Читать книгу Feuerglimmen - Magdalena Pauzenberger - Страница 11

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Kapitel 6 – Marlena

Wir stapfen nun seit circa einer halben Stunde durch den sonnenbeschienenen Schnee, der unter jedem unserer Schritte vor Kälte knirscht. Ich fühle mich völlig ausgelaugt, jedoch nicht körperlich, sondern geistig. In etwa so, wie ich mich manchmal gefühlt habe, wenn ich den ganzen Tag lang nichts anderes getan habe, als zu lernen. Doch diese mentale Erschöpfung ist gerade um ein Vielfaches schlimmer. Immer wieder entgleitet mir mein Blick, wird unscharf und meine Augen drohen, zuzufallen. Und so versuche ich standhaft, mich auf den alten Mann vor mir zu konzentrieren, während ich viel zu oft blinzle, doch meine Augen brennen trotzdem wie verrückt.

»Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst erschöpft aus.« Vorsichtig streift Valentins Arm den meinen. Unsere Schultern berühren sich durch die dicken Jacken hindurch und ein beruhigendes Wärmegefühl lullt meine Gedanken ein. Ich bin sogar zu müde, um ihn auf Abstand zu halten.

Ich nicke. »Alles okay. Aber ja du hast recht. Ich bin, warum auch immer, ganz schön geschafft. Ich hoffe, wir haben keinen Tagesmarsch vor uns.«

Der Mann hat nicht gesagt, wie weit es zu seinem Unterschlupf sein würde. Nachdem Valentin ihn losgebunden hatte, hat er uns lediglich zu erkennen gegeben, dass wir ihm folgen sollen, und dann ist er auch schon schweigend losgestapft.

Ich weiß nicht, woran es liegt, doch weder Valentin noch ich, haben genauer nachgefragt. Valentin wirkt generell gerade sehr in sich gekehrt. Ich mustere ihn von der Seite. Keinesfalls unauffällig. Doch er scheint meinen analysierenden Blick nicht zu bemerken. Auf seinen Zügen liegt eine hilflose Gleichgültigkeit, die mir überhaupt nicht gefällt. Nicht nur, weil ich mich bislang immer auf sein Durchhaltevermögen und seinen Kampfgeist verlassen konnte, sondern auch, weil man Gefühle nun mal nicht einfach so abschalten kann. Es waren nur wenige Tage, in denen wir uns nähergekommen sind. Und doch haben mir diese Tage so viel bedeutet. Er hat mir viel bedeutet. Und auch jetzt ist er mir alles andere als egal. Ich konnte früher nie verstehen, wie Menschen immer noch zu ihren Lieben halten können, wenn diese schreckliche Dinge getan haben. Doch jetzt befinde ich mich in einer ähnlichen Situation und auch ich schaffe es nicht, Valentin als kaltes Monster zu sehen. Ich meine, ja, ich kann mich nicht selbst belügen: Er hat Menschen getötet. Doch ich sehe so viel mehr in ihm: ich sehe seine Fürsorge, mit der er sich um mich gekümmert hat, als ich ihn immer und immer wieder von mir gestoßen habe. Ich sehe die Angst um mich in seinen Augen, als ich mich selbst beinahe aufgegeben habe. Ich sehe den Blick, den er mir zugeworfen hat, bevor wir uns das erste Mal geküsst haben, so voller Glück und Zuneigung. Ich sehe in ihm einen Beschützer, doch ich sehe auch ein egozentrisches Arschloch. Und ich sehe, wie er Menschen das Leben raubt. Und doch kann ich immer noch nicht sagen, was davon er ist, und zwar sein wahres Selbst, und was davon die Marionette der praeditii iuveni ist, zu der sie ihn über die Jahre geformt haben. Hin und wieder stelle ich mir vor, wie ich ihre Fäden durchschneide und ihn von ihrem Einfluss befreie. Und doch weiß ich nicht, ob das noch möglich ist, oder ob er dieses grausame und gewaltreiche Leben nicht bereits viel zu sehr verinnerlicht hat, als dass man es gänzlich von ihm entfernen könnte. Ich muss an einen Parasiten in seinem Körper denken, der sich schon viel zu stark ausgebreitet hat. Ein Schütteln jagt durch meine Glieder beim Versuch dieses eklige Bild aus meinen Gedanken zu verdrängen.

»Kommst du, Marlena?« Valentins Stimme reißt mich aus meinen Grübeleien. Ich habe wohl immer mehr getrödelt und so schließe ich nun hastig zu den beiden Männern auf.

»Wo führen Sie uns überhaupt hin?«, fragt der jüngere den Alten.

»Das habe ich euch doch bereits gesagt, Jungchen: zu mir. Du solltest wirklich besser aufpassen, wenn jemand mit dir spricht«, tadelt der Ältere ihn.

Valentin seufzt genervt auf, verkneift sich aber einen beleidigenden Kommentar, auch wenn ich mir sicher bin, dass er ihm bereits auf den Lippen lag.

»Ich wollte doch nur wissen, wo es langgeht und wie weit es dorthin ist.«

»Kinder, folgt mir einfach, ich weiß schon, wo wir hinmüssen. Und quengelt bloß nicht herum, wir sind da, wenn wir eben da sind.«

Ich hasse dumme Antworten auf ernst gemeinte Fragen. Kurz berühre ich Valentins Arm, um still seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich verdeutliche ihm so gut es geht mit einem Schulterzucken und gleichzeitigem Kopfschütteln, dass er es bleiben lassen soll. An diesem alten Mann beißt er sich sonst noch die Zähne aus. Alles verschwendete Energie. Energie, die wir sicherlich brauchen werden.

Auch ich frage mich, wie lange wir noch weiterwandern sollen. Inzwischen ist die Nässe des Schnees durch das Kunstleder meiner Stiefel gedrungen und meine Socken und Zehen sind starr vor feuchter Kälte. Mit Verbissenheit versuche ich, meine Zähne am Klappern zu hindern. Unvermittelt komme ich ins Straucheln, fange mich aber wieder. Es ist als würde mein Gehirn einfach nur noch schlafen wollen und meinen Körper gegen meinen Willen dazu drängen, schlapp zu machen, obwohl wir kaum mehr als eine Stunde unterwegs sein können.

Der Horizont verliert immer mehr seine Farbe, während die Sonne hinter den Bäumen unterzugehen droht. Es muss beinahe siebzehn Uhr sein. Durch all die Zusammenbrüche und Überraschungen des heutigen Tages haben wir viel Zeit verloren. Mit einem Knurren erinnert mich mein Magen daran, dass wir auch von unserem Mittagessen abgehalten worden waren und somit heute kaum etwas zu uns genommen haben. Immerhin haben wir den Hasen mitgenommen und so ist er nicht völlig umsonst Valentin zum Opfer gefallen. Doch das Essen muss warten, bis wir endlich den Unterschlupf des Alten erreicht haben. Es graut mir vor der Nähe dieses Mannes, zu groß ist die Angst, dass er mich wieder in meine Traumwelt verbannen könnte und ich das nächste Mal nicht mehr zurückfinde. Und doch kann ich es nicht erwarten, ein Dach oder Ähnliches über dem Kopf zu haben und die Wärme eines prasselnden Feuers zu spüren.

»Wir sind da!«, verkündet der Alte in diesem Moment lautstark und lässt mich dadurch aus meinen Gedanken hochschrecken. Unsicher blicke ich zu Valentin, doch auch er mustert die Umgebung argwöhnisch, während kaum mehr Sonnenstrahlen übrig sind, die uns Licht spenden könnten. Es ist zwar fast dunkel, aber ich bin mir trotzdem sicher, dass ich mich nicht irre: da ist weit und breit nichts weiter, als eine Lichtung, auf der rein gar nichts zu sehen ist. Zumindest nichts, das einem Unterschlupf auch nur im Geringsten nahekäme.

Schon hat Valentin wieder das kleine Messer gezogen und zeigt damit drohend auf die Brust unseres selbsternannten Reiseführers. »Verarschen können wir uns selbst. Ich würde Ihnen raten, uns ganz schnell zu sagen, was hier los ist, sonst ist der Schnee hier gleich rot statt weiß.«

»Du bist genauso blind wie sie. Siehst nur mit deinen Augen anstatt mit deinem Herzen und deinem Geist.« Verrückterweise legt der Alte seine Hand an Valentins Brust, dort wo sein Herz in rhythmischen Schlägen gegen seine Rippen hämmert. Ungläubig und etwas beschämt zieht der Mann seine behandschuhten Finger zurück. »Vergiss das mit dem Herzen …«, murmelt er vor sich hin. »Aber worauf ich hinauswollte«, fährt er fort, »ist, dass nicht alles immer so sein muss, wie es den Anschein macht. Nennt es Zauberei, Illusion oder was ich hier am passendsten finde: Magie. Aber tut es nicht immer gleich als Unsinn ab, nur weil ihr es nicht in zwei einfachen Sätzen erklären könnt. Merkt euch das gefälligst.«

Als wolle er die Luft um uns beschwören, hebt er beide Hände und formt mit seinen Lippen stumme Worte, dann fasst er Valentins und meine Hand und zieht uns ein paar Schritte mit sich. Schon beim nächsten Herzschlag frage ich mich ungläubig, ob er mich schon wieder in einen Traum katapultiert hat. Doch hier sind kein Boden aus Marmor und keine hohen und hallenden Wände. Dafür erscheint vor unseren Augen wie aus dem Nichts eine kleine Blockhütte, aus hellen Holzstämmen gefertigt. Zuerst kann ich nur die Umrisse erkennen, dann wird das Bild schärfer und mir fallen immer mehr Details auf. Warmes, flackerndes Licht scheint durch ein quadratisches Fenster. Zarte Rauchschwaden wandern aus dem steinernen Schornstein in den dunklen Himmel hinauf. Der Mann lässt uns los und geht auf die Hütte zu. Staunend folgen ihm Valentin und ich, Seite an Seite. Kaum treten wir neben ihn, hebt der Alte die Arme erneut, nur um sie dann schwungvoll gen Boden zu senken und kurz den Schnee unter unseren Füßen mit seinen Handflächen zu berühren. Ein kurzer, kraftvoller Windstoß lässt meine dunklen Haare um meinen Kopf aufwirbeln.

»Was … wie?«, versuche ich zu erfragen, um diese Situation begreifen zu können. Der Mann ist bereits an der Haustüre angelangt und zieht einen kleinen, gusseisernen Schlüssel hervor, der perfekt ins Schloss passt. Kurz wendet er sich zu uns um.

»Eine Art Schutzzauber, der ungebetene Gäste in die Irre führen soll. Ein ehemaliger Bekannter hat mir ein auf mich geprägtes Artefakt überlassen, auf dem der Zauber ruht. Ohne wäre ich wahrscheinlich schon lange gefunden worden.« Er tut es mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab, als hätten wir gerade über das Wetter gesprochen. »Und jetzt kommt endlich, Kinder. Mir ist kalt. Immer hinein in die gute Stube.«

Das lassen wir uns nicht zweimal sagen, auch wenn mir dieser Mann mehr als nur ein wenig suspekt und unheimlich ist: Die Kälte und die Ausweglosigkeit treiben uns förmlich in seine Arme.

Feuerglimmen

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