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ОглавлениеKapitel 2 – Marlena
Ich kann es Valentin nicht verübeln, dass er überrumpelt wirkt, als er mich außerhalb des Zeltes antrifft. Das passiert sonst nur, wenn ich bestimmte Dinge verrichten muss, die ich niemandem in freier Wildbahn bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt empfehlen kann. Aber lieber Frostbeulen am Hintern als einen Blasenriss.
Auch kann ich nicht leugnen, dass sich die warmen Sonnenstrahlen unglaublich gut auf meiner Haut anfühlen, und dass sie meine Entscheidung, niemals aufzugeben, nur noch weiter verstärken. Ich tue hier das Richtige. Ich beschütze meine Familie. Ich kämpfe um mein Leben. Und ich werde herausfinden, welcher Teil von Valentin sein Wahres Ich ist. Gleich nachdem ich möglichst viel über diese Sekte, oder was auch immer es ist, dem Valentin angehört, herausgefunden habe. Jede noch so kleine Information kann hilfreich sein. Und jede noch so kleine Hilfe und Hoffnung kann ich bestens in meinem Überlebenskampf gebrauchen.
»Haben Sie sich verirrt?«, er stellt diese Frage mit einem interessierten Ernst in der Stimme, sodass ich kurz stutze. Mir wird bewusst, dass er zum ersten Mal seit Langem davon ausgeht, dass ich ihm auch wirklich antworten werde. In meinem Inneren entzündet sich ein Funke. Klein und schwach, aber doch bemerkbar. Ohne es kontrollieren zu können, schleicht sich ein leichtes, amüsiertes Lächeln auf meine Lippen, während sich eine verräterische Nässe in meinen Augenwinkeln breit macht. Nein! Aus! Genug geheult! Auch wenn das hier Tränen der Rührung wären, verdrücke ich sie mir. Der Mann, der nun direkt vor mir steht und dessen Blick auf meinem Gesicht ruht, ist Valentin. Mein Valentin. Jener Mann, der mich so oft beschützt hat. Der mir schon zur Genüge die Nerven geraubt und mir gleichzeitig unbewusst dabei geholfen hat, nicht von den Schattenmonstern der Vergangenheit bezwungen zu werden. Vor mir steht einfach nur Valentin, in dessen Augen das Eis Risse bekommt. Einzelne Splitter verschwinden und geben einen Blick auf etwas frei, das ich nur mit dem warmen Wasser einer karibischen Lagune vergleichen könnte, und doch ist es so anders, so besonders. Für einen kurzen Moment, vielleicht einen Wimpernschlag, fühle ich nur seine Nähe und kann diese ganze verzwickte und gefährliche Situation, in der wir uns befinden, ausblenden. Viel zu schnell ist dieser Moment der Geborgenheit aber wieder verflogen. Zurück bleibt ein neuer Gedanke: Ich werde nie in meinem Leben vergessen können, was er getan hat. Doch vielleicht – vielleicht – kann ich ihm irgendwann verzeihen, dass er mich hintergangen und vielen Menschen unendliches Leid angetan hat. Und vielleicht wird das genau in dem Moment geschehen, wenn auch er sich selbst vergibt. Vielleicht wird dieser Moment aber auch nie kommen. Fest steht auf jeden Fall, dass wir aus dieser Eishölle niemals lebend rauskommen, wenn ich weiterhin zwischen dem Verschrecktes-Reh- und dem Aggro-Bitch-Modus schwanke.
»Waffenstillstand?« Habe ich gerade noch auf meine Hände gestarrt, die nur wenige Zentimeter von den seinen entfernt sind, so hebe ich nun den Blick und verankere ihn in seinem. Erstaunen und Hoffnung spiegeln sich in seiner Miene wider.
»Waffenbrüder!«, lautet seine etwas zu euphorisch ausgestoßene Antwort auf meine zögerliche Frage.
»Schon mal was von Gleichberechtigung gehört?«, frage ich ihn, weil mir dieser Begriff sauer aufstößt. Was jedoch weniger daran liegt, dass ich mich am Geschlecht störe, sondern eher daran, dass ich niemals von ihm hören möchte, dass er mich wie einen Bruder mag. Mörder oder nicht – Liebe gänzlich abzustellen, ist nicht einfach. Falls man bei mir von Liebe zu ihm sprechen kann. Aber ehrlich gesagt … ich glaube schon.
Ich stoße ruckartig Luft aus, so als hätte sie mir jemand aus den Lungen geboxt.
Valentin mustert mich besorgt, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass er während meines gedanklichen Monologs auf meine rhetorische Frage geantwortet hat.
»Äh … ja«, räuspere ich mich. »Entschuldige, aber was hast du gerade gesagt?«
Mit einem amüsierten Grinsen schüttelt er kurz den Kopf.
»Ich sagte, wenn es dir lieber ist, können wir uns auch ›Waffengeschwister‹ nennen? Auch wenn sich das echt beschissen anhört.«
»Lass mal, hört sich echt beschissen an«, gebe ich zu und bin dieses Wortspiel plötzlich leid, denn mein Körper reagiert gerade viel zu stark auf den seinen, als er sich mir noch weiter nähert und mein Gesicht etwas zu akribisch mustert. Er hebt eine Hand … und ich ducke mich darunter hinweg.
»Nicht!«, ich weiche zurück. Adrenalin pulsiert in meinen Adern. Scheiß Fluchtinstinkt. »Bitte. Ich kann das nicht … Zumindest noch nicht.« Letzteres füge ich hinzu, als wieder dieser Schmerz sein hübsches Gesicht zeichnet. Diese Aussage ist zwar irgendwie dumm, weil wir uns schon öfter nähergekommen sind, doch scheint er zu verstehen. Und ein klein wenig Hoffnung scheint auch in ihm aufzukeimen, was wiederum auf unsinnige Weise ein Kribbeln in meinem Bauch auslöst.
»Marlena«, haucht er voller Sehnsucht. Doch dann blinzelt er mehrmals, als hätte er eine Wimper ins Auge bekommen und sieht plötzlich aus, als würde er nach einem Trancezustand endlich wieder einen klaren Gedanken fassen. »Könntest du vielleicht etwas trockenes Holz suchen? Damit wir ein kleines Feuer machen können? Wir gehen dadurch zwar ein höheres Risiko ein, aber langsam geht uns das Essen aus und das Knäckebrot kann ich sowieso nicht mehr sehen.«
»Und deshalb ernähren wir uns jetzt von …? Feuer alleine wird uns wohl kaum weiterhelfen«, frage ich, bevor ich mich auf die Suche nach Feuerholz und Zunder mache.
»Ich werde versuchen, uns Wild zu jagen, du Klugscheißer.«
Bei dem Gedanken daran, ein Reh zu essen, möchte ich heulen. Ich habe früher viel zu oft Bambi geguckt. Außerdem könnten wir zu zweit niemals das ganze Fleisch verbrauchen, bevor Ratten und Füchse darauf aufmerksam würden.
»Ich hoffe mal, du denkst da gerade an Hasen oder so? Die tun mir zwar auch leid, aber die vermehren sich eh zu schnell. Und lass ja die Eichhörnchen in Ruhe! Das sind meine Lieblingstiere!«
Dafür kassiere ich ein belustigtes Schmunzeln.
»Hasen, keine Eichhörnchen, ist notiert.«
»Womit willst du die überhaupt erlegen?«
Als er seine Violine hinter seinem Rücken hervorzieht, mache ich panisch ein paar Schritte von ihm weg. Ähnlich reagiere ich übrigens auch auf Schusswaffen. Und Schafskäse. Damit kann man mich auch verängstigen. Aber das nur nebenbei. Er scheint, ganz in Überlegungen versunken, meine, zugegeben etwas übertriebene, Reaktion nicht bemerkt zu haben. Das Streichinstrument wird sich schon nicht plötzlich selbstständig machen und dich abmurksen, Marlena. Und Valentin hätte dich schon vor Tagen um die Ecke gebracht, wenn er das wollen würde. Wie wahr und erschreckend zugleich das doch ist.
»Bei Tieren ist das zwar etwas anders als bei Menschen, aber das dürfte ich auch hinkriegen,« versucht er zu erklären, was er vorhat.
»Wenn du noch einmal darauf anspielst, dass du es einfacher findest, einen Menschen als ein Tier zu töten, dann …« Dann was? Kollabiere ich? Kotze ich ihm vor die Füße? Mache ich mir vor Angst in die Hose? Eventuell eine Mischung aus allem.
»Es tut mir leid, so war das nicht gemeint, aber … es funktioniert schlichtweg anders.«
Verwirrt glotze ich ihn an. Ich verstehe nur Bahnhof. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich immer noch nicht ganz glauben kann, dass die wunderschöne, aus Ebenholz gefertigte Violine in seinen Händen nicht nur ein Musik-, sondern auch ein Mordinstrument ist. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte ich darüber gelacht, als wäre es ein schlechter Witz. Auch so spiele ich immer wieder mit dem Gedanken, dass ich schlichtweg verrückt bin. Doch ich bin grundsätzlich bei relativ klarem Verstand und Valentin kann Lebewesen mit einer Geige quälen und töten. Ja, ja, die Welt ist creepy. Hin und wieder macht sie mir eine Heidenangst.
»Wie wäre es, wenn wir das mit dem Essen und Holz besorgen auf später verschieben und wir stattdessen ein wenig Aufklärungsunterricht machen? Setz dich.« Er deutet mit der Hand auf einen umgefallenen Baumstamm vor ihm, den man gut als Bank nutzen kann. Ich lasse mich etwas perplex darauf nieder.
»Alsooo …so unerfahren bin ich nun auch wieder nicht«, stelle ich fest, was zur Folge hat, dass er in schallendes Gelächter ausbricht. Wie ich es hasse, ausgelacht zu werden, weil ich etwas falsch verstanden habe.
»Das ist zwar gut zu wissen, aber ich habe Aufklärung auf dem Gebiet des Übernatürlichen gemeint.«
»Könntest du vielleicht ein wenig konkreter werden?« Meine Stimme klingt gereizt. Langsam werde ich ungeduldig. Entweder er rückt endlich mit der Sprache raus oder ich geh selbst Hasen suchen.
»Herrgott, Marlena. Ich rede davon, dass mit mir etwas nicht stimmt, weil Menschen normalerweise nicht sterben, wenn jemand in ihrer Nähe Geige spielt oder ist dir das neu? Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.«
Ich atme ein paar Mal ruhig durch, bevor ich etwas erwidere, weil ich ihn nicht anschreien will, auch wenn er das nach diesem Kommentar verdient hätte.
»Dann erzähl mir endlich, was mit dir los ist, du Sonderling.« Ich schenke ihm ein schelmisches Lächeln, um die Situation einerseits ein wenig zu entschärfen und andererseits zu zeigen, dass ich die Beleidigung nicht ernst gemeint habe. Das Ganze ist aber nun mal ein ernstes, wenn auch ungewöhnliches, ja nahezu irres Thema.
Kurz scheint er zu überlegen, wie er beginnen soll. Er hadert mit sich, doch dann beginnt er doch zu sprechen. Mit fachlicher Stimme trägt er seine Erklärung vor, als wäre er einer meiner Professoren, der gerade eine Vorlesung abhält.
»Also, fangen wir doch ganz von vorne an. Seit ich denken kann, lebe ich bei den praediti iuveni …«
»Bei den was?«, unterbreche ich ihn. »Warte …«, überlege ich, »iuveni … erster Fall Plural … heißt das nicht irgendwas mit jung?«
Das entlockt ihm ein Grinsen. »Da hat wohl jemand aufgepasst im Lateinunterricht. Es stimmt. Iuveni heißt so viel wie Jugendliche, denn im Singular steht es für einen jungen Mann oder ein junges Mädchen. Und praeditii bedeutet so viel wie begabt oder ausgestattet mit. Die praeditii iuveni sind der Zusammenschluss, der uns nun jagt. Er nimmt immer wieder Jugendliche oder eher Kinder auf, die sonderbar sind. Die Eigenschaften haben, die aus der Masse herausstechen. Die stärker oder schneller sind als andere. Das hört sich nun nach einer Art kindlicher Avengers an. Doch diese Vorstellung ist falsch. Wir leben vom Kindesalter an unter der Stadt. In den alten Geheimgängen, unbenutzten Kanälen und teils auch in den Katakomben vergessener Kirchen. Isoliert von der Außenwelt werden wir ausgebildet. Unser Allgemeinwissen wird zwar auch gefördert, doch das körperliche und mentale Training steht im Vordergrund. Tag ein Tag aus lernen wir unseren Körper zu stärken, unseren Geist zu kontrollieren und wir lernen allem voran, Befehle auszuführen und kein Mitgefühl zu zeigen. Das ist eines der Dinge, die die meisten am schnellsten begreifen: keine Fragen zu stellen, sondern einfach zu tun, was einem gesagt wird. Ich hatte da anfangs so meine Schwierigkeiten.« Verstohlen streift seine linke Hand über seine rechte Schulter, während sein Blick sich kurz in der Weite hinter mir verliert. Als er bemerkt, dass ich ihn anblicke, tut er so, als müsste er sich lediglich kratzen. Doch mir ist klar, dass er unter seiner Kleidung etwas vor mir versteckt. Etwas, das ihn in seiner Vergangenheit geprägt hat. Kurz räuspert er sich verlegen, doch dann setzt er seine Erzählung mehr oder weniger unbeirrt fort.
»Jedenfalls haben sie mir dort ein neues Zuhause gegeben. Ich kann mich an nichts erinnern, das vorher in meinem Leben passiert ist. Es war damals als würde ich unter Schock stehen. Ich nahm kaum etwas so richtig wahr. Erst, als sie mir halfen, mich lehrten meinen Geist und meinen Körper zu stärken, fand ich wieder ins Leben zurück. Später erfuhr ich, dass meine Eltern tot sind. Mein Vater ist bei einem Unfall gestorben. Meine Mutter konnte mit dem Verlust nicht leben. Kurz bevor sie sich das Leben nahm, drückte sie mir – ihrem damals fünfjährigen Sohn – ein wenig Geld in die Hand und erlaubte mir, zwei Kugeln Eis zu kaufen. Als ich zurück zur Bank an der Salzach kam, wo sie auf mich warten wollte, war ich alleine. Auf dem Wasser trieb ihre braune Lederjacke. Sie hatte sich ertränkt. Und mich für immer verlassen. Zumindest wurde mir mitgeteilt, dass ich das so einem vorbeikommenden Passanten erzählt habe, der daraufhin die Polizei verständigt hat. Ich selbst habe wie gesagt keine Erinnerungen mehr daran. An gar nichts aus meiner Kindheit. Selbst die Gesichter meiner Eltern gingen mir verloren.«
Nur mit Müh‘ und Not kann ich die aufsteigenden Tränen zurückhalten. Ich bin mir sicher, dass Valentin kein Freund von Mitleid ist. Und doch kann ich nicht anders, als »das ist einfach nur furchtbar« zu hauchen.
Leicht irritiert zuckt er mit den Schultern. »Ich bin ganz froh, dass ich die Erinnerungen an meine Vergangenheit verloren habe. So fehlen sie mir nicht. Mein Vater und meine Mutter meine ich. Ich wurde eben von einer Gemeinschaft und nicht von meinen leiblichen Eltern großgezogen.«
»Von einer Gemeinschaft aus Mördern«, zische ich, aufgebracht darüber, dass er scheinbar nie die Liebe erfahren hat, mit der jedes Kind aufwachsen sollte. War er je in die Arme genommen worden? War er getröstet worden, wenn er sich verletzt hatte? War er gelobt worden, wenn er eine gute Leistung erbracht hatte? War ihm denn nie gesagt worden, dass er wertvoll ist, so wie er nun mal ist?
Mein Einwand scheint ihn zu kränken. »Sie sind die einzige Familie, die ich habe … oder wohl eher hatte«, kontert er.
Dann lass mich deine Familie sein. Mit einem Kopfschütteln verjage ich diesen durch und durch verrückten Gedanken, der sich an die Oberfläche meines Geistes drängt.
»Ich war von da an also eine Vollwaise«, fährt Valentin ruhig und sachlich fort, ohne auch nur den Funken einer Emotion zu zeigen. »Die ersten paar Wochen habe ich laut Akte in einem Heim verbracht. Diese Zeit existiert aber nicht mehr in meinen Erinnerungen. Es scheint dort nicht besonders schön gewesen zu sein. Offensichtlich war ich damals schon anders als die anderen Kindern. Angeblich wollte ich nie mit ihnen spielen. Nur das dortige Klavier brachte mich zum Lächeln. So wurde das zumindest in der Akte vermerkt. Irgendwann entschied sich ein Ehepaar, mich zu adoptieren. Denen hätte damals eigentlich klar sein müssen, dass das nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn sich ein Paar ausgerechnet für den zu groß gewachsenen Sonderling entschied, der kaum sprach. Doch ich glaube, die Heimleiter waren einfach nur froh, mich los zu sein. Kurz darauf stellte sich heraus, dass es sich bei dem Mann und der Frau nicht um ein kinderliebes Ehepaar handelte, sondern um einen der hochrangigen Kämpfer der praediti iuveni und eine Bekannte von ihm. Sie brachten mich zum Obersten, der von da an meine Erziehung übernahm.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich wissen will, was diese Menschen unter Erziehung verstehen«, schnaube ich, völlig aufgewühlt von diesen vielen neuen Informationen.
Das scheint ihn zu treffen. »Ja, klar wurde ich nicht mit Samthandschuhen behandelt. Ich bin nicht auf Jahrmärkte gegangen und habe Zuckerwatte gegessen. Ich bin nie auf eine normale Schule gegangen und ich wurde nie von Freunden eingeladen, denn selbst innerhalb der Gemeinschaft wurde ich gemieden. Ich bin nun mal so abstoßend, wie ich eben bin. Ich wurde von den Gleichaltrigen verachtet, von den etwas Älteren mit niederträchtigen Blicken durchbohrt und für die Ranghöheren war ich anfangs ausschließlich Ungeziefer. Doch ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Ja, ich habe viele Beleidigungen, Schläge und andere Strafen aushalten müssen. Und doch fühlte ich mich nach und nach immer besser. Immer stärker. Immer mehr wert. Und irgendwann war ich des Obersten beste Waffe. Ich weiß, dass ich genug Fehler habe, und dass die Gemeinschaft nicht gerade eine Happy Family ist. Aber ich habe schließlich nie etwas Besseres kennengelernt, also hör auf, mich mit diesem vorwurfsvollen Blick anzusehen!« Fast brüllt er mich an. Mit jedem Wort hat sich eine dicke Ader auf seiner Stirn stärker hervorgetan. Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, greift er nach seiner Violine, kehrt mir den Rücken zu und lässt mich alleine im Schnee zurück.
***
Kurz weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll. Kaum ist Valentin aus meinem Blickfeld verschwunden, fühle ich mich wieder verloren. Doch dann fällt mir ein, dass wir Zunder und Holz brauchen, also begebe auch ich mich nach kurzem Zögern in das Dickicht hinein. Es fühlt sich komisch an, all unsere Sachen einfach unbeaufsichtigt liegen zu lassen. Aber sollte uns jemand finden, waren wir so oder so aufgeschmissen, da wäre es dann auch schon egal, wenn jemand einen meiner tollen Kochtöpfe mitgehen lässt.
Meine Gedanken kreisen um Valentin und um das, was er mir erzählt hat. Es ist zum Haare raufen, personifiziert er für mich auf seltsame Weise sowohl meine Ängste als auch das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Manchmal habe ich das Gefühl als gäbe es zwei von seiner Sorte. Den guten und den bösen Zwilling sozusagen. Mal sehe ich so viel Schmerz und Reue in seinen Augen und fühle mich so geliebt und geborgen in seiner Nähe, mal fügt er Menschen Leid zu, folgt blind gewaltsamen und unmenschlichen Befehlen und dann … er hat diese Ansammlung von Verrückten, Kriminellen, die Kinder zu Mördern erziehen, verteidigt. Weil er einer von ihnen ist. Verzweifelt schüttle ich den Kopf und versuche damit auch diese dunklen Gedanken zu verscheuchen und gleichzeitig die Augen vor der bitteren Wahrheit zu verschließen: Er ist einer von ihnen. Doch er hat mich nicht ausgeliefert. Er hat mich nicht verletzt. Ganz im Gegenteil: Alles was er tut, was er augenscheinlich schon immer getan hat, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, ist, mich zu beschützen. Und dafür setzt er sein Leben auf‘s Spiel. Und sagt, dass er dich liebt. Okay, um mich mit diesem Gedanken zu beschäftigen, bin ich noch nicht stark genug. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass er das alles nicht wegen seiner Gefühle zu mir tut, sondern aus dem einfachen Grund, dass er Reue empfindet. Auch wenn er das augenscheinlich nicht zugeben will. Oder dieses Gefühl ist so neu für ihn, dass er es nicht zu deuten weiß.
Gedankenverloren bücke ich mich nach trocken aussehenden Ästen, reiße Moos von Baumrinden und laufe in fremde Menschen hinein. Warte was?!