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Kapitel 7 – Valentin

Ich frage mich, ob ich genauso schockiert und gleichzeitig fasziniert ausgesehen habe wie Marlena, als wir die Blockhütte betreten haben. Ein Holzhaus, das aus dem Nichts erscheint, für Feinde unsichtbar bleibt und so verdammt gemütlich ist. Ich war zwar noch nie ein Mensch mit hohen Ansprüchen was Wohn-Luxus angeht, aber diese Hütte übersteigt echt alles, wovon ich in den letzten Tagen zu träumen gewagt habe. An einen kleinen Vorraum, den man durch die Haustür als erstes betritt, grenzt eine Treppe, die in ein weiteres Stockwerk führt, eine Tür am Ende des Gangs, eine rechts davon, sowie eine warme Stube auf der linken Seite. Dahin hat der Mann uns sofort nach unserer Ankunft gedrängt und zu meiner Verwunderung hat er mir kommentarlos den Hasen aus der Hand genommen, dessen Hinterläufe ich den ganzen Weg über umklammert hielt. Der Alte hat dem Hasen fachmännisch, wortwörtlich das Fell über die Ohren gezogen, das Fleisch zerteilt und zusammen mit Kartoffeln über einem offenen Feuer in der hintersten Ecke des heimeligen Raumes gebraten, während ich Marlena dabei beobachtet habe, wie sie mit glasigen Augen in die Flammen gestarrt hat. Jetzt ist es endlich soweit und das leidvolle Knurren meines Magens wird erhört: Essen ist fertig. Ich kann diesen Mann zwar immer noch nicht leiden, begrabe das Kriegsbeil aber vorerst, wenn das Essen auch nur halb so gut schmeckt, wie es riecht.

»Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen«, meldet sich Marlena nach langer Stille zu Wort.

»Schon gut«, schmatzt der Alte als er auf einer saftigen Hasenkeule herumkaut.

»Nein wirklich«, beharrt Marlena. Ich bin mir sicher, dass auch sie Hunger hat, doch sie hat noch nicht einmal das etwas angelaufene Besteck berührt. »Das ist nicht selbstverständlich. Immerhin begeben Sie sich durch uns in zusätzliche Gefahr.«

Musstest du das unbedingt so direkt ansprechen, Marlena? Bitte mach ihm nicht zu deutlich klar, was für ein Ballast wir sind. Vielleicht unterschätzt er die Situation ja einfach. Ich starre sie eindringlich an, doch sie ignoriert mich einfach. Andererseits müsste er doch bestens wissen, was es bedeutet, wenn man sich den Obersten zum Feind macht. Brendanus. Ich glaube, ich habe in meinem Leben erst insgesamt zweimal mitbekommen, wie ihn jemand beim Namen genannt hat. Einmal, als sein ältester Sohn noch am Leben war. Das muss ganz am Anfang meiner Ausbildung gewesen sein.

Das zweite Mal hat das Ganze ziemlich blutig geendet. Doch der Alte spricht den Namen vollkommen furchtlos, ja sogar respektlos aus. Ich weiß zwar, dass der Oberste nicht Voldemort ist und es wahrscheinlich nie jemand erfahren würde, wenn ich ihn hier beim Namen nenne, aber dieses Wort will mir einfach nicht über die Lippen kommen. Nicht noch einmal. Zu viele Schmerzen sind damit verbunden. Ach, ich sollte nicht so viele Gedanken an unnütze Grübeleien verschwenden!

Der Alte hat in der Zwischenzeit Marlenas Aussage mit einem Schulterzucken abgetan.

»Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Oder so etwas Ähnliches. Jedenfalls gefällt es mir, wenn ich den praeditii iuveni so indirekt eins auswischen kann.«

Das Gespräch scheint für ihn damit beendet zu sein, denn er widmet sich nun gänzlich seinem Teller. Erleichtert erkenne ich, dass nun auch Marlena zögerlich zu essen beginnt. Die Situation scheint ihr noch immer mehr zuzusetzen, als sie zugeben will. Außerdem weiß ich bis jetzt noch nicht genau, was vorfiel, als sie zusammengeklappt ist. Das muss ich unbedingt ändern, wenn sich ein passender Moment ergibt, um sie zu fragen.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, richte ich nun mein Wort an unseren Gastgeber, der darüber alles andere als erfreut zu sein scheint.

»Ich helfe euch zwar, aber ich bin es nicht mehr gewohnt, mal nicht allein zu sein. Ich mag die Ruhe. Also lasst sie mir bitte, sonst überlege ich es mir noch anders und setze euch vor die Tür.« Was sich eigentlich wie ein Witz anhört, scheint eine ernstgemeinte Drohung zu sein, wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig interpretiere.

»Verstanden.« Unzufrieden will auch ich mich endlich dem saftigen Fleisch zuwenden, doch eine Mischung aus Klatschen und lautem Klopfen lässt mich hochschrecken – Marlena ist volle Kanne mit dem Gesicht auf der Tischplatte aufgeschlagen und reibt sich nun, nur Augenblicke später, bereits wieder verschlafen und scheinbar etwas durch den Wind über die blutende Nase. Ich werfe einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die duftende Mahlzeit, als ich Marlena auch schon vom Stuhl hochhebe. Sie ist so erschöpft, dass sie sich keine Sekunde dagegen wehrt und fast sofort in meinen Armen einschläft.

»Wo können wir schlafen?«

»Die Treppe hoch«, der Mann nickt Richtung Tür, »oben findest du Stroh, Leintücher und Decken. Das muss genügen.«

Ich nicke. »Danke. Für alles.« Und ich meine es genau so, wie ich es sage.

Der Mann tut auch jetzt alles lediglich mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Ich schlafe im Erdgeschoss. Gleich im Zimmer nebenan. Wenn etwas sein sollte: Du kommst schon klar, Jungchen. Wehe ihr weckt mich.«

Mit einem erneuten Nicken wende ich mich von ihm ab und der Tür zu, schiebe sie mit einem Fuß auf, trage Marlena so leise wie möglich die knarrenden Stufen hinauf und setze sie vorsichtig am Boden ab. Obwohl ich glaube, dass sie nicht einmal aufwachen würde, wenn neben ihr eine Feuerwehrsirene losginge. Ich habe sie noch nie so erschöpft erlebt.

»So, und jetzt ruh‘ dich gut aus«, flüstere ich vor mich hin, davon überzeugt, dass sie kein Wort davon mitbekommt. Doch meine leisen Worte gelten nicht nur ihr, sondern sollen auch mir selbst dazu dienen, etwas runterzukommen. Ich sorge mich schon seit Tagen um sie, während ich versuche, mir keine Schwäche anmerken zu lassen. Und doch sind meine Kräfte auch nicht unerschöpflich. Vorsichtig streiche ich ihr die dichten braunen Haare aus der Stirn. Knoten haben sich darin gebildet. Ihre Haut ist trocken und rissig. Und doch hat sie immer noch eine beeindruckende Ausstrahlung.

»Ich pass‘ auf dich auf, auch wenn du auch ohne mich stark bist.«

Ich sehe mich um. Mein Blick sucht die Bettmaterialien, die ich auch fast sofort finde. Hier oben ist es zwar nicht beengt, es ist ausreichend Platz für eine Schlafstätte für zwei Personen, aber für recht viel mehr dann auch wieder nicht. Ich schnappe mir die Decken und Leintücher, wobei – ich mich korrigieren muss – die zwei Decken und das eine große Leintuch. Kurzerhand beschließe ich, lange genug auf dem Boden geschlafen zu haben. Vielleicht wird es Marlena nicht freuen, aber wir werden uns wohl oder übel ein »Bett« teilen müssen. Unter vollem Körpereinsatz forme ich einen rund halben Meter hohen und annähernd rechteckigen Haufen Stroh, spanne das Leintuch so gut es geht darüber und merke, dass diese provisorische Matratze unerträglich piekst. Da hilft das dünne Leintuch nur wenig. Ich kann mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen, schüttle aber gleich wieder über mich selbst den Kopf. Doch ich bin schon gespannt auf Marlenas perplexen Gesichtsausdruck, wenn sie kapiert, dass wir uns nicht nur ein Bett, sondern auch eine Decke werden teilen müssen. Den alten Sturkopf frage ich nämlich sicher nicht nach einer weiteren Decke und ich hoffe einfach, dass sie mir so weit vertraut, dass sie mir glaubt, wenn ich ihr verspreche, sie nicht zu berühren, wenn sie das nicht will. Ich würde ihr nie etwas antun. Und sie nie gegen ihren Willen zu etwas zwingen. Niemals. Also nehme ich das Leintuch wieder weg, lege eine Decke darunter und drapiere das Tuch erneut auf dem Strohhaufen. Nachdem ich einigermaßen zufrieden mit dem Bett-Provisorium bin, schleiche ich zu Marlena hinüber, hebe sie vorsichtig hoch und lege sie dann auf unserem Lager ab. Sie hat sich keinen Moment gerührt, doch als ich sie loslasse und mich abwenden möchte, greift sie nach meinem Unterarm. Die zu Beginn von der Kälte kalkweißen Finger sind von der angenehmen Wärme hier drin knallrot geworden. Auf ihren Knöcheln befindet sich getrocknetes Blut. Die Haut auf ihrem Handrücken ist genauso aufgesprungen wie ihre vollen Lippen. Die Blutung ihrer Nase hat zum Glück schnell wieder gestoppt.

Kurz flackern ihre Augenlider.

»Valentin.« Ein verschlafenes Flüstern. »Bitte bleib hier.«

Immer, denke ich, ich werde dir nicht von der Seite weichen.

Doch stattdessen nehme ich die Decke, die ich eigentlich über sie alleine ausbreiten wollte, lasse mich neben ihr auf das Stroh nieder und decke uns beide zu.

Ihre kühle Hand lässt meinen Unterarm los und legt sich stattdessen sanft auf meine Brust. Von meiner bloßen Haut durch die dicke Wollschicht meines Pullovers getrennt. Und doch verkrampfe ich mich unter dieser Berührung, denn schon diese kleine Geste erzeugt in meinem Körper und meinem Geist eine viel zu starke Reaktion.

»Danke«, murmelt sie in die Decke. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie schon ins Land der Träume abdriftet und morgen nichts mehr von der kleinen Kuscheleinlage weiß. Und doch liege ich hier einfach still und genieße ihre Nähe. Ich bekomme noch mit, dass ihre Atemzüge immer tiefer und regelmäßiger werden, als der Schlaf auch mich umgarnt.

Feuerglimmen

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