Читать книгу Feuerglimmen - Magdalena Pauzenberger - Страница 14
ОглавлениеKapitel 9 – Marlena
»Aufstehen, Kamerad!«
Grummelnd kuschle ich mich tiefer in die kratzige aber wohlig warme Decke.
Im nächsten Moment quieke ich wie ein Meerschweinchen, als mir eine Hand in die Seite piekst und setze mich ruckartig auf, lasse mich jedoch gleich wieder schlapp zurück aufs Bett fallen.
»Guten Morgen«, begrüßt mich Valentin mit einem Schmunzeln. Das wird er noch bereuen. Ich bin von Haus aus eher ein Morgenmuffel. Aber nach so einer Attacke am frühen Morgen kann ich erst recht für nichts garantieren.
»Lass mich«, murre ich. Doch da wird mir auch schon die Decke mit einem kräftigen Ruck weggezogen. »Gib die wieder her! Ich bin halb nackt!«, empöre ich mich.
Valentin jedoch zeigt sich davon herzlich unbeeindruckt.
»Ja, so wenig Stoff wie gestern Abend. Nichts Neues also.« Er zuckt mit den Schultern. »Komm, zieh dir was über und setz dich zu uns in die Stube. Es gibt Frühstück«, fügt er etwas versöhnlicher hinzu.
Widerwillig leiste ich seinen Worten Folge. Schnell wasche ich mir das Gesicht mit lauwarmem Wasser, das in einer kleinen Waschschale neben dem Bett für mich bereitsteht. Beim zweiten Mal hinsehen entdecke ich sogar meine Zahnbürste, die mir Valentin wohl bereits zurechtgelegt hat. Nach wenigen Minuten bin ich fertig mit der Katzenwäsche und steige die morsche Treppe nach unten.
Valentin ist bereits vorgegangen und so erwarten mich zwei Männer in der Küche, die sich und dann auch mich anschweigen. Ich habe keine Ahnung, wo der Alte all das Essen herhat, aber frische Milch, Butter, Brot und diverse Getreidekerne warten einladend auf dem Holztisch in der Mitte des kleines Raumes darauf, verspeist zu werden. Als ich mir Butter auf das köstlich duftende Brot schmiere, wird die Stille jäh unterbrochen. »Wie sieht‘s aus, Kindchen? Kann das Training heute starten?«
»Welches Training?«, fragen Valentin und ich wie aus einem Mund.
»Ihr seid gut. Willste mit einer Gabe durch die Gegend laufen, ohne sie endlich beherrschen zu können, ganz so, als wäre es das Normalste der Welt? Oder wie stellst du dir das vor?«
Ich weiß wirklich nicht, was ich darauf antworten soll. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich darüber noch gar nicht nachgedacht habe. Und dass ich noch keine halbe Stunde munter bin.
»Ähm … Keine Ahnung?«, erwidere ich zögerlich.
Der resignierte Gesichtsausdruck des Alten zeigt bestens, dass er gerade am liebsten seinen Kopf aus Verzweiflung darüber, wie dumm und unwissend wir »Kinder« doch sind, auf die Tischplatte schlagen würde. Das tut er aber glücklicherweise nicht. Stattdessen atmet er einmal tief durch, um sich einigermaßen beherrschen zu können.
»Kindchen, traurigerweise hatte ich schon vermutet, dass du dir keinerlei Gedanken darüber gemacht hast.«
»Ist ja nicht so, als hätte ich neben der Bewusstlosigkeit und meiner Erschöpfung noch so wahnsinnig viel Zeit gehabt, über meine Zukunft nachzudenken. Mal abgesehen davon, dass ich vollkommen unruhig geschlafen habe, weil mir meine eigene ›Gabe‹, wie Sie es nennen, mehr als einfach nur unheimlich ist. Also unterlassen Sie bitte ab jetzt diesen vorwurfsvollen Klang in Ihrer Stimme oder ich werde hier und jetzt zum seelischen Wrack!«, kreische ich durch das halbe Haus.
Als würde ich ihm hier nicht gegenübersitzen, wendet sich der alte Mann von mir ab und schenkt seine volle Aufmerksamkeit Valentin.
»Welche Laus ist der denn über die Leber gelaufen? Oder sollte ich lieber fragen, was du angestellt hast?«
Valentin stopft sich währenddessen genüsslich ein Stückchen Brot in den Mund und zuckt unschuldig mit den Schultern. »Morgenmuffel würde ich sagen.«
Verständnisvoll nickt der Alte und diese stille Übereinkunft unter den beiden macht meine Laune nicht gerade besser.
Wortlos verstreiche ich Butter auf der Brotscheibe auf meinem Holzbrett. Mein Magen brummt und doch lasse ich mir viel zu lange Zeit, um auch ja alles so gleichmäßig wie möglich zu verteilen. Die beiden Männer würdige ich währenddessen keines Blickes. Zu viel schwirrt mir gerade durch den Kopf. Und das auch noch so früh am Morgen. Was hat es wirklich mit meiner Gabe auf sich? Kann man das überhaupt eine Gabe nennen? Und warum habe ich so etwas? Außerdem: Hätte mir das nicht früher schon mal auffallen müssen? Fragen über Fragen stapeln sich in meinem Hirn, sodass sich meine Aufmerksamkeit auf das Gespräch, das gerade zwischen Valentin und unserem Gastgeber abläuft, auf das Minimum reduziert. Wie in Trance verspeise ich mein Frühstück. Doch ein Satz reißt mich dann doch aus meinen Überlegungen.
»Irgendwas ist heute anders an dir Jungchen«, stellt der Alte mit grübelnder Miene fest. »Doch ich komm‘ einfach nicht darauf, was es ist.«
Unauffällig hebt Valentin den Blick von seiner Müslischüssel und sucht den meinen.
»Aha. Also daher weht der Wind«, faselt der Mann nun wieder.
Kann er etwa fühlen, was ich mit der Eisschicht um Valentins Herz gemacht habe? Möglich wäre es. Schließlich wissen wir nicht, welche Gabe er besitzt. Wir wissen ja nicht einmal seinen Namen!
»Jungchen, du hast aber echt lange gebraucht, um endlich einzusehen, dass ihr zwei ineinander verliebt seid.«
Ich weiß nicht, wer als erstes fast am Essen erstickt. Valentin oder ich. Beide versuchen wir hustend und prustend zu Wort zu kommen, um dem Alten zu erklären … ja was eigentlich? Dass wir mal etwas miteinander hatten, ich aber von der Tatsache abgeschreckt wurde, dass er vor meinen Augen einen Mann ermordet hat? Oder dass die Flucht jede Energie von uns abverlangt hat und wir nie so richtig über das alles … über uns … gesprochen haben? Dass ich manchmal Angst vor ihm habe und mich doch unumstößlich zu ihm hingezogen fühle und er mir dann doch auch wieder Geborgenheit schenkt?
Wieder sieht Valentin zu mir auf. Ein fragender Ausdruck ziert sein Gesicht. Doch was will er von mir hören? Will er wissen, ob ich in ihn verliebt bin? Oder wie wir diese Situation dem Alten erklären sollen? Oder aber möchte er einfach, dass ich ihm die Butter zu meiner Linken reiche?
Gabe hin oder her. Seine Gedanken lesen kann ich trotzdem nicht.
Können wir ihm trauen? Kann ich ihm von meinem Herzen erzählen? Von dir, Marlena? Mit einem Klirren fällt das Messer aus meiner Hand zu Boden. Ich würdige es keines Blickes. Valentins Stimme huscht durch meine Gedanken, in dem Moment, in dem ich ihm direkt in seine kristallklaren Augen blicke. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme, kriecht hinauf in meinen Nacken und jagt einen Kälteschauer über meinen Rücken. Mit aller Kraft versuche ich ruhig zu bleiben und dem Drang zu widerstehen, mich am ganzen Körper zu schütteln. Verdammt, ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass sich Valentins Lippen gerade nicht einmal für eine Millisekunde bewegt haben. Da war nichts. Nada. Niente. Ich werde verrückt! Dieses Haus hat vermutlich magische Kräfte und ich mutiere gerade zu einer Hexe! Panik macht sich in mir breit und die unsinnigsten Gedanken machen mir auf einmal furchtbare Angst. Meine Atmung wird immer hektischer und doch fühle ich mich, als würde meine Lunge nicht mal das kleinste Bisschen Sauerstoff aufnehmen, während ich gerade viel zu viel davon in meinen Körper pumpe. Eine kühle Hand legt sich auf meinen inzwischen mit Schweiß benetzten Unterarm und holt mich durch die Berührung schlagartig in die Realität zurück.
»Ruhig, Kindchen. Ganz ruhig«, flüstert der Alte einfühlsam, während er weiterhin meinen Arm tätschelt. »Wir bekommen das alles hin. Kein Grund eine Panikattacke zu bekommen und hier herumzuhyperventilieren. Ich kann euch helfen. Und ich werde das auch tun. Jedoch nur, wenn ihr auch kooperiert. Sonst bin auch ich mit meinem Latein am Ende. Deshalb beruhigst du dich jetzt, konzentrierst dich auf eine ruhige Atmung und anschließend erzählt ihr zwei mir Schritt für Schritt, was ihr mir verheimlicht.« Ich warte einen Moment. Als sich meine Atmung wieder normalisiert hat, stelle ich eine Forderung.
»Zuerst möchte ich wissen, was es mit meinen seltsamen Träumen auf sich hat? Haben Sie mich das letzte Mal gewollt in diese Traumwelt geschickt? Wie haben Sie das gemacht? Ist das Ihre Gabe? Erst wenn Sie mir diese Fragen beantwortet haben, erklären wir Ihnen alles«, stelle ich klar.
Der Alte nickt. »Das sind aber viele Fragen…«, grummelt er, überlegt dann aber kurz und beginnt seine Erklärung.
»Welche Gabe ich genau besitze, tut zum jetzigen Zeitpunkt nichts zur Sache. Was ich euch aber sagen kann, ist, dass ich Veränderungen in Körpern, wie beispielsweise Krankheiten, Verletzungen, aber manchmal eben auch Gaben, fühlen und bis zu einem gewissen Grad beeinflussen kann. Immer, wenn dein Geist geruht hat, du ruhig geschlafen hast, vielleicht sogar besonders erschöpft warst, hat deine Gabe versucht, an die Oberfläche zu kommen. Die Träume waren ihr Ventil. Nur so kann ich mir das erklären. Eigentlich wollte ich mit deinem jüngsten Ausflug in diese Träume bezwecken, dass sich die Gabe endlich befreien kann, aber ein Teil davon schien bereits erweckt gewesen zu sein. Hast du einmal etwas noch Seltsameres als sonst geträumt? Etwas bei dem du Dinge getan oder Entscheidungen gefällt hast, wie du es bei vollem Bewusstsein niemals getan hättest? «
Ich muss nicht lange überlegen. »In einem meiner letzten Träume habe ich jemanden getötet und wollte auch Valentin beseitigen. Dabei habe ich eine unbändige Wut und Aggression gefühlt. Aber am schlimmsten war die Zufriedenheit, die ich verspürt habe, wenn ich jemandem in diesem Traum Leid zugefügt habe. Ich hatte Angst und erkannte mich selbst nicht wieder, als ich schweißgebadet aufgewacht bin. «
»Das dürfte dann wohl der Moment gewesen sein, als deine Gabe es fast ganz an die Oberfläche geschafft hat. Doch warum das erst so spät passiert, kann ich mir nicht erklären. Bei den meisten Begabten passiert das bereits im Zuge der frühen Pubertät oder manchmal sogar schon als Kind. «
»Wenn meine Gabe also jetzt gänzlich erwacht sein sollte … dann müssten die Träume also aufhören? «
»Wenn meine Theorie stimmt – ja. «
»Gut«, murmle ich, will mir aber noch nicht zu viele Hoffnungen machen.
»Jetzt seid aber ihr dran. Was hast du das letzte Mal in der Traumwelt gesehen? Was hat sich zwischen euch verändert und vor allem: äußert sich deine Gabe bereits in für dich wahrnehmbarer Weise? Raus mit der Sprache. «
Also tue ich, was er sagt. Ich erzähle ihm von dem, was ich gesehen und gehört habe, als ich wieder in meine Traumwelt geschickt wurde, dass es Valentin gestern Nacht auf einmal so schlecht ging und wie ich bei der Berührung seines Herzens auf einmal wirklich sein Herz vor Augen hatte. Ich schildere ihm, wie es ausgesehen hat, wie es sich angefühlt hat. Nur die kleine halbnackte Kuscheleinlage lasse ich weg. Die ganze Erklärung über hängen beide Männer an meinen Lippen. Als ich ende, sieht Valentin leicht verstört aus, während der Alte mit einer tiefen Falte zwischen seinen Augenbrauen immer und immer wieder nachdenklich nickt, als wäre er einer dieser komischen Wackeldackel, die einem durch die Heckscheiben so mancher Autos zunicken.
»Ich habe so etwas noch nie gesehen. Noch nie miterlebt. Es hat hin und wieder Gerüchte gegeben … aber ich hab‘ sie nie geglaubt.« Gedankenverloren murmelt der Alte vor sich hin, während sein Blick unaufhaltsam über die Tischplatte huscht. Von einem Eck zum anderen und wieder zurück.
»Hast du eine Erklärung für dein … Problem, Valentin?« Kein Jungchen. Keine blöde Meldung. Der Alte hat ihn tatsächlich bei seinem richtigen Namen genannt. Dann muss es wohl doch was Ernstes sein.
Valentins Brust hebt sich einmal unter einem kräftigen Atemzug. Dann beginnt er zu sprechen. Seine Aufmerksamkeit ist währenddessen jedoch nicht auf den Alten, der ihm eigentlich die Frage gestellt hat, gerichtet. Sondern auf mich. Ganz allein auf mich.
»Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich habe das Gefühl, als würde jeder Mensch, der – metaphorisch betrachtet – durch meine Hand stirbt, einen Teil meiner Körperwärme mit sich auf die andere Seite nehmen. Und das jedes Mal. Es ist meist nur ein kleines Bisschen, macht sich kaum bemerkbar. Doch mit der Zeit hat sich das angehäuft. Aber nicht nur wenn ich töte … es scheint jedes Mal zu passieren, wenn ich jemandem Schaden zufüge oder negative Gefühle die Oberhand gewinnen. Und so ist meine Körpertemperatur inzwischen schon einige Grad kühler als die von anderen, gesunden Menschen. Wie das genau funktioniert und ob das überhaupt daran liegt, weiß ich nicht so genau. Das alles ist nur eine Vermutung.«
Kälte überzieht jedes kleine Fleckchen meiner Haut bei dem Gedanken daran, wie viele Menschen er bereits auf dem Gewissen haben muss. Wie viele Aufträge er erledigt hat.
Der Alte nickt zustimmend. »Ich kann dir leider auch nicht mit Sicherheit sagen, ob das so richtig ist oder woran es sonst liegt. Aber ich muss zugeben, es klingt logisch.«
Entgeistert blicke ich zwischen den beiden hin und her. Valentin hat sich mittlerweile wieder seinem Gesprächspartner zugewandt, nachdem er meine Reaktion auf seine Worte genauestens studiert hat. Ich hoffe, dass es mir ganz gut gelungen ist, meine Miene so neutral wie möglich zu halten. Auf keinen Fall möchte ich ihm weh tun, in dem ich aussehe, als würde ich ihn als Person verabscheuen. Auch, wenn ich verurteile, was er getan hat, will ich nie vergessen, dass er nicht anders konnte. Dass er es irgendwann einfach nur noch aus Selbstschutz getan hat. Egal was er sagt oder wie sehr er bekräftigt, ein schlechter Mensch zu sein. Für mich steht fest, dass er nicht von Natur aus ein dunkles Herz hat. Er wurde gebrochen, zu einem Mörder gemacht. Und doch hat er mir nie auch nur ein Haar gekrümmt. Er ist mein Begleiter. Mein Beschützer. Und hin und wieder, so scheint es mir, muss ich auch ihn beschützen. Vor sich selbst.
Keine zwei Stunden nach dem Frühstück sitzen der Alte, Valentin und ich erneut am Esstisch. Immer wieder wischt Valentin sich Schweißperlen von der Stirn, die die körperliche Arbeit ihm aus den Poren getrieben hat. Die letzte Stunde hat er damit verbracht, Holz zu hacken, während ich zuerst abgewaschen und dann grübelnd die Decke angestarrt habe. Eigentlich wollte ich ja nur das Bett machen. Doch weder das bevorstehende Training noch Valentins allgegenwärtiger Duft, der sich im Strohlager festgesetzt hat, haben mir sonderlich dabei geholfen, zu entspannen. Ganz im Gegenteil. Vor lauter Grübeleien pochen meine Schläfen nun im Takt meines Herzens. Jedenfalls hat mich der Alte irgendwann gerufen und so sitzen Valentin und ich nun hier und warten darauf, dass der Hausherr erklärt, wie dieses ›Training‹ aussehen soll.
»So, Kinder, dann lasst uns beginnen.« Mit diesen auffordernden Worten läutet nun der Alte die erste Trainingsstunde ein.
»Warten Sie«, unterbreche ich ihn, bevor er zu weiteren Erklärungen ansetzen kann. Ganz zu seinem Leidwesen, wie mir sein sofort grimmiger Gesichtsausdruck verrät. »Ja?«, fragt er etwas gereizt.
»Noch eine Sache, bevor wir beginnen …«
»Und die wäre?« Eine seiner buschigen, grauen Augenbrauen huscht nach oben.
»Verraten Sie uns doch endlich Ihren Namen. Ich denke, wir sollten uns alle gegenseitig vertrauen können. Und ich finde, das ist etwas viel verlangt, wenn wir nicht einmal wissen, wie wir Sie nennen sollen.« Ich weiß nicht wieso, aber ich bin ganz hibbelig und will endlich seinen Namen erfahren.
»Meinen Geburts-Namen oder den aus der Gemeinschaft?« Okay, jetzt bin ich verwirrt. Mir war nicht bekannt, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft ihre Namen ändern. Wobei das nicht so abwegig ist, wenn ich genauer darüber nachdenke. Immerhin nehmen sie doch auch ein neues Leben an. In Klöstern bekommt man doch auch einen neuen Namen, oder nicht?
»Beim Eintritt in die Gemeinschaft legt man seinen Namen ab. Vorerst ist man einfach Novis – der Neue. Mit der Zeit erhält man dann jedoch einen neuen Namen. Einen Namen, der zu einer bestimmten Charaktereigenschaft, einer Verhaltensweise oder der jeweiligen Gabe passt«, erklärt mir Valentin mit ruhiger Stimme, als er meine Verwirrtheit erkennt.
»Das heißt … du …?«, stammle ich irritiert vor mich hin. Nie ist mir der Gedanken gekommen, dass Valentin gar nicht Valentin ist. Mein Blick wandert über sein Gesicht. Ist er vielleicht ein David? Ein Christoph? Oder doch eher ein Manuel? Nein. Valentin passt wie die Faust aufs Auge.
»Ja«, nickt er, »Valentin ist nicht mein richtiger Name. Sie entschieden, dass ich Valentinus heißen soll – der Starke. Ich habe meinen Namen erst nach einigen Monaten erhalten.« Er schluckt krampfhaft. Es fällt ihm sichtlich schwer, darüber zu reden. »Ich war lange der namenlose Neue.«
»Und dein richtiger Name …?«, frage ich nach.
»Ist mir nicht bekannt.« Er schüttelt den Kopf. Die Sache scheint für ihn zur Genüge besprochen zu sein. Ich jedoch setze mir in diesem Moment in den Kopf, dass ich herausfinden werde, wie er heißt. Egal wie. Ich werde es erfahren. Sofern ich diese Flucht hier heil überstehe und irgendwann in die Zivilisation zurückkehre, versteht sich.
»Aber zurück zu Ihnen«, wende ich mich an den Alten, »es ist mir gleich, welchen Namen Sie uns verraten. Nennen Sie uns einfach jenen, mit dem Sie angesprochen werden wollen.«
»Man nannte mich Silva.« Ein wehmütiger und doch vor Wut getrübter Ausdruck legt sich auf seine Augen.
»Der Wald«, hauche ich. Eines der ersten Worte, die ich im Lateinunterricht gelernt habe. Ich fühle, dass sich ein Grinsen in meine Mundwinkel stehlen will, als ich genauer über die Bedeutung dieses Namens im Zusammenhang mit unserer jetzigen Situation nachdenke. Als mein Blick auf Valentin fällt, ist mir jedoch nicht mehr nach Lächeln zumute. Jede einzelne Faser seines Körpers ist zum Zerreißen angespannt.
»Brendanus‘ Sohn … Sie lügen! Silva ist tot! Sie sind ein verdammter Lügner!« Der Stuhl fällt krachend zu Boden, als Valentin aufspringt. Als wüsste mein Körper noch vor mir, was gleich passiert, schnelle auch ich hoch und stelle mich beschützend vor den Alten … vor Silva.
»Geh aus dem Weg, Marlena!« Valentins Stimme ist eine geknurrte Drohung.
»Ich denke gar nicht daran! Was willst du denn machen? Ihm den Hals umdrehen? Er ist unsere einzige Hilfe. Und wenn er der Teufel persönlich ist, du lässt ihn auf der Stelle in Ruhe!« Mein Tonfall ist noch schärfer als beabsichtigt und doch scheint Valentin kaum beeindruckt davon. »Lass ihn!«, setze ich noch einmal nach, bis schließlich ein Teil seiner Anspannung von ihm abfällt.
»Er ist zwar nicht der Teufel, aber er ist beinahe schlimmer. Sein Vater, sein Bruder und er. Alle drei.«
Den Blick starr auf Silva gerichtet, geht Valentin zu seinem Platz zurück, wendet sich nur kurz ab, um den Stuhl wieder aufzustellen.
Silva scheint den anklagenden Blick kaum zu ertragen, sinkt immer weiter in sich zusammen. So habe ich den Alten noch nie gesehen und hätte mir dieses Bild auch nie vorstellen können.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich tatsächlich mit dem Gedanken gespielt habe, mir einen Dolch ins Herz zu rammen, um still zu verbluten.«
»Du hättest es tun sollen«, zischt Valentin durch zusammengebissene Zähne. Entsetzt keuche ich auf. Das kann nicht sein Ernst sein.
»Wie kannst du nur …« Doch beide meiner Tischnachbarn ignorieren mich.
»Nein«, erwidert Silva. »das wäre zu einfach gewesen. Schlichtweg feige. Ich sollte für meine Taten büßen. Und das tue ich am besten, wenn ich mich jeden einzelnen Tag an alle Gräuel und meine Schuld erinnere, die mich von innen heraus zerfressen, und ich mich dazu zwinge, damit zu leben.«
»Und doch sitzt du hier, in deiner gemütlichen Hütte, schlürfst Tee und lässt deinen Vater weiterhin das Leben von Kindern stehlen. Deinen Vater! Ich glaube dir immer noch nicht. Warum solltest du denn bitte ein Greis sein? Silva war nur wenige Jahre älter als ich. Er müsste jetzt vielleicht etwas über dreißig sein. Aber nicht älter.« Die Kälte in Valentins Stimme lässt auch seine Iriden gefrieren. Bevor ich weiß, was ich da eigentlich tue, strecke ich meine Hand nach ihm aus und versuche ihn davon abzuhalten, von seinem Hass verschlungen zu werden.
»Der Tod nimmt von jedem eine Bezahlung mit sich. Das wurde mir zumindest immer gesagt. Bei dir ist es das Eis, bei mir ist es Lebenszeit. Doch anstatt sie mir zu stehlen, war es wie bei einer Droge: Ich merkte erst, wie sehr sie mich kaputt macht, als ich sie nicht mehr zu mir nahm. Ich hatte mich entschlossen, nicht mehr zu töten, zu fliehen. Und die Entzugserscheinungen begannen. Nach einigen Tagen war das Schlimmste überstanden, dachte ich zumindest. Doch eine Nebenwirkung blieb bis jetzt: Meine Lebenszeit rinnt mir wie Sand durch die Finger. Nicht nur mein Körper altert zu schnell. Auch mein Geist. Und doch verbindet uns wahrscheinlich mehr, als dir lieb ist. Was mein früheres Leben betrifft: Ich weiß, dass das alles mit nichts zu entschuldigen ist. Doch ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich etwas ändern sollte. Bis ich einfach blindlings davon gelaufen bin wie ein Feigling. Doch jetzt habe ich vielleicht die Möglichkeit dazu, ein klein wenig Rechenschaft abzulegen.« Ohne, dass jemand fragen muss, deutet er auf mich und setzt sofort eine Erklärung nach. »Du bist etwas Besonderes, Kindchen. Und ich werde dir helfen, dass du das erkennst. Außerdem sollst du dein volles Potential ausschöpfen, was nicht ganz ungefährlich werden könnte. Doch ich denke, dass ich genau der Richtige bin, um dich auszubilden.«
»Du wirst ihr kein Haar krümmen, sie keiner Gefahr aussetzen. Und vor allem wirst du sie niemals berühren. Niemals wieder schüttelst du ihre Hand, berührst ihren Arm und wenn sie sich verletzt, dann verarzte ich sie, hast du mich verstanden?!«
Der Alte ist gar nicht alt, sondern ein fast weißhaariger Dreißigjähriger und Valentin hat nichts Besseres zu tun, als sein nicht vorhandenes Revier zu markieren. Wann ist mein Leben bloß so kompliziert geworden?
»Können wir bitte einfach mit dem Training beginnen? Es ist noch nicht einmal Mittag und mir ist schon wieder sehr danach zumute, mich unter einer Decke zu verkriechen und den restlichen Tag zu heulen. Wir sollten also mein letztes bisschen Willenskraft nicht noch weiter strapazieren.«
Silva nickt lediglich konzentriert, während Valentin ihn gedanklich wahrscheinlich gerade ausweidet. Ich weiß nicht genau, was früher zwischen den beiden vorgefallen ist, oder was Silva so viel schlimmer als die anderen preaditii iuveni macht, aber ich will gerade gar nicht weiter darüber nachdenken.
»Also, zuerst werden wir uns darum kümmern, dass du geistig auf Durchzug schalten kannst. Nicht dein Geist, sondern dein Herz soll dich leiten. Vielleicht hast du bislang gedacht, dass du eine geistige Gabe trägst, aber es ist ziemlich sicher eine emotionale.« Ich bin mir nicht ganz sicher, was das alles bedeuten soll. Das steht mir scheinbar auch ins Gesicht geschrieben, denn wieder ist es Valentin, der geduldig zu erklären beginnt. »Es gibt vier Typen von Gaben. Physische, geistige, sinnliche und emotionale. Und bevor du gleich rot wirst: Mit sinnlich ist schlichtweg gemeint, dass sie einen oder mehrere der Sinne betreffen. Physische Gaben sind, denke ich, selbsterklärend – man kann schnell laufen, ist außergewöhnlich stark oder geschickt. Geistige Gaben sind um einiges seltener als physische oder sinnliche, sie ermöglichen es, Gedanken zu formen, zu verändern oder für kurze Zeit sogar einzuflößen. Doch nein: Gedanken zu lesen ist noch nie jemandem gelungen. Und dann gibt es noch emotionale Gaben. Grundsätzlich. Nur kenne ich keine einzige Person, die so eine Gabe besitzt oder jemanden kennt, der jemanden kennt, der diese Gabe besitzt. Zumindest kenne ich bis auf dich niemanden – falls das alles so stimmt. Es gibt Geschichten darüber, Legenden, über starke Brüder, die Gefühle sogar verändern konnten. Doch keiner weiß, wie viel Wahres dran ist, oder wie es funktioniert. Aber unser Freund hier scheint sich trotzdem wie ein Profi auf diesem Gebiet zu fühlen.« Abschätzig schnaubt er, was mich augenblicklich an einen wütenden Stier erinnert.
»Okay …«, versuche ich das Gesagte in mein Hirn einzubrennen. »Wenn ich also eine emotionale Gabe besitze … und sie nicht mit dem Kopf steuere, sondern mit dem Herzen … wie soll ich dann überhaupt irgendwie aktiv steuern, was passiert? Ich kann ja nicht mal meinen Herzschlag beruhigen, wenn ich unnötig nervös werde, wie soll ich dann eine verdammte Gabe kontrollieren können?«
Verzweiflung macht sich in mir breit. Ich fühle mich vollkommen überfordert und wünsche mir gerade so sehr die tröstenden Worte meiner Mutter, die mir sagt, dass ich alles schaffen kann. Wie oft hat sie mich aufgebaut, wenn ich mich unfähig und von meinen ungewissen Zukunftswünschen erschlagen fühlte. Schmerzlich wird mir bewusst, wie sehr mir meine Familie fehlt. Mamas tröstende Nähe, Papas schützende Arme … Und schnell kommen auch Schuldgefühle in mir auf, weil ich mich dabei ertappt habe, dass es in letzter Zeit tatsächlich Momente gegeben hat, in denen ich so viel über mein verzwicktes Verhältnis zu Valentin und die Bürde dieser neuen Gabe nachgedacht habe, dass ich schlichtweg keine Zeit für andere Sorgen gefunden habe. Dafür schlingt sich das Heimweh nun wieder unerbittlich um mein Herz.
Ich versuche noch, es zu verhindern, doch schon bildet sich ein Kloß in meinem Hals, der mir das Herunterschlucken der aufsteigenden Tränen erschwert. Doch jetzt ist keine Zeit für Gefühle. Ich muss trainieren, wenn ich auf Dauer überleben will.
»Alles okay, Marlena?« Valentin mustert akribisch mein Gesicht, als versuche er, alles darin zu lesen. Auch Silva blickt mich besorgt an, jedoch bei weitem weniger auffällig. Ich nicke mit einem gezwungenen Lächeln.
»Ja, alles gut. Ich musste mich nur kurz daran erinnern, dass mein Kopf frei sein soll und es niemandem hilft, wenn ich mir ständig Sorgen mache.«
Valentins raue Handfläche streicht über meinen Unterarm und verursacht eine kribbelnde Wärme, dort, wo er mich berührt hat. »Wir bekommen das schon hin. Keine Angst.«
Für einen Moment meine ich, Liebe in seinem Blick zu lesen, doch im nächsten Moment sehe ich darin nur reine Zuversicht und schüttle über mich selbst den Kopf. Ich sehe auch nur das, was ich sehen will. Doch will ich das überhaupt? Seine Liebe? Ich bin mir nicht sicher.
»Sollen wir die Trainingsstunde lieber auf den Nachmittag verschieben oder denkst du, du bist jetzt bereit dazu, Kindchen?«
Am liebsten würde ich dieses Training für immer vor mir herschieben, doch ich muss mich dieser Gabe, die seltsame Dinge mit mir geschehen lässt, endlich stellen.
»Lasst es uns zumindest versuchen«, fordere ich deshalb.
»Na gut. Also, wie bereits erklärt, denke ich, dass du eine emotionale Gabe in dir trägst. Gaben sind allgemein vor allem dann sehr aktiv, wenn der Begabte sich in einer Situation befindet, die in ihm starke Gefühle hervorruft. Meist sind Wut und Hass die stärksten Emotionen und lassen so auch die Gabe kraftvoll wirken. Am Anfang kommt sie meist unkontrolliert, vor allem in Ausnahmesituationen, zum Vorschein. Liebe und besonders Angst können ebenfalls dazu führen, dass die Gabe für einen Moment die Oberhand gewinnt.«
Aufmerksam höre ich Silvas Erklärungen zu und finde mich selbst darin wieder.
»Deshalb habe ich wahrscheinlich auch diesen Traum gehabt, nach dem Vorspielabend. Die Wut, die immer noch in mir geköchelt hat, hat mich kaum schlafen lassen. Und gestern Abend … da … also ich denke …«
»… dass es Lieb-«, setzt Silva fragend an, doch ich unterbreche ihn mit einem drohenden Funkeln, das ihn zum Schweigen bringt.
»Ich denke, dass es aus Angst passiert ist.«
»Angst wovor? Etwa vor mir?«, fragt mich nun Valentin. Unverständnis und Sorge spiegeln sich in seiner Miene wider.
»Nicht Angst vor dir, sondern um dich«, hauche ich, da ich mich nicht dazu in der Lage fühle, es laut auszusprechen. Doch dann nehme ich allen Mut zusammen. »Ich hatte Angst, dass dir gerade etwas Schlimmes passiert. Dass du Schmerzen hast. Und dass ich nur untätig daneben sitzen und zusehen kann. Ich wollte dir helfen und habe mich gleichzeitig doch so unnütz gefühlt.«
Begeistert klatscht Silva in die Hände, was mich hochfahren lässt, weg von den klaren blauen Augen. »Gut, sehr gut. Du kannst schon Mal Rückschlüsse auf deine Gefühlslagen ziehen, in denen du die Gabe wahrgenommen hast. Das ist gut. Damit können wir arbeiten. Sollen wir den ersten Versuch wagen?«
Unsicherheit macht sich in mir breit, doch ich kämpfe sie krampfhaft nieder.
»In Ordnung.« Ich atme immer wieder bewusst tief ein und aus, versuche meine Atmung und meinen Herzschlag möglichst ruhig zu halten, was mir nur begrenzt gelingt.
»Also gut. Dadurch, dass ich die Gesamtsituation beobachten und analysieren möchte, müsstest du bitte versuchen, nochmals in Valentins Gefühlswelt einzutauchen. Natürlich nur, wenn das für dich in Ordnung ist, Jungchen?«
»Ich tue alles, solange es zu Marlenas Unterstützung dient.« Wärme breitet sich in meinem Inneren aus, als ich Valentins Zustimmung höre, doch schnell versuche ich mich wieder auf meine Aufgabe zu besinnen.
»Dann versuchen wir‘s. Setzt euch am besten direkt gegenüber hin, vielleicht auf den Boden, dann steht nichts zwischen euch.« Warum habe ich das ungute Gefühl, dass er gedanklich noch »und damit niemand vom Stuhl plumpst« hinzufügt? Doch wortlos leisten wir Silvas Worten Folge und setzen uns beide im Schneidersitz auf die Holzdielen. »Und jetzt blickt euch gegenseitig tief in die Augen.«
Schon vor Silvas Aufforderung haben Valentins Augen mich in ihren Bann gezogen. Ich wage es nicht, auch nur eine Sekunde lange wegzublicken. Ehrlich gesagt, weiß ich auch gar nicht, ob ich das aus eigener Kraft schaffen würde.
»Stell dir vor, du blickst durch seine Augen direkt auf Valentins Seele. Du fühlst, wie sie dich ruft, dich zu ihr zieht, bis du in seinen Augen versinkst.« Ich konzentriere mich auf das Gesprochene und nehme es doch immer weniger stark wahr, zu sehr zieht mich Valentin in seinen Bann.
»Stell dir vor, wie sich Valentins Seele vor dir materialisiert. Sie hat eine Farbe, eine Form. Du streckst deine Hand aus, fühlst sie über deine Haut streifen.«
»Das ist doch alles Unsinn!«, aufgebracht springt Valentin auf und reißt mich auf diese Weise aus einer Art Trance, in die mich Silvas Worte und meine Konzentration befördert haben. Mein Sichtfeld wird augenblicklich düsterer, nimmt das gedämpfte Licht in der Stube wahr, das warme Ziehen auf meiner Haut verschwindet innerhalb eines Wimpernschlags. Erschrocken und etwas perplex sehe ich zu Valentin auf, der zornig zwischen dem Alten und mir hin und her schaut, bis sein Blick schließlich an dem Mann haften bleibt und ihn förmlich durchbohrt.
»Willst du dich über mich lustig machen? Mich vor Marlena bloßstellen?« Ich habe keine Ahnung, warum er plötzlich so aufgebracht ist oder was er damit meint.
Auch Silva scheint ratlos. »Was meinst …«
»Jetzt tu nicht so!«, unterbricht ihn Valentin aufgebracht, »Zuerst mein verkrüppeltes Eisherz und jetzt meine verdorbene Seele? Willst du sie vollkommen verjagen? Ihr immer deutlicher zeigen, was für ein Monster ich bin?«
Verzweiflung und Schuld verzerren sein sonst so ebenmäßiges Gesicht. Schmerzhaft verkrampft sich mein Inneres bei seinem leidvollen Anblick. Jetzt stehe auch ich auf, will zu Valentin gehen und ihn … ja was eigentlich? Umarmen? Trösten? Küssen? Wie er gerade aussieht, würde er mich lediglich von sich stoßen. Außerdem habe ich kein Recht dazu, ihm einfach so nahe zu kommen. Also lasse ich meinen Arm, den ich nach ihm ausstrecken wollte, unverrichteter Dinge wieder sinken.
»Aber, Valentin …«, setze ich an, doch ich komme nicht weit.
»Lass einfach! Verteidige ihn nicht auch noch!«
Ungläubig blicke ich ihn an. Das wollte ich doch gar nicht tun. Ich wollte dir nur von deiner unglaublichen Seele erzählen …
Mir bleibt keine Sekunde, um mich zu erklären, denn schon stürmt er in den Flur hinaus. Durch die nun sperrangelweit offene Tür erhasche ich gerade noch einen Blick auf ihn, als er sich seine Jacke schnappt, und durch die Haustüre schreitet. Er kann doch nicht … Ich stürme ihm kopflos nach, Kälte hin oder her. Meine besockten Füße versinken sofort im beinahe kniehohen Schnee, ich renne so schnell ich kann, doch es ist mehr ein unbeholfenes Herumstapfen – ich hole ihn nicht ein.
»Valentin!«, schreie ich durch die sonst so ruhige Winterlandschaft. Verzweiflung lässt meine Stimme höher klingen.
»VALENTIN!« Ich bleibe frustriert stehen. Er läuft weiter, ohne sich umzudrehen. »BLEIB HIER!« Lass mich nicht alleine. Doch es ist zu spät, er scheint die Schutzbarriere zu durchqueren, denn plötzlich ist er weg. Sein trainierter Rücken ist das Letzte, was ich sehe, bevor er einfach verschluckt wird und außerhalb meines Sichtfelds von hier verschwindet.
»Aber ich brauche dich doch …«, murmle ich. Eine leise Träne kullert über meine Wange und zieht eine eiskalte Spur über meine Haut, als ich auf die Knie in den Schnee sinke. Ich kann einfach nicht glauben, dass er weg ist. Was soll ich bloß ohne ihn tun? Doch was viel wichtiger ist: Was, wenn ihm etwas zustößt?