ich morgen selbstverständlich zu seiner Verfügung stehe. Es ist mir eine große Ehre, Herrn Geheimrat meine Sammlungen zeigen zu dürfen. Wann darf ich den Herrn Geheimrat erwarten?«

»Hast du gehört?« flüsterte der Jule.

»Dann kommt er eben mit auf den Hörnerschlitten.«

»Gut, um zwölf Uhr stehe ich zur Verfügung.«

Professor Bender legte den Hörer auf die Gabel und machte sich einige Notizen.

Pommerle trat an ihn heran.

»Kommt morgen noch einer mit auf den Hörnerschlitten?«

»Ja, mein liebes Kind, nun muß ich dir einmal eine große Freude zerstören. Die Fahrt nach Krummhübel am morgigen Sonntag muß leider unterbleiben. Der Vater bekommt Besuch von einem Herrn. Das ist für den Vater eine große Ehre, denn der Herr Geheimrat Unolt ist einer der berühmtesten deutschen Geologen. Er kommt eigens nach Hirschberg, weil er mich aus meinen Büchern kennt.«

»Du hast doch aber gesagt, wir fahren morgen mit dem Hörnerschlitten.«

»Das geht jetzt nicht mehr, mein Kind. Wir fahren ein anderes Mal.«

»Sie haben aber gesagt, wir fahren morgen. Da brauche ich ja auch nicht mehr so tüchtig beim Meister zu lernen, und das Pommerle braucht auch keine so guten Arbeiten zu schreiben, wenn doch nachher nichts los ist.«

»Ich denke, ihr werdet alle beide einsehen, daß der Besuch dieses berühmten Herrn für mich von größter Bedeutung ist. Herr Geheimrat Unolt ist ein Herr, der mir außerordentlich viel nützen kann.«

»Der Unhold kann an einem anderen Tage kommen. – Was hat der Kologe hier zu suchen! – Sagen Sie ihm, wir fahren morgen Hörnerschlitten. Am Montag sind wir ja wieder da.«

»Ja, der Unhold soll an einem anderen Tage kommen!«

»Ihr seid jetzt hübsch vernünftig.«

»Vati, wenn man was versprochen hat, muß man es halten.«

»Ich habe doch nicht gewußt, daß ich so ehrenden Besuch bekomme.«

»Wir pfeifen auf den Besuch«, brummte der Jule. »Der Kologe soll bleiben, wo er ist.«

»Das ist ein Geologe, lieber Jule; ein Mann, der Gesteinkunde studiert hat und der –«

»Ich kann Ihnen auch viele Steine bringen. – Ich möchte doch morgen Hörnerschlitten fahren.«

»Wenn du jetzt noch ein Wort sagst, Jule, ein Wort in diesem Ton, darfst du morgen gar nicht herkommen.«

»Wenn ich morgen doch nicht Hörnerschlitten fahre, liegt mir auch nichts daran.«

»Schön, dann bleibst du morgen bei Meister Reichardt. Ich will dich hier nicht sehen.«

Pommerle streichelte dem Jule die Wange. »Siehst du, Jule, das haben wir nun davon. Erst sollen wir Hörnerschlitten fahren, und weil dann das dumme Telephon klingelt, und weil so ein alter, neugieriger Mann herkommt, muß der Vati sein Wort brechen.«

»Ich hoffe, mein liebes Pommerle, daß du nicht auch so unvernünftig bist wie der Jule. – Komm einmal her zu mir.«

Professor Bender hob die Kleine auf die Knie.

»Nun höre mich einmal an. – Du weißt doch, daß sich der Vati sein Geld zum Leben durch Schreiben von Büchern verdient. Das ist nicht immer leicht. Nun hat er ein Buch geschrieben, viele, viele Jahre lang hat er dazu gebraucht. Dieses Buch haben ganz berühmte Leute gelesen, und das Buch gefällt. Nun kommt so ein ganz berühmter Mann zu deinem Vati und will ihm recht viel Schönes und Liebes sagen. Der Vati hat darüber große Freude und ist sehr glücklich, daß der Herr Geheimrat morgen kommt.«

»Ich wäre aber auch sehr glücklich, wenn ich morgen Hörnerschlitten fahren könnte.«

»Ich habe dir doch eben gesagt, liebes Pommerle, daß es für deinen Vater eine Freude ist, wenn berühmte Leute sein Buch schön finden.«

»Na ja, Vati, ich finde den ›Struwelpeter‹ auch sehr schön. Aber der Mann könnte doch auch an einem anderen Tage kommen. Dann könnten wir morgen doch Hörnerschlitten fahren. Hier, Vati«, Pommerle nahm das Telephon zur Hand, »sage ihm, er soll am Montag kommen, und wir fahren dann morgen doch Hörnerschlitten.«

»Ich habe gedacht, daß mein Pommerle seinem Vati eine große Freude gönnt.«

»Nun ja, Vati, aber du hast doch auch Freude, wenn du Hörnerschlitten fährst.«

»Er kann ja mitkommen«, klang es aus der Ecke her. »Auf einem Hörnerschlitten kommen wir sowieso nicht alle weg. Sie können sich doch unterwegs von Ihrem Buche unterhalten.«

»Jetzt ist es genug«, sagte Bender. »Morgen wird daheim geblieben. Sollte sich das Wetter halten, werden wir am nächsten Sonntag fahren.«

»Und dann kommt wieder so ein Unhold«, maulte der Jule. »Ich glaub's nicht mehr!«

»Jule! Habe ich dich schon jemals belogen?«

»Nein, Vati«, rief Pommerle dazwischen. »Aber gesagt hast du doch, daß wir morgen Hörnerschlitten fahren.«

»Es war ein Plan, mein Kind, der nun durch Geheimrat Unolt durchkreuzt wurde.«

»Wenn man schon Unhold heißt«, murmelte Jule. »Wenn mir der Unhold unter die Finger käme! – Ich bin ja schon still!«

Jule verschwand aus dem Zimmer, und Pommerle eilte hinter ihm her.

»Wollen wir zur Mutti gehen? Sie freut sich auch so sehr – oder vielleicht weiß sie noch gar nichts. Vielleicht sagt sie ja, und dann fahren wir mit der Mutti.«

Die beiden Kinder stürmten in Frau Benders Zimmer.

»Hat dir Vati auch gesagt, daß wir morgen Hörnerschlitten fahren?«

»Jawohl. Du siehst, die Mutti sucht schon alles zusammen.«

»Laß mal sein«, sagte das Kind mit wegwerfender Handbewegung. »Ein Unhold kommt an und macht uns alles kaputt.«

»Nein, Pommerle, der Vati hat gesagt, wir fahren, und dann ist es auch so.«

»Nee, so ist es eben nicht«, rief Jule ergrimmt. »Vor einer Viertelstunde hat er ja gesagt, nu sagt er nee.«

»Waret ihr vielleicht unartig?«

»Ganz im Gegenteil. Der Meister hat mich gelobt, und Pommerle hat gut gearbeitet. Da denkt man nun, man kann endlich mal wieder Hörnerschlitten fahren, und dann kommt der Unhold.«

Jules Faust fiel auf den Tisch, daß die daraufstehenden Gläser klirrten.

»Weiht du, Mutti, wir wollen jetzt alle furchtbar böse sein, wenn der Vati durchaus nicht will. Die Uhse Minna hat mir gesagt, ihre Mutter macht immer so lange Krach, bis der Vater nachgibt. – Wollen wir mal auch so sein?«

»Aber, Pommerle!«

»Na ja«, sagte das Kind kleinlaut, »wenn der Vati doch gesagt hat, daß wir morgen Hörnerschlitten fahren, und ich möchte doch so gern fahren. Mutti, ich wünsche mir noch hinterher zu Weihnachten, daß ich morgen Hörnerschlitten fahre.«

»Willst du endlich schweigen!« Professor Bender stand in der Tür. Er war gekommen, um seiner Frau den angekündigten Besuch zu melden. Schon ein ganzes Weilchen hatte er die temperamentvollen Äußerungen seiner Tochter gehört. »Soll ich dich ernstlich bestrafen, Pommerle?«

»Wenn – wenn –« Mehr wagte das Kind nicht zu sagen. Von unten heraus schaute es den zürnenden Vati an.

»Ihr geht sofort hinaus!«

Unter der Treppe, neben dem Hundelager, kauerten die beiden Kinder. Pommerle erzählte den Tieren, daß aus der schönen Hörnerschlittenfahrt nun nichts werde, weil ein Unhold dazwischengekommen sei.

»Ich fahre überhaupt nicht mehr mit. Und wenn er mich das nächste Mal noch so sehr bittet, ich bleibe daheim. Ich lasse mir nichts vormachen!« Jule stampfte zu seinen Worten mit dem Fuße auf.

»Wollen wir morgen allein Hörnerschlitten fahren? Ich auf dem Roller, und du auf deinem Rade?«

»Ein Gedanke! Ich habe einen Rodelschlitten fertiggemacht, einen Doppelsitzer. Wollen wir am Vormittag hingehen?«

»Au ja, wenn der Unhold beim Vati ist.«

»Wird gemacht«, rief der Jule. »Wenn er nicht mit uns Hörnerschlitten fährt, fahren wir allein.«

»Ja, das machen wir«, bekräftigte Pommerle. »Jule, holst du mich ab?«

»Nee, ich darf ja morgen nicht herkommen.«

»Aber vorbeikommen kannst du doch und draußen kräftig pfeifen. Wann kommst du denn?«

»Wenn wir morgen doch nicht Hörnerschlitten fahren, brauche ich auch nicht so früh aufzustehen. Ich komme um elf.«

»Ist gut, dann bin ich weg, wenn der Unhold kommt. Ich kann den Mann gar nicht leiden, Jule.«

»Geizig ist er. Soll er sich doch das Buch von deinem Vati kaufen, dann kann er sich die Bilder besehen, die drin sind. Dazu kommt er doch nur her, weil er sich das Buch nicht kaufen will. Und darum können wir nicht Hörnerschlitten fahren.«

»Schrecklich!«

»Wenn du dann mittags heimkommst, dann sagst du: ›Ätsch, jetzt sind wir auch Hörnerschlitten gefahren.‹«

»Au ja, das sage ich!«

Die beiden kleinen Bösewichter waren sich einig. Wenn ihnen der Vati das Vergnügen verdarb, wollten sie sich auf eigene Faust eins schaffen. Schon lange bastelte der Jule an einem Rodelschlitten herum. Den wollte man morgen einmal benutzen.

»Wohin gehen wir denn?«

»Weiß noch nicht. Es muß sehr steil sein, gerade so wie von der Prinz-Heinrich-Baude herunter.«

Diese versprochene Rodelpartie schien für Pommerle zwar nur ein schwacher Ersatz, aber immerhin, es war doch ein Vergnügen. Nun mochte der Unhold stundenlang in die Bücher des Vaters gucken. Pommerle würde sich mit Jule schon vergnügen.

Beim Abendessen war viel die Rede von Professor Unolt. Pommerle machte ein verächtliches Gesicht. Der Mann, der sich nicht einmal Vatis Bücher kaufte, imponierte dem Kinde gar nicht.

»Nun, Pommerle, hast du dich wieder beruhigt? Bist du jetzt wieder artig? Sollte es mit der Hörnerschlittenfahrt nichts mehr werden, sollte es weiter so stark tauen, so hat dein Vater noch eine andere Freude für dich in Aussicht.«

Pommerle verzog die Lippen. »Was denn?«

»Vati und Mutti fahren zu Ostern, das sind nur noch fünf Wochen, nach Breslau. Dann nehmen wir dich mit. Ist das nicht schön?«

»Fahrt ihr auch, wenn wieder Besuch kommt?«

»Ja, mein Kind, auch dann. Der Vater hat dort einen Kongreß, den will er besuchen.«

»Na, wollen mal sehen. Also zu Ostern.«

Pommerle rechnete aus, daß es doch bis zu Ostern noch ziemlich lange sei. Da lagen noch fünf Sonntage dazwischen. Das Kind nahm sich vor, die Eltern öfters einmal an die Breslauer Reise zu erinnern, daß sie nicht in Vergessenheit gerate. Zunächst erhoffte es aber, daß neuer Schnee fiele, daß man am nächsten Sonntag doch noch Hörnerschlitten fahren konnte.

Im Hause von Professor Bender herrschte am heutigen Sonntag ziemliche Erregung. Es war etwas ganz Seltenes, daß der berühmte Geheimrat Professor Doktor Unolt die Wohnung eines Gelehrten aufsuchte. Bisher war diese Auszeichnung nur einem einzigen Herrn in München zuteil geworden.

Frau Bender war sehr stolz darauf, den Geheimrat als Gast in ihrem Haus begrüßen zu können, und auch Professor Bender fühlte sich hochgeehrt.

So kam es, daß man am Sonntag vormittag Pommerle allein ließ, daß es auch keinem auffiel, als sich das Kind gegen elf Uhr entfernte. Pommerle ging ja öfters zu Freundinnen oder zur Eisbahn; Frau Bender hatte dem Kinde nur freundlich zugenickt, als es fragte, ob es ein bißchen fortgehen dürfe.

Im selben Augenblick ertönte von der Straße her Jules schriller Pfiff. Pommerle eilte hinaus und bewunderte den prachtvollen neuen Rodelschlitten.

»Wann hast du denn den gemacht?«

Jule sah sich verlegen um. »Die größere Hälfte in meiner Freizeit. Aber zum Schluß habe ich etwas gemogelt. Na, ich denke, es wird nichts schaden.«

»Der Meister hat dich aber gelobt. Ach, Jule, wenn der alte Unhold nicht gekommen wäre, wären wir jetzt in Schreiberhau.«

»Wegen so eines Kologen kommen wir um unser schönes Vergnügen.«

Während der Wanderung hinaus zum Rodeln wurde nur von der vereitelten Partie gesprochen. Pommerle erzählte, daß es zu Ostern nach Breslau fahren solle. Es habe sich aber viel mehr auf die Hörnerschlittenfahrt gefreut.

»Brauchst dich auf Breslau gar nicht erst zu freuen; du kommst ja doch nicht hin. Es kommt bestimmt wieder Besuch. Ich kenne das. Aber dafür rodeln wir heute wie die Verrückten!«

»Ja«, sagte das Kind, »je toller, desto besser.«

Jeder Hang, der sich zum Rodeln eignete, wurde kritisch betrachtet. Heute erschien den beiden nichts steil genug. Immer wieder meinte der Jule: »Ich hab' 'ne Wut in mir, die muß erst wieder 'raus!«

»Ich hab' auch 'ne Wut in mir«, meinte Pommerle.

Sie wanderten weiter. Plötzlich wies Jule auf einen ziemlich steilen Hang.

»Das wäre fein!«

»Na, da werden wir wohl kopfüber gehen.«

»Pah, du Feigling! Auf dem Schlitten geschieht uns nichts! Ich lenke ja auch.«

»Ein bißchen steil ist es ja, und viele Bäume stehen auch hier.«

»Dann fahre ich eben allein.«

Schon stieg der Jule den Hang hinan. Das kleine Mädchen kam zögernd nach.

Kurz darauf sauste der Jule mit dem Schlitten, eine fabelhafte Geschicklichkeit im Lenken zeigend, an Pommerle vorüber.

»Wenn ich hundertmal heruntergerodelt bin, ist es mit meiner Wut wieder besser. Willst du nun aufsitzen?«

Jubelnd wurde die gefährliche Rodelbahn benutzt.

»Im Hörnerschlitten wäre es ja noch schöner«, meinte das kleine Mädchen. Aber schließlich mußte es doch zufrieden sein. In diesem Augenblick wäre der Schlitten beinahe an einen Baum gefahren. Doch gerade das bereitete dem Jule ungeheures Vergnügen.

»Ich bin aber erschrocken«, meinte Pommerle.

Das war dem übermütigen Jule gerade recht. Er konnte sich auf seine Lenkkünste verlassen. Beim nächsten Male wollte er noch einmal, ganz genau so dicht an der Tanne vorüberfahren.

»Aufgesessen!« kommandierte er. »Die Hörnerschlittenfahrt geht los!«

»Los!« klang es hinter seinem Rücken.

Und dann geschah das Unglück. Jule hatte die Gewalt über den sausenden Schlitten verloren, er fuhr mit aller Wucht an einen Baum, Jule empfand einen schmerzenden Schlag gegen den Kopf, der ihm für die nächsten Sekunden die klare Besinnung nahm. Es klang aber, als ob jemand neben ihm furchtbar aufschrie.

Als er wieder zu sich kam, lief ihm etwas Warmes über das Gesicht. Er wischte es fort. Seine Hand war voller Blut.

»Pommerle!«

Ein Stöhnen drang zu ihm herüber. Der Jule richtete sich auf. Etwa zehn Schritte von Jule entfernt lag Pommerle im Schnee. Es sah totenblaß im Gesichtchen aus. Die Kleine blutete auch. Die Trümmer des Schlittens waren weit im Umkreise verstreut.

»Ich kann nicht aufstehen. Oh, es tut so furchtbar weh!«

Nochmals wischte sich der Jule das rinnende Blut von der Stirn, dann ging er zu Pommerle, um ihm zu helfen.

»Mein Fuß!« schrie das Kind qualvoll.

»Du mußt aufstehen«, meinte der Jule. »Beiße fest die Zähne zusammen.«

Er versuchte, abermals zu helfen; doch wieder sank das Kind aufschreiend zurück in den Schnee.

»Hast du ihn vielleicht gebrochen?«

»Ich glaube, ich habe alles gebrochen«, weinte das Kind. »Ach, mein Fuß!«

»Im Gesicht hast du auch eine große Schramme.«

Jule wischte der Weinenden das Blut ab.

»Ach, es tut so weh! – Ach, mein Fuß! Und hier in der Seite sticht es. – Ich will heim!«

»Versuch doch noch mal zu laufen – nur auf einem Fuße. Ich helfe dir.«

Es gelang dem Jule, das Pommerle aufzurichten, obwohl das Kind dabei furchtbar stöhnte. Doch nach dem ersten Hüpfen sank Pommerle erneut zur Erde.

»Ach, Jule, es tut so furchtbar weh!«

Jule sah, wie das Kindergesicht immer blässer wurde. Schließlich war es weiß wie Kalk, die Lippen färbten sich bläulich. Pommerle schloß die Augen. Es war vor Schmerzen ohnmächtig geworden.

»Pommerle! – Rübezahl!«

Der Jule achtete nicht des rinnenden Blutes, das auf seine Jacke tropfte. Er packte Pommerle an der Schulter und schüttelte es.

»Du sollst nicht sterben! – Was hast du denn? – Pommerle, mach doch die Augen auf – ich trage dich heim!«

Ein Weilchen gab das Kind keine Antwort. Der Jule rieb dem Kinde die Stirn mit Schnee.

Endlich schlug Pommerle die Augen wieder auf.

»Mein Fuß, ach, mein Fuß!«

»Bleib ruhig hier liegen, ich hole Hilfe herbei. Dort unten wohnen Leute. Fürchte dich nur nicht, liebes Pommerle, es ist alles gar nicht so schlimm.«

»Ich will nicht allein bleiben, Jule, ich will heim!«

»Ich kann dich doch nicht tragen. Willst du nicht noch mal hüpfen?«

Aber Pommerle fühlte sich so matt, daß es sich kaum aufrichten konnte. Es stöhnte fürchterlich.

Jule war in Todesängsten. Hilfe mußte geholt werden. Pommerle konnte unmöglich im Schnee liegenbleiben. Wenn doch wenigstens der Schlitten ganz geblieben wäre! Er stürmte davon, obwohl Pommerle jämmerlich hinter ihm drein rief.

Das nächste Haus war immerhin zehn Minuten von der Unglücksstelle entfernt. Eine Holzfällerfamilie bewohnte es. Die Frau schlug die Hände zusammen, als sie den blutenden Knaben sah. Er berichtete hastig, was sich ereignet hatte, und bat um Hilfe.

Die Frau rief nach dem Manne, nach dem Sohne. Man holte einen kleinen Handwagen, auf den man Decken legte. Der Jule zeigte die Unglücksstelle. Pommerle schrie wild auf, als man es auf den Wagen bettete.

Dem Jule hatte man mit einem feuchten Tuch das blutende Gesicht abgewischt und einen Notverband angelegt.

So ging die traurige Fahrt heim.

»Vielleicht ist es besser«, meinte der Jule, »wir fahren zu Meister Reichardt, nicht zu Professor Bender. Wenn er Pommerle so sieht, wird er schimpfen.«

»Unsinn«, meinte der Mann. »Je eher das Kind daheim ist, um so besser. Und du kannst gleich zum Arzt laufen, Jule.«

»Bringen Sie auch das Pommerle gut heim?«

»Freilich, wir sind ja zwei. Dich kann der Arzt auch gleich richtig verbinden.«

Ein Weilchen ging der Jule noch neben dem Wagen her. Als man aber in die Nähe des Benderschen Hauses kam, war er froh, daß er sich entfernen konnte.

Frau Bender bekam einen namenlosen Schreck, als man ihr sagte, was sich ereignet hatte. Pommerle hatte sich wahrscheinlich das rechte Bein gebrochen und auch noch andere kleine Verletzungen erlitten.

Doktor Klaus war sehr schnell zur Stelle. Er untersuchte das Bein des Kindes und stellte neben einem Beinbruch fest, daß ein Holzsplitter in Pommerles Wange und einer in die Hüfte gedrungen sei.

»Die Kleine wird sehr lange zubringen müssen, ehe der Fuß wieder brauchbar ist.«

Pommerle mußte die größten Schmerzen ertragen. Wie weh tat die Untersuchung, wie schmerzhaft war das Strecken des gebrochenen Beines! Es schrie oftmals wild auf. Immer wieder rannen die Tränen über das Gesicht.

Frau Bender hatte kein Wort des Vorwurfs für das Kind, aber Pommerle fühlte doch, daß es ein großes Unrecht begangen hatte, daß der Unfall die Strafe für seinen Trotz war.

In den ersten Tagen waren freilich die Schmerzen so groß, daß Pommerle an nichts anderes denken konnte. Aber allmählich kam ihm die Erinnerung an sein Verhalten an jenem Sonnabend. Wie häßlich war es zu dem guten Vati gewesen. An diesem Sonnabend war auch der Plan entstanden, zu rodeln. Je toller, desto besser! Aus Trotz hatte man jenen steilen Hang gewählt. Nun war diesem Trotz die Strafe gefolgt.

Es dauerte mehrere Tage, ehe sich Jule im Benderschen Hause sehen ließ. Er hatte den Kopf noch immer verbunden. Als er den Professor erblickte, schlug er schuldbewußt die Augen nieder.

»Gebe der Himmel, Jule, daß der Bruch und die Wunden gut heilen. Ich glaube, du würdest dein Leben lang nicht mehr froh werden können, wenn unser Pommerle ein verkürztes Bein behielte und immer hinken müßte. Du wirst –«

Der Jule wartete den Schluß der Rede nicht ab. Ihm war es, als müsse er laut herausheulen. Ohne Mütze lief er davon, diese hatte er im Hausflur fallen lassen. Nur weiter, immer weiter, hin zum Hausberge, hin zu Rübezahl, um den mächtigen Berggeist anzurufen, daß er jetzt dem Pommerle beistehe. Aber der Rübezahl hatte wohl hier die meiste Schuld. Nun mußte er ihn bitten, daß er alles wieder in Ordnung bringe. Schon manches Mal hatte der Rübezahl auf Jules Ruf gehört. Warum sollte es der mächtige Berggeist heute nicht auch wieder tun?

Der Jule stürmte den Hausberg hinan. Oben streckte er beide Arme zum Himmel und schrie, so laut er konnte:

»Fürst Rübezahl, du thronst so stolz

In deinem Wolkensitz.

In deinem Mantel spielt der Sturm,

Ums Haupt zuckt dir der Blitz.

Laß deine schlimmen Launen ruhn,

Oh, zeig' dich mild gesinnt.

Es flehet hier, gar demutsvoll,

Ein armes Menschenkind.

Oh, Geist der Berge, gnädig hör'

Auf dieses Stoßgebet.

Ich glaube auch mein Leben lang

An deine Majestät!«

Der Jule flehte für das Wohlergehen seines geliebten Pommerle.

»Ich will meinetwegen bis an mein Lebensende mit einer zerschundenen Stirn herumlaufen, aber mach' das Pommerle wieder gesund!« –

Nicht nur Jule, auch Sabine ging oft zu der kleinen kranken Freundin. Da lag nun Pommerle, blaß und schmal in seinem Bett und durfte sich kaum rühren, trotz der großen Schmerzen, die es hatte. Draußen war wieder Schnee gefallen, neuer Frost war gekommen.

Und als der nächste Sonntag kam, blickten zwei Kinderaugen unendlich wehmutsvoll durch das Fenster hinaus.

»Heute wären wir Hörnerschlitten gefahren«, sagte Pommerle ganz leise, daß es niemand hörte.

Kurz darauf kam die Mutter ins Zimmer. Da war es mit Pommerles Fassung vorbei.

»Ach, Mutti, jetzt weiß ich aber wirklich, daß der Himmel alles Böse bestraft. Ich bin sehr unartig gewesen. Und der Jule auch. Ich habe dem Vati seine große Freude nicht gegönnt, daß der Unhold zu ihm kam. Ich habe vergessen, daß ihr immer lieb und gut mit mir seid. Und nun habe ich das Bein gebrochen. – Bin ich denn zu Ostern wieder ganz gesund?«

»Hoffentlich, mein Pommerle. Aber richtig wieder laufen wirst du dann noch nicht können.«

»Fährt der Vati zu Ostern nach Breslau – und du auch?«

»Vati fährt hin, aber ich werde bei meinem kranken Liebling bleiben.«

Einige Augenblicke schwieg das Kind. Dann zog es erneut seine Mutti zu sich nieder.

»Nun habe ich dir auch diese Freude kaputt gemacht. Nun kannst du nicht fahren, weil ich unartig war.«

»Werde mir nur wieder ganz gesund, mein Pommerle.«

»Du schimpfst ja gar nicht, Mutti«, meinte das Kind, »weil das Vergnügen kaputt geht? Du bist immer lieb und gut. – Ach, Mutti, ich will es auch nicht mehr tun. Wenn was sein soll und es ist nicht, werde ich immer zufrieden sein. Ich will wirklich nicht mehr so schlecht sein, ganz wirklich nicht. – Glaubst du mir?«

»Ja, mein Liebling, ich glaube es dir.«

Ein zärtlicher Kuß besiegelte das Versprechen des Kindes.

An diesem Sonntag bereitete Jule seiner kleinen Freundin unabsichtlich Kummer.

»Es wird schon so kommen«, sagte er. »Das eine Bein wird überhaupt nicht mehr gesund, und dann kannst du gar nicht mehr auf die Berge steigen. Du kennst doch die Lina, die kann auch nicht auf die Berge gehen, weil das eine Bein krank ist.«

»Wird mein Bein denn nie wieder gesund?«

»Wenn es doch zerbrochen ist. Wenn mir eine Latte zerbricht, kann ich sie auch nicht mehr zusammenleimen. Du wirst nun wohl dein Leben lang hinken.«

Da wurde Pommerle sehr still. Nur ein paar Tränen rannen ihm über das Gesichtchen.

Wieder kam Frau Bender und sah die Veränderung in den Zügen ihres kleinen Töchterchens.

»Was bedrückt dich denn so sehr, mein liebes Kind? Hast du einen Wunsch?«

»Mutti, kennst du das Lied, das der Harfen-Karle gesungen hat?«

»Nein, mein Liebling.«

»Ich bin gesund und wohlgemut,

Und das ist wohl mein größtes Gut.«

»Du wirst auch wieder gesund werden, kleines Pommerle.«

»Der Jule sagt«, klang es schluchzend, »ich werde nie wieder auf die Berge gehen können und muß immer so laufen wie die Lina. Aber das ist mir ja ganz recht. Ich war so unartig.«

»Der Himmel wird dafür sorgen, mein Kind, daß alles wieder in Ordnung kommt. Du hast nun eingesehen, daß du trotzig und ungezogen warst. Du hast mir versprochen, in Zukunft ein liebes Mädchen zu sein. Ich glaube, der Fuß wird so ausheilen, daß du auch wieder auf die Berge gehen kannst. Freilich wirst du dich noch ein ganzes Weilchen gedulden müssen.«

Mit dem Vati hatte Pommerle eine lange Aussprache im Flüsterton.

»Jetzt kann jeden Sonntag meinetwegen ein Geheimrat Unhold kommen, ich will nicht mehr brummen. Ich weiß, daß du mich furchtbar lieb hast und mir immer Freude machen willst. Ich möchte nur wieder ganz gesund werden, damit ich auf die Berge gehen kann. Und auch wieder mal an die Ostsee, Vati. Ob ich wohl wieder ganz gesund werde?«

»Wir wollen es hoffen, mein Kind.« –

Im Garten wurden die Hecken grün. Da durfte Pommerle mit einem Stock die ersten Gehversuche machen.

Der Jule war gerade dabei, er schluckte mehrfach an den aufsteigenden Tränen. Das alles hatte er verschuldet. Aber das kam davon, daß er den Schlitten in den Arbeitsstunden fertiggemacht hatte und dem guten Herrn Professor gegenüber frech gewesen war.

Auch Sabine war gekommen, um Pommerle zu seinen ersten Gehversuchen zu beglückwünschen. Das Kind ging sehr unsicher und stellte den verletzten Fuß behutsam auf.

»Ach, Sabine, jetzt erst weiß ich wirklich, daß Gesundheit das höchste Gut ist. Das ist noch viel besser und viel schöner, als wenn man Hörnerschlitten fährt. Wenn ich nun erst wieder zum Harfen-Karle gehen könnte, daß er mir das Lied singt. Es war so schön!«

»Ich habe meine Laute mitgebracht, Pommerle, ich weiß, du hörst gern singen. Ich kann zwar keine so schönen Lieder wie der Harfen-Karle, aber ich kann auch eins, das dir bestimmt Freude macht, über das du nachher, wenn du wieder im Bett liegen mußt, ein wenig nachdenken kannst.«

»So singe es«, bat Pommerle.

Die blinde Sabine nahm die Laute, setzte sich auf einer Bank nieder und begann mit ihrem feinen, süßen Sümmchen:

»Was frag' ich viel nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin,

Gibt Gott mir nur gesundes Blut, so hab' ich frohen Sinn,

Und sing' mit dankbarem Gemüt mein Morgen- und mein Abendlied.«

»Ja«, sagte Pommerle leise, »so ist es. Das ist dasselbe, was der Harfen-Karle sagte. Gesund möchte ich wieder werden, und zufrieden will ich in Zukunft immer sein. Ich habe ja viel mehr als alle die anderen. So viele sind krank, so viele müssen hungern und frieren, und ich habe alles, alles im Überfluß. Ich danke dir, Sabine. Singe mir das Lied noch einmal.«

Sabine tat es. Pommerle winkte Jule herbei.

»Nun hast du es auch gehört, Jule. Ob ich wohl wieder ganz gesund werde und das größte Gut habe?«

Acht Tage später erklärte Doktor Klaus, daß das Bein recht gut geheilt sei, daß Pommerle in kurzem wieder laufen und umherspringen könne, genau wie früher.

Frau Bender umarmte ihren kleinen Liebling zärtlich.

»Ach, Mutti«, sagte das Kind mit feuchten Augen, »es war schlimm, so lange krank zu sein, aber glaube mir, ich habe doch manches überlegt. Du hast so oft gesagt, ich bin dein liebes Töchterchen. Ach, Mutti, ich will von nun an wirklich dein liebes Pommerle sein und bleiben!«

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